Es ist keine neue westliche Errungenschaft, Menschen als Tiere, Tiere als Lebewesen und Lebewesen insgesamt als schützenswert zu begreifen. Viele kulturelle und religiöse Gemeinschaften vertraten seit den Ursprüngen der historischen Aufzeichnung eine harmonische Ko-Existenz mit der Natur als Leitbild. Auch in der westlichen, „philosophisch“ und wissenschaftlich geprägten Antike sind unter den ersten einflussreichen Gruppierungen und Schulen vegetarische oder holistische Weltanschauungen zu finden, bspw. unter den Pythagoreern, später bei den sog. Neuplatonikern usw.
Wir können daher heute die Frage aufwerfen, aus welchem Grund die Wertschätzung für andere Lebewesen über einige Jahrhunderte hinweg so drastisch abgenommen hatte und wieso trotz besseren Wissens heute nicht stärker gegen das Leiden der Tiere vorgegangen wird. Solche grundsätzlichen Fragen gehören demnach durchaus in den Aufgabenbereich der Philosophie, denn diese hat eben eine andere Ausrichtung als die spezialisierten Fachwissenschaften, die – so sagt man in vielen Fällen zumindest – aus ihr hervorgegangen sind. Man nennt die Philosoph:innen daher gerne die Spezialist:innen für das Allgemeine, denn ihre Fragestellungen zielen ursprünglich auf prinzipielle Formen von Erkenntnis, Lebensweise und Glaubensinhalten ab.
Um ein Gefühl der Sicherheit in einer lebensbedrohlichen Umwelt zu erhalten, versuchen Menschen seit jeher Orientierung und Planungsmöglichkeiten zu gewinnen, und zwar durch Beobachtungen und Voraussagen. Obwohl wir gerne die Fragen der Theorie von den Fragen der Praxis unterscheiden, muss uns von vornherein klar sein, dass die Ausarbeitung von Ordnungssystemen immer auch praktische Folgen mit sich führt. Dazu zählt bspw. die biologische Unterscheidung und Eingruppierung von Lebewesen anhand ihrer Vermögen.
Die Bewertung dieser Fähigkeiten wurde meist so vorgenommen, dass die Menschen als Maß aller Dinge mit ihren eigenen Vermögen an der Spitze der Ordnungen stehen. Durchgehalten hat sich die grundlegende Überzeugung, dass in unserer Welt das Leben eine besondere Rolle spielt. Je weiter entwickelt die Fähigkeiten des Lebendigen sind, desto wertvoller oder schützenswerter erscheinen uns die Lebewesen zu sein. Je niedriger andererseits ein Lebewesen eingestuft wird, desto weniger bedenklich scheint die Nutzung des Lebewesens als Ressource auszufallen: Der Verzehr eines Salats macht uns keine Sorgen, das Töten eines größeren und intelligenten Tiers würde uns unter bestimmten Bedingungen schon recht schwerfallen und der Verzehr von (gruppeneigenen) Menschen ist in den meisten Gemeinschaften tabuisiert.
So sehen wir, dass seit jeher eine Verbindung zwischen der Kategorisierung der Natur und den angemessenen Handlungsweisen zu den jeweiligen kategorisierten Tieren bestand: Aufbauend auf dem Führwahrhalten von Tatsachenbeschreibungen richten wir unsere Lebensführung aus. Dieses subjektive Fürwahrhalten als Grundlage der eigenen Überzeugung differenziert nicht zwischen Facts, Fake-News oder postfaktische Tatsachen.
Wenn wir auch heutzutage zur Orientierung in Natur und Gesellschaft meist wissenschaftliche Standards heranziehen, so bemerken wir doch häufig, dass trotzdem eine Kluft zwischen unserem Kenntnisstand und einem angemessenen Handeln besteht. Die evolutionstheoretische Beschreibung von zufälligen Entwicklungslinien der Spezies und von der Verwandtschaft aller Lebewesen entziehen den wertend aufgebauten Systematisierungen (wie der Schöpfungsgeschichte) die Grundlage; vielmehr werden die Menschen bis in den Stamm der Wirbeltiere zurückgenommen.
Um zu begründen, warum wir natürliche Ressourcen, Pflanzen und Tiere nutzen, greifen wir daher auf die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche der Menschen als Argumentationsmuster zurück – immerhin müssen Lebewesen, die weiterleben wollen, sich von anderen Lebewesen ernähren, die allerdings auch gerne weiterhin leben würden. Lässt sich also damit jeder beliebige Umgang, respektive jede beliebige Nutzung von Lebewesen anderer Spezies rechtfertigen? Wie wir gesehen haben, sind die Kategorien, unter denen wir Tiere begreifen, abhängig von einer parteiischen menschlichen Ordnung. Jüngst zeigen kognitionswissenschaftliche Studien, dass wir einer ganzen Reihe von Tieren jedoch kognitive Fähigkeiten zusprechen sollten, die sie in Nähe zu denen menschlicher Personen versetzen. Die Beziehung unserer Zwecksetzungen und die Nutzung der Tiere als Mittel zum Erreichen unserer Ziele sollten vor diesem Hintergrund grundlegend überdacht werden.
Die Tierphilosophie zielt deshalb darauf ab, unsere parteiische Sichtweise zu reflektieren und die Annahmen sachlich zu überprüfen. In Verbindung zu tierethischen Überlegungen können dann entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden, welche Umgangsformen mit Tieren unseren ethischen Prämissen entsprechen, was wir also demnach tun sollten, (nicht) unterlassen sollten oder nicht tun dürften. Da auch für wissenschaftliche Studien immer eine Art Vorläufigkeit gilt und eine Widerlegbarkeit unserer Annahmen mitgedacht werden muss, sollten wir im Zweifel sogar für das Wohl der Tiere entscheiden: Können Scampi fühlen? Haben Schweine, Rinder und Hunde eine Vernunft (ein Selbstbewusstsein) oder ist dieses Vermögen nur Gorillas, Delfinen und Rabenvögeln zuzusprechen?
Wollen wir den Stand der Tiere mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten in ein ethisches System einbinden, müssen wir uns überlegen, ob wir sowieso nur Menschen als Wesen mit einer naturgegebenen Würde betrachten oder ob wir ausgewählte Kriterien wie Selbstbewusstsein, Vernunft, Verstand, Klugheit, Empfindungsfähigkeit, Schmerzempfinden oder Ähnliches ansetzen, um einen moralischen Status zu verleihen. Welche Lebewesen werden also in den engen Kreis der moralischen Akteure hineingenommen? Welche gelten als schützenswert und aus welchem Grund? Wenn alles nur einen moralischen Wert erhält, weil es für eine bestimmte Anzahl an Menschen nützlich oder wünschenswert ist, dann leitet sich die moralische Einstufung nach wie vor ausschließlich aus der Perspektive der Menschen ab – im Rahmen der Kriterien, über die wir eben nachgedacht haben, wäre das nur schwierig zu rechtfertigen. Aber könnten andere Lebewesen (nicht-menschliche Tiere, Pilze und Pflanzen), ja vielleicht sogar Dinge, Landschaften, das Klima oder die Natur als Ganze einen moralischen Wert in sich haben? Wenn nicht-menschliche Tiere zur moralischen Gemeinschaft gehören, sind auch ihre Bedürfnisse, Interessen und Wünsche im Zuge ethischer Abwägungen zu berücksichtigen. Gehören Sie denn zur moralischen Gemeinschaft wie wir menschlichen Tiere auch oder erhalten Sie einen Sonderstatus, der uns noch gewisse Spielräume der Nutzung offenlässt?
Im Grunde entstehen durch solche Fragestellungen keine neuen ethischen Positionen, sondern die gängigen „normativen“ Ethikpositionen werden auf Bereiche angewandt, in denen Krisen und Konflikte bestehender Überzeugungen sowie Werte auftreten. Durch neue technische Möglichkeiten und neue Sichtweisen auf die Mitlebewesen können sich also Umgangsweisen und moralische Standards gravierend verändern. Sprechen wir weiterhin von Mitgeschöpfen, dann bewegen wir uns selbstverständlich in einem religiösen Kontext und erhalten damit einen Auftrag („Macht Euch die Erde untertan“) oder – je nach Interpretation der Verantwortung in einem solchen Fall – zumindest göttlichen Freiraum in der Gestaltung der Erde. Der Evolutionstheorie gemäß ist der Mensch allerdings erst sehr spät aus den Entwicklungen der belebten Natur hervorgegangen. Und solche Weltbilder können eben ausschlaggebend dafür sein, wie wir moralische Werte zuerkennen.
Schauen wir auf die Philosophie vor Darwin, so gab es durchaus schon ein Bewusstsein für evolutionäre Prozesse, aber in den meisten Fällen wird dem Menschen (von Menschen) eine Sonderrolle und eine ausgezeichnete Beziehung zum Ursprung des Universums eingeräumt. So kann man leicht nachvollziehen, wie die Positionen der Ethik eingebunden sind in kulturelle Zusammenhänge und Entwicklungen, aus denen heraus eine gesellschaftliche Akzeptanz für bestimmte Reichweiten der moralischen Kreise gilt. Für die Einschätzung der Tiere in der Ethik haben wir eine Reihe von Texten hinterlegt, die beispielhaft auf einen solchen Wandel und auf ganz unterschiedliche Überzeugungen verweisen. In der Anwendung der ethischen Konzepte auf konkrete Themenbereiche wie die Tierethik sprechen wir eben von der Disziplin der „Angewandten Ethik“ mit dem Bereich der Tierethik und deren Schwerpunkt „Tiernutzung“. Welche ethische Position führt aber zu welchen Umsetzungs- und Anwendungsszenarien?