Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Perspektiven der Atomkraft in Europa und global | Tschernobyl | bpb.de

Tschernobyl Tschernobyl: Facetten eines Erinnerungsortes Das Unsichtbare sichtbar machen? Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl auf Deutschland INES - Die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse Tschernobyl ist die Zukunft "Gewonnen ist das Ding ja nicht" Perspektiven der Atomkraft Tschernobyl Redaktion

Perspektiven der Atomkraft in Europa und global Renaissance der Atomkraft?

Lutz Mez

/ 13 Minuten zu lesen

Deutschland hat das Ende der Atomkraft beschlossen. Andere Länder haben die verstärkte Nutzung dieser Technologie angekündigt - trotz Fukushima. Doch eine Renaissance der Atomkraft ist unwahrscheinlich. Bis 2025 werden 287 Reaktorblöcke abgeschaltet, doch komplexe Genehmigungsverfahren und hohe Baukosten machen den Neubau von AKW unattraktiv.

Das Atomkraftwerk Watts Bar 1 in Tennessee ist das jüngste in den USA: es wurde 1996 in Betrieb genommen. Der Reaktor Watts Bar 2 soll Ende 2015 ans Netz gehen – nach über 40 Jahren Bauzeit. (© AP)

Nach dem Super-GAU in Fukushima stehen die Nutzung der Atomkraft und die internationale Energiepolitik vor einer Zäsur. In Deutschland und in der Schweiz wurde der Atomausstieg beschlossen, und auch in China und in Japan ist ein Umdenken in Richtung beschleunigte Energiewende zu erkennen. In anderen Ländern wie Russland, der Tschechischen Republik oder Frankreich ist die Skepsis am einmal eingeschlagenen nuklearen Weg noch nicht so verbreitet, aber inzwischen auch vorhanden. Weitere Länder wollen aus Prestigegründen Atomkraftwerke (AKWs) und andere Nuklearanlagen betreiben – die Gründe dafür sind teils auch militärischer Natur. Während die Atomkraft-Kritiker so schnell wie möglich das Atomzeitalter beenden wollen, sieht die Pro-Atom-Gemeinde in der Atomkraft nach wie vor die energiepolitische Heilsbringerin für die Menschheit. Angesichts der Klimakrise und der immer deutlicher werdenden Endlichkeit fossiler Energien – Stichwort peak oil – wurde die Atomenergie in den vergangenen zehn Jahren als die CO2-freie, sichere und billige Lösung der globalen Energieprobleme propagiert. Während es in der Frühphase der zivilen Nutzung der Atomkraft noch hieß "too cheap to meter", lautet das Argument heute "zumindest billiger als die Alternativen".

Sind Atomkraftwerke – 26 Jahre nach Tschernobyl und ein Jahr nach Fukushima – ein Auslaufmodell oder angesichts der Endlichkeit fossiler Energieträger und des Klimawandels eine Notwendigkeit? Kommt es zur Standortverlagerung von West- nach Osteuropa und dort zur Renaissance der Atomkraft?

Stand der Atomprogramme weltweit

Weltweit sind 435 Atomkraftwerke in Betrieb, 65 Reaktoren werden zur Zeit neu gebaut. Insgesamt setzen 31 Länder auf Kernernergie - der Anteil am Strommix ist aber sehr unterschiedlich. Die interaktive Karte gibt einen Überblick. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Von den 193 Mitgliedern der Vereinten Nationen hatten bis Mitte 2011 lediglich 30 Länder Atomkraftwerke in Betrieb. Iran kam im September 2011 als 31. Land hinzu, als das AKW Bushehr nach über 30 Jahren Bauzeit ans Netz ging. Drei Länder (Italien, Kasachstan und Litauen) haben ihre AKWs stillgelegt, und in Österreich und auf den Philippinen sind Reaktoren zwar gebaut worden, aber nie ans Netz gegangen. Anfang 2012 zählte die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) 435 Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 368 304 Megawatt (MW) und einer durchschnittlichen Betriebszeit von 26 Jahren als "betriebsbereit"

Die sechs größten Betreiberländer (USA, Frankreich, Japan, Russland, Südkorea und bisher auch Deutschland) sind teils Atomwaffenstaaten und produzierten im Jahr 2010 fast drei Viertel des globalen Atomstroms. Weltweit beträgt der Anteil der AKWs an der Stromerzeugung aber nur gut 13 Prozent. Das entspricht 5,5 Prozent des Primärenergieverbrauchs und etwas mehr als zwei Prozent des weltweiten Endenergieverbrauchs.

Stillgelegt wurden bisher 138 Reaktorblöcke mit einer Leistung von 49 152 MW und einer durchschnittlichen Laufzeit von 22 Jahren. Weitere fünf Blöcke mit 2 776 MW Leistung werden in der IAEO-Statistik als langfristig abgeschaltet geführt. Die meisten AKW-Blöcke wurden in den USA stillgelegt (28), es folgen Deutschland und Großbritannien mit jeweils 27 Blöcken.

Nach IAEO-Statistik sind 63 Blöcke mit einer Leistung von 61 032 MW im Bau. Die Bauprojekte verteilen sich auf 14 Länder: China (26 plus 2 in Taiwan), Russland (10), Indien (6), Südkorea (5), die Ukraine, Kanada, Japan, Slowakei ( je 2) sowie Argentinien, Brasilien, Finnland, Frankreich, Pakistan und USA ( je 1). Die World Nuclear Association (WNA) zählt dagegen lediglich 61 Reaktoren im Bau, aber weitere 156 Reaktoren in der Kategorie "in Planung". Allerdings lehrt die Erfahrung, dass Reaktoren "in Planung" keineswegs automatisch in die Kategorie "im Bau" überwechseln. In der EU sind 13 der 27 Mitgliedstaaten ohne eigenen Atomstrom oder haben diese Technik abgeschafft. Die Gründe dafür sind technischer bzw. wirtschaftlicher Natur oder die Folge politischer Entscheidungen. 1989 waren in Europa insgesamt 177 AKW-Blöcke in Betrieb. Im Februar 2012 waren nur noch 134 Meiler betriebsbereit, davon 115 in Westeuropa und 19 in den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern.

In Westeuropa sind zwei Reaktorblöcke im Bau: Baubeginn des ersten sogenannten Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) mit einer Leistung von 1 600 MW war am 12. August 2005 in Olkiluoto, Finnland. Seitdem hat eine Serie anhaltender Kostenexplosionen und Zeitverzögerungen das Projekt überschattet. Aus der ursprünglich für 2009 geplanten Inbetriebnahme ist nichts geworden, derzeit wird mit August 2013 gerechnet. Und statt der ursprünglich geplanten 3,2 Milliarden Euro wird der Reaktor fast sechs Milliarden kosten. In Frankreich wird ebenfalls ein EPR gebaut. Offizieller Baubeginn in Flamanville war am 3. Dezember 2007. Dieser Block sollte in 54 Monaten – also im Mai 2012 – fertig sein. Laut Inspektionsberichten der Aufsichtsbehörde ASN sind auch auf dieser Baustelle diverse Probleme aufgetaucht, weshalb der ambitionierte Terminplan nicht einzuhalten war. Im Juli 2011 gab die französische Betreibergesellschaft Électricité de France (EdF) bekannt, dass die erste Stromerzeugung erst Ende 2016 geplant ist.

Anders die Entwicklung in Osteuropa: Nach Tschernobyl erreichte die Anti-AKW-Bewegung in der Sowjetunion im Zeichen von Glasnost und Perestroika zwar Baustopps bei Atomprojekten und ein Moratorium, aber nach kurzer Zeit konnten die Technokraten im Energiesektor die alten Programme und Projekte weiterverfolgen. Auch in den mittel- und ost- europäischen Staaten wurde nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit und dem Zerfall der Sowjetunion unverdrossen weiter auf die Atomtechnik gesetzt. Lediglich in Polen konnte der Bau des Atomkraftwerkes Żarnowiec westlich von Danzig durch ein lokales Referendum verhindert werden. Aber seit einigen Jahren wird vom staatlich kontrollierten Stromkonzern PGE und der polnischen Regierung der Bau eines ersten AKW in Polen geplant.

Litauen wurde unter der Bedingung in die EU aufgenommen, dass die beiden AKW-Blöcke in Ignalina stillgelegt werden, was bis 2009 auch geschah. Obwohl die Stromversorgung mit einem neuen Gaskraftwerk gesichert werden kann, gibt es aber Pläne für einen AKW-Neubau in Visaginas.

In der Tschechischen Republik werden an zwei Standorten sechs AKW-Blöcke mit einer Gesamtkapazität von 3 678 MW betrieben. Im Jahr 2010 erzeugten sie ein Drittel des Stromaufkommens des Landes (26,4 Terawattstunden, TWh). Der tschechische Stromkonzern CEZ plant seit einigen Jahren den Neubau von zwei weiteren AKW-Blöcken. In der Slowakischen Republik sind drei AKW-Blöcke stillgelegt, vier Blöcke mit einer Leistung von 1 816 MW sind betriebsbereit. Sie sorgten 2010 für 51,8 Prozent der Stromerzeugung (13,5 TWh). Zwei weitere 400 MW-Blöcke sind in Mochovce im Bau. Das in Slowenien liegende und von 1975 bis 1981 von Westinghouse gebaute AKW Krsko erzeugte 2010 5,4 TWh, die zur Hälfte nach Kroatien geliefert wurden. Die slowenische Regierung plant den Ersatz dieses AKWs. Ungarn betreibt vier AKW-Blöcke mit insgesamt 1 889 MW in Paks, die im Jahr 2010 42,1 Prozent des gesamten Stromaufkommens produzierten (14,7 TWh). Im April 2009 stimmte das Parlament in einer Grundsatzentscheidung für den Neubau von Reaktoren in Paks.

Die drei großen Schwellenländer Indien, China und Brasilien haben ihre Atomprogramme bereits vor Jahrzehnten beschlossen, aber nur ansatzweise realisiert, sodass der Anteil der Kernkraft an der Stromerzeugung und Energieversorgung minimal ist. Das größte Ausbauprogramm hat China, das derzeit 16 AKWs betreibt, die 1,8 Prozent der Stromerzeugung ausmachen. 26 weitere Meiler sind im Bau. In Indien sind 20 kleinere Reaktoren in Betrieb, die 2,9 Prozent des Strombedarfs decken. Weitere sechs sind im Bau. In Brasilien sind zwei Reaktoren im Betrieb, die 3,1 Prozent des Stroms erzeugen und ein Reaktorblock ist im Bau.

Eine genauere Betrachtung der weltweiten Bauprojekte zeigt indes, dass elf Reaktoren schon seit über 20 Jahren als "im Bau" befindlich die Statistik zieren. So wurde mit der Konstruktion der Reaktorblöcke Kmelnitzki 3 und 4 in der Ukraine bereits 1986 und 1987 begonnen, sie sollen 2015 bzw. 2016 ans Netz gehen. Auch drei der elf russischen AKW-Bauprojekte wurden 1985 und 1986 begonnen, und lediglich einer der Blöcke konnte 2011 fertiggestellt werden. Das AKW Atucha 2 in Argentinien ist sogar seit 1981 im Bau, für die kommerzielle Inbetriebnahme gibt es bislang noch kein Datum. Die beiden Blöcke in Belene, Bulgarien, wurden 1987 begonnen. Für sie gibt es ebenfalls kein Datum für die Inbetriebnahme. In der WNA-Statistik werden die Blöcke in Belene in der Kategorie "geplant" geführt. In der Slowakischen Republik wurde mit dem Bau der Blöcke Mochovce 3 und 4 ebenfalls 1987 begonnen, die kommerzielle Inbetriebnahme ist 2013 geplant. Der langjährige "Spitzenreiter" in Sachen Bauverzögerung, das Atomkraftwerk Bushehr in Iran, bei dem der erste Beton am 1. Mai 1975 gegossen wurde, ist 2007 von der amerikanischen Baustelle Watts Bar 2 abgelöst worden. Vor 40 Jahren in Bau gegangen (Januar 1972), wurde das Projekt 1985 eingefroren. Im Oktober 2007 kündigte die Eigentümergesellschaft TVA an, den Reaktor bis 2012 für 2,5 Milliarden US-Dollar fertig bauen zu wollen. In der IAEO-Statistik befindet sich also eine ganze Reihe von Bauruinen.

Bei diesen Fakten von einer "weltweiten Wiedergeburt" zu sprechen, ist irreführend, zumal derart lange Bauzeiten enorme Kosten verursachen, die kaum eine Bank finanziert – es sei denn, das Finanzrisiko wird vom Staat übernommen. Die Komplexität des Genehmigungsverfahrens, als auch die Ausführungsrisiken, die mit einem Bauprojekt dieser Art zusammenhängen, sollten nicht unterschätzt werden.

Alter und Stromerzeugung der Atomkraftwerke

Die Atomkraftwerke weltweit haben heute eine Gesamtleistung von etwa 368 000 MW und ein durchschnittliches Betriebsalter von 26 Jahren. Dass die installierte Kraftwerkskapazität insgesamt etwas gestiegen ist, liegt nicht am Zubau, sondern vor allem daran, dass bei bestehenden Anlagen durch technische Maßnahmen wie den Austausch von Dampferzeugern die Leistung erhöht wurde.

Bei einer angenommenen Betriebszeit von 40 Jahren werden bis zum Jahr 2015 insgesamt 95 Reaktoren und bis zum Jahr 2025 weitere 192 AKW vom Netz gehen, insgesamt also 287 Reaktoren. Allein um die installierte Leistung der Atomkraftwerke konstant zu halten, müssten diese Reaktoren bis 2025 alle durch Neubauten ersetzt werden. Unterstellt man die tatsächliche Inbetriebnahme aller derzeit im Bau befindlichen Anlagen, so müssten bis 2015 noch etwa 18 und bis 2025 insgesamt zusätzlich 191 Reaktorblöcke mit einer Gesamtkapazität von über 175 000 MW geplant, gebaut und in Betrieb genommen werden. Das bedeutet, dass alle 19 Tage ein neuer Reaktorblock ans Netz gehen müsste. Da die "leadtime", die Zeit zwischen Bauplanung und kommerzieller Inbetriebnahme, für ein AKW inzwischen mehr als zehn Jahre beträgt, kann nicht einmal die heute vorhandene atomare Kraftwerksleistung aufrechterhalten werden.

Drei Viertel der weltweiten Atomstromproduktion entstehen in nur sechs Ländern, und zwar in den drei Atomwaffenstaaten USA, Frankreich und Russland sowie in Japan, Südkorea und – bis 2010 – auch in Deutschland. 2008 lag der Anteil des Atomstroms an der Elektrizitätserzeugung in diesen Ländern zwischen knapp 16 Prozent (Russland) und 77 Prozent (Frankreich). Da der Beitrag von Elektrizität zum Endenergieverbrauch aber nur zwischen 14 und 26 Prozent beträgt, ist der Atomstromanteil am Endenergieverbrauch entsprechend gering. Er lag 2008 zwischen 2,2 Prozent (Russland) und 17,3 Prozent (Frankreich). Global betrachtet geht der Anteil des Atomstroms an der Stromversorgung seit Jahren zurück, im Jahr 2008 betrug er noch 13,5 Prozent. Da der Anteil der Elektrizität am globalen Endenergieverbrauch 2008 lediglich 17,2 Prozent betrug, ist der Beitrag des Atomstroms mit 2,3 Prozent sehr bescheiden – und mit weiter sinkender Tendenz.

Aus den derzeitigen Plänen und Absichtserklärungen von Regierungen ist zu schließen, dass im Jahre 2020 die USA, Frankreich, Japan, Russland, China und Südkorea über die größten installierten Atomkraftwerksleistungen verfügen werden. Der stärkste Kapazitätsausbau ist in China geplant. Die Nuclear Energy Agency (NEA) hat Szenarios für die Entwicklung der weltweiten Atomkraftwerksleistung bis 2050 aufgestellt:

  • "Bis 2050 wird die weltweit installierte Kernkraftwerksleistung um einen Faktor von 1,5 bis 3,8 zunehmen.

  • Im Hoch-Szenario wird der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromerzeugung von derzeit knapp 14 Prozent auf 22 Prozent im Jahr 2050 ansteigen.

  • In beiden Szenarien wird sich die nukleare Stromerzeugung weiterhin stark auf den OECD-Raum konzentrieren.

  • Der Beitrag von Ländern, die bislang keine Kernreaktoren betreiben, wird nur rund fünf Prozent zu der im Jahre 2020 weltweit installierten Kernkraftwerksleistung ausmachen."

Allerdings haben sich schon die optimistischen Prognosen aus den 1970er Jahren zum Ausbau der Atomkraft als völlig überzogen herausgestellt. So prognostizierte beispielsweise die IAEO 1974, dass die weltweit installierte AKW-Leistung im Jahr 2000 insgesamt 4 500 Gigawatt (GW) betragen würde. Weltweit waren es 2010 jedoch nur 375 GW – ein Zwölftel des für 2000 vorhergesagten Wertes. Von den damals bestellten, im Bau und in Betrieb befindlichen 228 GW AKW-Leistung in den USA sind heute nur 101 GW betriebsbereit.

Probleme der Atomindustrie

Die Atomindustrie hat seit drei Jahrzehnten mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen. Ein weltweiter Bauboom ist derzeit schon aufgrund mangelnder Fertigungskapazitäten und schwindender Fachkräfte ausgeschlossen. An dieser Situation wird sich kurz- und mittelfristig nicht viel ändern. Nur ein einziges Unternehmen der Welt, die Japan Steel Works, ist in der Lage, die Großkomponenten für Reaktordruckbehälter von der Größe des EPR zu schmieden. Nicht nur der Druckbehälter, auch die Dampferzeuger des finnischen Neubaus kommen aus Japan. In den USA gibt es keine Fertigungsanlage für Großkomponenten mehr. Die einzige Anlage in Europa, die AREVA-Schmiede im französischen Creusot, kann lediglich Komponenten von begrenzter Größe in begrenzter Zahl herstellen. Darüber hinaus sind die Anlagen teilweise durch Nachrüstprojekte blockiert. Austauschdampferzeuger für Kraftwerke, deren Betrieb verlängert werden soll, werden nämlich am selben Ort hergestellt. Derartige Großanlagen lassen sich nicht von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Neue Atomanlagen müssten außerdem von neuem Personal betrieben werden. Industrie und Betreiber schaffen es kaum, auch nur die Altersabgänge zu ersetzen. Es fehlt eine ganze Generation von Ingenieuren, Atomphysikern und Strahlenschutzexperten. Parallel müssen stillgelegte Anlagen abgerissen und endlich Lösungen für den Atommüll geschaffen werden.

Zudem gibt es Kosten- und Finanzierungsprobleme. Anders als bei allen anderen Energietechnologien lassen sich beim Betrieb von Atomkraftwerken keine positiven Skalenerträge feststellen (also steigende Erträge bei steigendem Mitteleinsatz), weil die spezifischen Investitionskosten immer größer geworden sind. Aktuelle Daten zu den Baukosten sind lediglich in Westeuropa und Nordamerika verfügbar. Die Kosten der Bauprojekte in China, Indien und Russland sind entweder nicht zugänglich oder nicht vergleichbar. Bis zum Jahr 2002 erwartete die Atomindustrie für Neubauten von Atomkraftwerken der Generation III(+) Baukosten von 1 000 US-Dollar (USD) pro Kilowatt (kW). Dieses Kostenniveau erwies sich jedoch als völlig unrealistisch. Der Vertragspreis für den 2004 bei Areva NP bestellten Europäischen Druckwasserreaktor für den finnischen Standort Olkiluoto lag bereits bei 2 000 Euro/kW (damals 3 000 USD/kW). Allerdings ist der Bau noch lange nicht fertig und die Kosten haben sich bisher real auf mehr als das Doppelte erhöht. Aufgrund dieser Entwicklung gingen Schätzungen in den USA in den Jahren 2007/2008 schon von Kosten in Höhe von 5 000 USD/kW aus. Jon Wellinghoff, der Präsident der US-amerikanischen Federal Energy Regulatory Commission (FERC), äußerte sich zum Bau von neuen AKWs und Kohlekraftwerken in den USA äußerst skeptisch: "I think (new nuclear expansion) is kind of a theoretical question, because I don’t see anybody building these things." Wellinghoff nannte die Baukosten für neue AKW-Projekte "prohibitiv", wobei er von Schätzungen in der Größenordnung von 7 000 USD/ kW ausging.

Klimaschutz durch Atomkraftwerke?

Die Stromerzeugung ist für etwa 27 Prozent der weltweiten anthropogenen CO2-Emissionen verantwortlich und stellt die bei Weitem größte und am schnellsten wachsende Quelle von Treibhausgasemissionen dar. Deswegen werden die angeblich CO2-freien Atomkraftwerke als das Wundermittel gegen den Klimawandel gepriesen. "Der Betrieb von Kernkraftwerken setzt kein CO2 frei" – diese Ansicht wird von den Befürwortern der Atomenergie immer wieder vertreten, wie in diesem Beispiel vom RWE-Manager Fritz Vahrenholt. Und um den Vorteil der deutschen Atomkraftwerke noch zu unterstreichen, fuhr er fort: "Würde ihre Leistung durch Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen ersetzt, würde dies eine zusätzliche Freisetzung von 120 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr bedeuten." Dabei unterstellt Vahrenholt, dass der gesamte Atomstrom durch Strom aus Braunkohlekraftwerken ersetzt würde. Eine wirkliche Energiewende würde jedoch verstärkt auf erneuerbare Energien und dezentrale gasgefeuerte Blockheizkraftwerke setzen, die in der Summe sogar weniger CO2-Emissionen verursachen als Atomkraftwerke. Zudem ist die Behauptung, Kernkraftwerke stießen keine Treibhausgase aus, nur eine Halbwahrheit, denn bei systemischer Betrachtungsweise sind Atomkraftwerke keineswegs CO2-freie Produktionsanlagen. Sie emittieren bereits heute bis zu einem Drittel so viel Treibhausgase wie große, moderne Gaskraftwerke.

Das Öko-Institut Freiburg hat für ein typisches AKW in Deutschland – einschließlich der Emissionen durch den Bau der Anlage – mit angereichertem Uran aus verschiedenen Lieferländern eine spezifische Emission von 28 Gramm CO2equ pro Kilowattstunde ermittelt. Multipliziert man diesen Emissionsfaktor mit der Stromerzeugung in den deutschen AKWs, so haben diese im Jahr 2010 den Ausstoß von insgesamt 3,7 Millionen Tonnen CO2equ verursacht. Eine erste Berechnung der globalen CO2-Emissionen durch die Atomstromerzeugung ergibt für das Jahr 2010 einen Wert von über 117 Millionen Tonnen CO2equ. Das ist etwa so viel wie die gesamten CO2-Emissionen von Belgien oder der Tschechischen Republik im Jahr 2008. Und in dieser Rechnung sind noch nicht einmal die Emissionen durch die Atommüll-Lagerung enthalten. In den kommenden Jahrzehnten werden die indirekten CO2-Emissionen der Atomkraftwerke zudem kräftig ansteigen, weil wesentlich mehr fossile Energie für den Uranabbau aufgewendet werden muss. Dann haben AKWs beim CO2-Ausstoß gegenüber modernen, gasgefeuerten Heizkraftwerken keinen Vorteil, geschweige denn gegenüber den erneuerbaren Energietechnologien und der Alternative, statt des Neubaus von Kraftwerken die Energieeffizienz in der Produktion und Konsumtion zu erhöhen. Unabhängig von zahlreichen anderen Vorteilen sind zum Beispiel Kraft-Wärme gekoppelte Biomassekraftwerke weitaus klimafreundlicher als Atomkraftwerke.

Im Übrigen waren die Anhänger der These, dass Atomkraft benötigt werde, um den Klimaschutz voranzutreiben, bereits in der Enquête-Kommission "Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung" (2000 – 2002) des 14. Deutschen Bundestags in der Minderheit. Es lässt sich vielmehr die Gegenthese begründen, dass die zügige Abschaltung der Atomanlagen schon deshalb erforderlich ist, um auf Betreiber und Kraftwerksindustrie größeren Innovationsdruck auszuüben und somit die Entwicklung nachhaltiger und sozialverträgliche Energietechnologien und vor allem der Anwendung intelligenter Energiedienstleistungen voranzutreiben.

Fazit

Von den 27 EU-Mitgliedstaaten erzeugen derzeit 14 Atomstrom, Deutschland und Belgien betreiben den Ausstieg, und elf haben keine Atomprogramme. Im Zuge der EU-Erweiterung wurden in den Beitrittsländern acht Risiko-Reaktoren abgeschaltet. An den Stilllegungskosten beteiligen sich die EU und weitere westliche Geberländer mit mehreren Milliarden Euro. Vier Reaktorblöcke sind in Osteuropa und zwei in Westeuropa im Bau. Trotz Liberalisierung und Teilprivatisierung der Stromwirtschaft stellt die Fertigstellung oder der Neubau von Atomkraftwerken ein nahezu unlösbares Finanzierungsproblem dar. Dennoch werden in Litauen, Slowenien, der Tschechischen Republik und in Polen neue Atomkraftwerke geplant.

Während in den 1970er Jahren davon ausgegangen wurde, dass Atomkraftwerke eine Lebenserwartung von 25 Jahren haben, wurden die Laufzeiten der AKWs gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunächst in den USA und dann auch in anderen Ländern auf über 40 Jahre verlängert, und das Schlagwort der "Brückentechnologie" wurde aufgebracht – Atomkraftwerke sollten länger laufen und so den Übergang auf erneuerbare Energien erleichtern. Die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke, wie sie der Deutsche Bundestag im Herbst 2010 beschlossen hat, hätte aber die Vorherrschaft der großen Kraftwerksblöcke verlängert und den Ausbau von dezentralen, umweltverträglicheren kleinen Kraftwerkseinheiten behindert, die sich wesentlich besser mit erneuerbaren Energien kombinieren lassen.

Die Perspektiven der Atomtechnologie, die in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt wurde, sind alles andere als rosig. Der Industrie fehlen Produktionskapazitäten, in den großen Betreiberländern mangelt es an Fachpersonal, und die Kosten für Neubauten gelten als prohibitiv. Von den Ratingagenturen wird das Atom-Geschäft nicht erst seit Fukushima als mit großen Unsicherheiten behaftet eingestuft. Ohne massive staatliche Subventionierung hätte sich die Atomkraft in westlichen und demokratischen Industrieländern kaum bis heute halten können.

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung und erschien erstmals in der bpb-Schriftenreihe Ende des Atomzeitalters? Von Fukushima in die Energiewende. (Bonn, 2012)

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Video Dauer
Dokumentarfilm

Atomkraft Forever

Dokumentation über den Atomausstieg in Deutschland und die Probleme, die darüber hinaus bestehen bleiben.

Artikel

Die Großen Vier

Lange Zeit beherrschten wenige Großkonzerne die Energiewirtschaft. Doch staatlich beförderter Wettbewerb und der Atomausstieg beschneiden nun die Macht von E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW.…

Dossier USA

Energiepolitik unter Biden

Massive Investitionsprogramme in die Energiewende bei Rekordmengen an fossilen Exporten. Die US-Energiepolitik unter Joe Biden ist zugleich Industrie-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Klimapolitik.

Deine tägliche Dosis Politik

Kraftwerksstrategie vorgestellt

Die Bundesregierung hat sich auf eine Kraftwerksstrategie (KS) geeinigt. Was steckt dahinter und woher kommt eigentlich unser Strom?

Mediathek

Hinter dem Abgrund

Kohleabbau, Abwanderung und Klimawandel: Was bedeuten Strukturwandel und Transformation konkret für die Menschen in der Lausitz? Diese Doku-Reihe zeigt das Leben in einer Region im Wandel.

Dr. rer. pol., Privatdozent am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin; Koordinator des Interdisziplinären Zentrums "Berlin Centre for Caspian Region Studies".