Schwierige Zeiten für das deutsche Wirtschaftsmodell
Nach der Jahrtausendwende hatte Deutschland immer wieder Zeiten, in denen die Volkswirtschaft florierte – wie im „goldenen Jahrzehnt“ der 2010er Jahre zwischen globaler Finanz- und Wirtschaftskrise und der Pandemie: Es entstanden viele Jobs, die Arbeitslosigkeit sank und der Staat konnte erstmals seit 1969 den Haushalt ausgleichen, also ohne neue Kredite finanzieren. Deutschland hat jahrelang mehr Waren ins Ausland geliefert als jedes andere Land der Welt und konnte sich von 2003 bis 2008 sechsmal in Folge mit dem Titel Exportweltmeister schmücken. Produkte Made in Germany – allen voran des Deutschen liebstes Kind, das Auto – setzten weltweit den Qualitätsstandard und verkauften sich bestens, auch wenn sie teuer waren. Außenhandel, eine starke Industrie und innovative Dienstleistungen sind die wesentlichen Säulen, auf denen das deutsche Wirtschaftsmodell basiert. Eine weitere Stärke ist, dass nicht nur große Städte wie Berlin oder München wirtschaftlich gut aufgestellt sind, sondern auch viele andere Regionen. So gibt es überall, gerade in der Provinz, Arbeitsplätze in der Industrie, in Dienstleistungsbranchen und anderen Bereichen. Das sorgt dafür, dass viele Regionen eine wichtige Rolle spielen und das Land insgesamt stark bleibt. So konnte die Bundesrepublik über Jahrzehnte Wohlstand aufbauen – von dem die meisten Menschen gut leben können.
Deutschland steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise
Doch die fetten Jahre sind vorbei, die deutsche Wirtschaft schwächelt. Der Sinkflug der Industrie hat bereits vor der Pandemie begonnen, seit Anfang 2018 geht die Industrieproduktion Jahr für Jahr zurück. Die gesamtwirtschaftliche Leistung (gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP)) ist 2024 erstmals seit 2002/03 ein zweites Jahr in Folge geschrumpft. Auch für das kommende Jahr rechnet das Institut der deutsche Wirtschaft nur mit einem niedrigen Wachstum von 0,1 Prozent. Die Krise ist mittlerweile auf dem Arbeitsmarkt angekommen: Vier von zehn Unternehmen wollen 2025 Personal abbauen. Zum ersten Mal seit acht Jahren ist die Arbeitslosigkeit 2024 wieder auf über sechs Prozent gestiegen. 2025 dürften nach unseren Prognosen fast drei Millionen Arbeitslose zu verzeichnen sein. Zum Vergleich: 2019 hatten nur 2,3 Millionen Menschen keine Arbeit.
Die Zeichen sind offensichtlich: Wir sind nicht bloß in einer konjunkturell schlechten Phase, die wie von selbst bald vorbeizieht. Die deutsche Wirtschaft leidet vielmehr unter einer lange aufgebauten Investitionsschwäche, die das Wachstum zusammen mit der nun verschärft einsetzenden Alterung der Erwerbsbevölkerung massiv dämpft. Statt eines langfristigen Wachstums von 1,5 bis 1,7 Prozent pro Jahr, wie in den Jahren bis zur Pandemie erreicht, erwarten wir und andere Forschungsinstitute für das kommende Jahrzehnt nur noch knapp ein halbes Prozent. Das erschwert den Umbau zur Klimaneutralität ebenso wie es die Wettbewerbsfähigkeit belastet. Beides verlangt mehr Innovationen und Investitionen seitens der Unternehmen, aber zugleich mehr Ambition der Beschäftigten. Die Ursachen für die Investitionsschwäche sind vielfältig. Besonders aus den folgenden Gründen haben die Unternehmen Vertrauen in den deutschen Standort verloren und gewinnen keine stabile Erwartung auf Besserung.
Kriege und Krisen belasten die Wirtschaft
Die politische Landschaft auf der Welt ist so turbulent wie lange Zeit nicht mehr. Nicht enden wollende Kriege und Konflikte, vier neue Jahre US-Präsidentschaft Donald Trumps, wachsende wirtschaftliche Abschottung durch hohe Zölle und andere Instrumente des Protektionismus und nicht zuletzt das Ampel-Aus in Berlin: Auf unsichere Zeiten reagieren die Unternehmen mit Zurückhaltung. Das belastet die Wirtschaft. Vor allem deutsche Exporteure stehen vor wachsenden Schwierigkeiten. Wenn Trump tatsächlich seine Drohung wahrmacht und Importzölle in Höhe von zehn Prozent auf Waren erhebt, würde die EU wahrscheinlich mit denselben Maßnahmen antworten. Ein solcher Handelskrieg könnte die deutsche Wirtschaftsleistung über die vier Jahre insgesamt um bis zu 180 Milliarden Euro senken, so zeigt eine Simulation des Instituts der deutschen Wirtschaft – eine Katastrophe, insbesondere für den Maschinenbau, die Pharmaindustrie und die ohnehin angeschlagene Autoindustrie, die umfangreich in die USA exportieren.
Doch allein durch externe Faktoren sind die Probleme nicht zu erklären. Arbeit, Bürokratie, Energie und Infrastruktur: All das ist hierzulande mit höheren Kosten verbunden als es sein müsste und im Ausland der Fall ist. Das macht den Standort für Unternehmen zunehmend unattraktiv.
Investitionen: Brücken und Straßen müssen dringend repariert werden
Wie es um unser Land bestellt ist, hat im September 2024 der Einsturz der Carolabrücke in Dresden sinnbildlich vor Augen geführt: Es bröckelt an allen Ecken und Enden. Verkehrsnetze – Straßen, Schienen, Wasserwege – sowie Versorgungseinrichtungen wie Strom-, Wasser- und Abwassersysteme, Telekommunikationsnetze und die digitale Infrastruktur sind entweder marode oder nicht auf dem neuesten Stand. Schon seit einem Vierteljahrhundert haben wir knapp zwei Prozent weniger in unsere Infrastruktur als unsere Nachbarn investiert. Die Folge: Gesperrte Brücken, veraltete Wasserstraßen und defekte Bahngleise beeinträchtigen den Wirtschaftsstandort erheblich. Das melden die Unternehmen immer deutlicher.
Neben der Modernisierung der Verkehrswege stehen wir vor der gewaltigen Aufgabe, die Wirtschaft klimaneutral umzubauen. In einer gemeinsamen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung haben wir berechnet, dass für beides in den nächsten zehn Jahren 600 Milliarden Euro gebraucht werden.
Dieses Geld hat die Bundesregierung aber nicht. Grundsätzlich kann der deutsche Staat Kredite aufnehmen, wenn er mehr Geld ausgeben muss, als er durch Steuern einnimmt. Doch dafür gibt es Regeln: Die Schuldenbremse im Grundgesetz bestimmt, wie viele Schulden der Staat machen darf. Befürworter preisen sie, weil sie den Staat zu Disziplin und zu stabilen Finanzen zwingt, zudem künftige Generationen nicht überlastet werden. Kritiker hingegen bezeichnen sie als zukunftsfeindlich, da sie dringend benötigte öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Klimaschutz und die Digitalisierung verhindert – und den Staat zwingt, Steuern in Rekordhöhe zu berechnen. Die nachfolgenden Generationen profitieren von Investitionen, die wir heute tätigen. So hinterlassen wir ihnen keine kaputten Brücken oder Schulgebäude. Daher ist es gerecht, dass sie dafür über die Schuldentilgung beteiligt werden.
Dabei ist klar: Die Bundesregierung muss dringend investieren. Entscheidend ist die Frage, woher das Geld kommt. Finanziert werden könnte dieser Bedarf auch mit einem Infrastrukturfonds – einem Topf, der wie ein Sondervermögen von der Schuldenbremse ausgenommen wäre.
Bürokratie: Zu viel Papierkram kostet Zeit und Geld
Die Bürokratie wirkt wie ein Hemmschuh: Genehmigungen für den Bau eines Hauses oder einer Fabrik brauchen zu lange, Unternehmen müssen die gleichen Angaben bei verschiedenen Behörden machen – teils noch in Papierform –, bei Umzügen müssen sich Bürger noch persönlich beim Amt vorstellen. Das kostet Zeit und Geld. Zusätzlich schaffen neue Vorschriften wie zum Beispiel das EU-Lieferkettengesetz weitere Arbeit für die Unternehmen. Der Abbau von Bürokratie ist entscheidend, um die Unternehmen zu entlasten und effizienter zu gestalten. Dafür müssten die Abläufe in den Behörden digitalisiert werden: Doch auch hier hinkt Deutschland hinterher.
Demografie: Die Deutschen müssen länger arbeiten
Unsere Gesellschaft altert. Jahrzehntelang hat der Arbeitsmarkt von ihnen profitiert, jetzt endet eine Ära: Die Babyboomer, geboren zwischen 1954 und 1969, erreichen das gesetzliche Rentenalter. 2022 waren das schon mehr als drei Millionen Menschen, bis 2036 kommen weitere 16,5 Millionen Menschen in dieses Alter. Im gleichen Zeitraum strömen aber gerade einmal 12,5 Millionen junge Menschen nach – schon rein rechnerisch klafft eine riesige Lücke. In anderen Worten: 2022 kamen auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter knapp 30 Menschen über 67. Im Jahr 2040 ist das Verhältnis schon bei 100 zu 41. Das heißt: Um unseren Wohlstand zu halten, müssen wir im Jahr 2036 die Arbeit von 8,5 Millionen Menschen auffangen. Neben gesteuerter Zuwanderung in Beschäftigung, die seit der Gesetzesreform vor fast fünf Jahren sehr viel besser funktioniert, gilt aber auch: Wir alle müssen mehr arbeiten, nicht weniger.
Verschärft wird diese Entwicklung dadurch, dass bundesweit über 530.000 qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Viele Unternehmen finden nicht die richtigen Arbeitskräfte für offene Stellen. Das spüren wir auch immer mehr im Alltag – beispielsweise, wenn wir lange auf einen Termin in der Autowerkstatt warten müssen oder auf öffentliche Verkehrsmittel – weil es nicht genug Mechaniker oder Fahrer gibt. Um den Fachkräftemangel zu entschärfen, sind wir daher auf die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Zudem sollten Arbeitnehmer, die nur einen halben Tag arbeiten, dazu motiviert werden, ihre Arbeitszeit aufzustocken. Und wir brauchen mehr Anreize, damit so viele Babyboomer wie möglich auch über das Renteneintrittsalter hinaus dem Arbeitsmarkt erhalten bleiben.
Was muss getan werden?
Deutschland steht also vor großen Aufgaben: Es muss sein Geschäftsmodell reformieren. Doch trotz der aktuellen Schwierigkeiten ist die Ausgangslage des Landes immer noch sehr stabil. Deutschland bleibt robuster als viele andere Volkswirtschaften. Die Industrie des Landes ist stark, dynamisch und innovativ – auch wenn sie aktuell unter Druck steht. Die Forschungsintensität konnte in den letzten anderthalb Jahrzehnten deutlich gesteigert werden, das Bildungssystem hat mit der beruflichen Bildung eine wichtige Säule – quasi als Alleinstellungsmerkmal. Jetzt muss es darum gehen, international wieder wettbewerbsfähig und attraktiv für Unternehmen zu werden, um den Übergang zur Klimaneutralität, die Anpassung an die demografische Alterung und die Herausforderung äußerer Sicherheit leisten zu können.
Die nächste Regierung hat viel zu tun. Nicht ohne Grund setzen alle großen Parteien in ihren Wahlprogrammen einen Schwerpunkt auf die Wirtschaft und wollen nach der kommenden Bundestagswahl Steuern für Bürger und Unternehmen senken. Dazu bedarf es zunächst und vor allem gezielter steuerlicher Anreize für das Investieren, denkbar als direkte Prämie oder als Steuernachlass. Die empirischen Studien belegen hierfür die größte Wirkung. Ebenso wirksam ist eine Dämpfung der Strompreise; derzeit wird fast in allen Wahlprogrammen eine Lösung über die Netzentgelte – also die Infrastrukturkosten der Energie – vorgeschlagen. Bürokratieabbau und Beschleunigung von Verwaltungsverfahren werden ebenfalls von allen demokratischen Parteien als wichtig empfunden. Klarheit muss für die Klimapolitik gelten; es gibt kein Zurück, wir müssen uns als Gesellschaft den damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen und finanziellen Belastungen stellen. Klimapolitik sichert die Lebensgrundlagen und den Wohlstand, deshalb muss sie so effizient und so innovativ wie möglich sein. Das gelingt am besten, wenn es – wie in der Europäischen Union – einen (steigenden) Preis für CO2-Emissionen gibt und wenn die Anpassungsfolgen für die Menschen wie die Unternehmen abgefedert werden (etwa durch Klimageld und gezielte Industriepolitik wie für Wasserstoff).