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Bio-Information

Prof. Dr. Christian Lenk Dr. Katharina Beier

/ 14 Minuten zu lesen

DNA-Datenbanken und Gentests: Kommt der "gläserne Mensch"? Katharina Beier und Christian Lenk mit einer Einführung zur Bio-Information im Zeitalter der Gentechnik.

Biologe Ralf Nixdorf versucht in einem Labor des Landeskriminalamtes in Dresden mit Hilfe eines Wattetupfers verwertbares Material auf einem Schlips einer tatverdächtigen Person für eine DNA-Analyse zu finden. (© AP)

I. Bio-Informationen im Zeitalter der Gentechnik

Der Begriff der Bioinformation umfasst – ganz allgemein – sämtliche biologisch-basierten Informationen, die sich von einem Menschen gewinnen lassen. Während unmittelbar erkennbare Aspekte wie Körpergröße oder Augenfarbe eher wenig Beachtung finden, wird über den Umgang mit genetischen Informationen seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert. Die Entschlüsselung des Genoms – dem genetischen Bauplan des Menschen – hat Anfang des 21. Jahrhunderts zusammen mit Fortschritten in der Bioinformatik den Grundstein zu einer neuen Dimension in der Nutzung biologischer Daten gelegt. Weil eine DNA-Analyse umfangreiche Informationen zutage fördert, z.B. über die Identität von Personen oder Krankheitsrisiken, ergeben sich unmittelbare gesellschaftliche, politisch-rechtliche und nicht zuletzt auch ökonomische Folgen. Die Vor- und Nachteile, die das Wissen um unsere genetischen Anlagen sowie die Anwendung von Bio-Informationen in verschiedenen Kontexten mit sich bringen, müssen daher sorgfältig abgewogen werden.

Dabei gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass der Begriff der Information in diesem Zusammenhang selbst nicht unproblematisch ist. So könnte man bereits die Kenntnis der Basensequenz der DNA als Information bezeichnen. Dagegen spricht jedoch deren Abstraktheit. Zur Information mit einem konkreten Bedeutungsgehalt wird diese erst durch unsere Fähigkeit, sie zu "lesen" und zu interpretieren (Moos/Niewöhner/Tanner 2011; Hildt/Kovács 2009). Für den Großteil der derzeit generierbaren genetischen Informationen ist diese Fähigkeit indessen nach wie vor begrenzt. Aufgrund der wachsenden Einsicht in die Komplexität genetischer Grundlagen (v.a. aufgrund von Wechselwirkungen zwischen genetischen und Umweltfaktoren) wird die Möglichkeit zur Erzeugung genetischen Wissens und seiner praktischen Anwendung mittlerweile wesentlich zurückhaltender eingeschätzt. Dies macht es erforderlich, keine übersteigerten Erwartungen hinsichtlich deren Aussagekraft zu wecken (vgl. Hildt/Kovács 2009), zugleich aber auch für die aktuellen Verwendungskontexte von Bio-Informationen und deren potentielle Ausweitung sensibel zu sein.

II. Chancen und Risiken der Nutzung von Bio-Informationen

1. Forensische Nutzung von Bio-Informationen

Die Auswertung von DNA-Spuren, z.B. in Verbindung mit Massenscreenings, erleichtert die Aufklärung von Sexualstraftaten und anderen Verbrechen erheblich. Zahlreiche Länder haben daher mit dem Aufbau forensischer DNA-Register begonnen. In Deutschland wurde die Grundlage dafür 1998 mit dem DNA-Identitätsfeststellungsgesetz geschaffen. Seitdem werden in der beim Bundeskriminalamt geführten DNA-Analysedatei die DNA-Profile von bekannten Personen gespeichert, aber auch aus Tatortmaterial sichergestellte Gen-Daten von unbekannten Personen. Diese Datensätze sind im Bedarfsfall für einen Abgleich mit anderen Dateneinträgen verfügbar, ggf. auch länderübergreifend.

Der Aussicht auf eine effektive Verbrechensbekämpfung stehen jedoch erhebliche Bedenken gegenüber. Konkret geht es um den Schutz des Grundrechts auf "informationelle Selbstbestimmung", das das Bundesverfassungsgericht mit dem Volkszählungsurteil 1983 eingeräumt hat. Danach bestimmt jeder Bürger grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die Kenntnis einer Person über das Wissen, das andere über sie besitzen, eine wesentliche Voraussetzung ihrer Autonomie darstellt. Dazu zählt insbesondere auch, die Kontrolle darüber zu haben, welche Daten von staatlichen Behörden erhoben und genutzt werden. Der forensische Zugriff auf Bio-Informationen tastet diese Wissenssymmetrie an: Der Einzelne kann kaum wissen, welche Informationen über ihn vorliegen und für wen sie ggf. verfügbar sind. Diese Unsicherheit ist nicht zuletzt dem Charakter der erhobenen Gen-Daten geschuldet. Obgleich der in der Forensik untersuchte nicht-codierte Bereich allein der Identifizierung von Personen dient, können auf diesem Wege bereits heute umfängliche Informationen über Geschlecht, Verwandtschaftsverhältnisse oder ethnische Zugehörigkeit abgeleitet werden. Aktuell ist dies im Rahmen von Einwanderungsverfahren relevant, bei denen zum Teil auf DNA-Abstammungsgutachten zurückgegriffen wird. Ein solcher Einsatz genetischer Tests als "Wahrheitsmaschinerie" (Lemke/Heinemann 2013:150) zieht indessen Kritik auf sich, weil er eine Ungleichbehandlung von Migranten gegenüber deutschen Staatsbürgern impliziert. Auch nähren solche Tests die Vorstellung von Familie als einer biologisch-objektiv feststellbaren Gegebenheit, die gleichsam "unfehlbar" und womöglich im Gegensatz zu den gelebten Familienbeziehungen von Migrantenfamilien zum Vorschein gebracht werden kann (ebd.).

Irrtümer durch verunreinigte Proben sowie die Tatsache, dass sich Haare, Speichel oder Hautzellen als Basis von DNA-Analysen manipulieren lassen, befördern ferner die Angst, dass unbescholtene Bürger ins Visier von Ermittlungsbehörden geraten könnten. Zwar ist die Erstellung genetischer Profile in Deutschland nur auf richterliche Anordnung hin zulässig. Insofern diese Maßnahme jedoch nicht nur die Untersuchung vergangener Straftaten im Blick hat, sondern auch zukünftiger, ist mit einer "Speicherung auf Vorrat" eine schleichende Ausweitung ihres Anwendungsbereichs prinzipiell denkbar.

So wurde z.B. in Schweden nach dem Mord an der Außenministerin Anna Lindh 2003 das PKU-Register zur Überführung des Täters verwendet. Seit 1975 speichert es die Blutproben aller Neugeborenen zum Zweck der Gesundheitsfürsorge. Obgleich dieses Vorgehen höchst umstritten war, kam die PKU-Biobank 2006 erneut zum Einsatz, als es darum ging, die schwedischen Opfer der Tsunami-Katastrophe in Thailand zu identifizieren (vgl. Ansell/Rasmusson 2008; Hansson/Björkman 2006). Auch wenn ein solches Vorgehen im Einzelfall Vorteile bieten mag: Es gilt zu bedenken, dass eine forensische Nutzung von zu medizinischen Zwecken angelegten Biobanken ohne Wissen und Zustimmung der Spender langfristig deren Bereitschaft herabsetzen könnte, ihre Proben und Daten zur Verfügung zu stellen – und damit die medizinische Forschung behindern könnte. Sofern sich ein forensischer Zugriff auf Biobanken nicht gänzlich ausschließen lässt, wird daher zumindest angemahnt, potentielle Spender über derartige Nutzungsmöglichkeiten zu informieren (Dranseika et al. 2016).

2. Die Nutzung von Bio-Informationen in der Forschung: Biobanken

Biobanken basieren auf der systematischen Sammlung von Körpermaterialien, die mit Daten zur Lebensweise, Krankheiten und Familienanamnese von Patienten bzw. Probanden verknüpft werden. Auf diese Weise kann nicht nur wertvolles Wissen über die Entstehung von Krankheiten sowie das Zusammenspiel von genetischen Anlagen und Umweltbedingungen erlangt, sondern es können langfristig auch Therapien für weitverbreitete Krankheiten entwickelt werden. Der Erkenntniswert einer Biobank ist umso größer, je mehr Datensätze – ggf. auch im Rahmen internationaler Kooperationen (vgl. z.B. das Public Population Project in Genomics "P³G" ) – verfügbar sind. So haben mittlerweile z.B. Island, Estland und Großbritannien nationale Biobanken eingerichtet. Ähnliche Bemühungen, wenngleich in kleinerem Umfang, gibt es in Deutschland mit dem Aufbau der "Nationalen Kohorte" oder der seit 2003 bestehenden regionalen Biobank "PopGen" in Schleswig-Holstein.

Die Tendenz zur internationalen Vernetzung sowie die Tatsache, dass die in Biobanken gespeicherten Daten Rückschlüsse auf die Identität von Personen erlauben, werfen zugleich eine Reihe ethischer und rechtlicher Fragen auf. Zwar existieren in den meisten europäischen Ländern mittlerweile Gesetze zum Umgang mit menschlichem Gewebe und auch die EU hat zumindest für deren therapeutische Nutzung eine Richtlinie erlassen (vgl. 2004/23/EG). Die Normierung der Gewebeforschung fällt bislang aber äußerst heterogen aus. Ein Überblick über unterschiedliche nationale Regeln im Bereich der Gewebeforschung wurde im Rahmen des Tiss.EU-Projektes erarbeitet (Lenk et al. 2011; Beier/Lenk 2011).

Skandale um heimliche Gewebe- und Organentnahmen, wie sie z.B. im Alder Hey Children’s Hospital in Liverpool vorgekommen sind oder die am isländischen Biobankprojekt kritisierte Praxis, Menschen die Zustimmung zur Gewebespende schlichtweg zu unterstellen (presumed consent), haben mittlerweile das Bewusstsein für den Schutz der Gewebespender geschärft. Die Forderung nach informierter Zustimmung (informed consent) wird im Kontext der Biobankforschung aber dadurch begrenzt, dass der konkrete Verwendungszweck von Proben und Daten kaum absehbar ist. Der Kontrollverlust über die mit den Proben verknüpften Informationen droht umso mehr, als z.B. die im Aufbau befindliche "UK Biobank" eine Benachrichtigung der Teilnehmer über ihre Gesundheit betreffende Ergebnisse (feedback) explizit ausschließt (vgl. UK Biobank Ethics and Governance Framework 2007).

Neben der Ausbalancierung von Forschungsfreiheit, informationeller Selbstbestimmung und medizinischer Fürsorgepflicht betrifft eine weitere wichtige Frage den rechtlichen Status menschlicher Körpermaterialien. Diese wird vor allem dann brisant, wenn Forscher, wie im Fall des US-Amerikaners Moore geschehen (vgl. Hoppe 2007), finanziellen Gewinn aus den ihnen überlassenen Geweben und Daten ziehen. Obgleich ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass Menschen kein Eigentum an ihren Körpermaterialien haben, wirft der Umstand, dass Dritte daraus kommerziellen Nutzen ziehen können, ethische und rechtliche Fragen auf. So wird vor diesem Hintergrund z.B. eine Beteiligung der Spender gefordert (benefit-sharing). Damit ist gemeint, dass ein Teil des Gewinns, der mit menschlichen Geweben und Daten erzielt wird, in allgemeine Infrastrukturen der Gesundheitsversorgung etc. investiert werden soll, die der Allgemeinheit dienen (vgl. z.B. die Stellungnahme von HUGO 2000). Auch gilt es, die Implikationen des vom Europarat im "Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin" festgehaltenen Kommerzialisierungsverbots (vgl. Art. 21) für die Biobankforschung einer kritischen Prüfung zu unterziehen, insofern in der Praxis durchaus unterschiedliche Grade der Kommerzialisierung von menschlichem Gewebe feststellbar sind (vgl. Lenk/Beier 2012). Dies gilt auch für das Prinzip der freiwilligen Forschungsteilnahme (vgl. Art. 5, 16). So zeichnet sich die Tendenz ab, unter Verweis auf den public good-Charakter von Gesundheit bzw. das Prinzip der Solidarität eine moralische Verpflichtung zur Gewebespende zu begründen (vgl. Chadwick/Berg 2001: 321; Prainsack/Buyx 2013). Auf diese Weise geht von der Biobankforschung eine regulierende Wirkung aus: Als "new strategy in the government of life" (Gottweis/Petersen 2008: 33) nimmt sie den Einzelnen in die Verantwortung, aktiv zur Verbesserung der Gesundheit anderer Menschen bzw. folgender Generationen beizutragen.

3. Gentests

Genetische Analysen werden im medizinischen Kontext mit verschiedenen Zielsetzungen vorgenommen: Unter anderem geht es um die Bestätigung von Diagnosestellungen und eine entsprechende Ausrichtung von Therapien. Auch lassen sich Träger von autosomal-rezessiv vererbten Krankheitsmerkmalen, die entsprechend folgende Generationen betreffen könnten, mithilfe von Gentests identifizieren. Ferner existieren pharmakogenetische Tests, die die Wirksamkeit von Arzneimitteln für bestimmte Patientengruppen überprüfen. Genetische Analysen geben indessen nicht nur Auskunft über bestehende Krankheiten; als "future diary" (Salter/Jones 2005: 716) lassen sich mit ihnen auch Risiken für zukünftige Erkrankungen bzw. genetische Defekte bei Ungeborenen erkennen (sog. prädiktive Gentests). So wird derzeit u.a. über den von der Firma LifeCodexx angebotenen Praena-Test kontrovers diskutiert, der mittels Untersuchung des mütterlichen Bluts einen Frühtest auf das Down-Syndrom erlaubt.

Im Zuge molekulargenetischer Fortschritte hat die Bedeutung genetischer Untersuchungen deutlich zugenommen. In den USA bieten Firmen Gentests mittlerweile per Mausklick an. Auf Grundlage einer eingesandten Speichelprobe können Personen Einblick in ihr Genprofil erhalten, das auf Krankheiten wie Alzheimer, Brustkrebs oder Diabetes hin überprüft wurde. Zudem zeichnet sich die Tendenz zur Bündelung von Tests ab. Mittels Genchips (sog. microarrays) kann das Erbgut in einem Durchgang auf eine Vielzahl von Variationen hin untersucht werden.

Ungeachtet dieser breiten Anwendungspalette ist der Sinn und Wert der Erhebung von Bio-Informationen in kaum einem Bereich so umstritten wie in der genetischen Diagnostik. Eine Ursache dafür liegt in der Gefahr ihres Missbrauchs z.B. durch heimliche Vaterschaftstests, die in Deutschland allerdings per Gesetz verboten sind. Auch wird eine Diskriminierung genetischer "Risikoträger" durch Arbeitgeber und Versicherer befürchtet. Konkret geht es um die Sorge, dass Versicherer bestimmte Personen infolge positiver Testergebnisse ablehnen oder mit hohen Versicherungs¬summen belegen bzw. Versicherungsnehmer ihren Wissensvorsprung für den Abschluss von für sie vorteilhaften Policen ausnutzen könnten (vgl. Mieth 2002: 106ff.; Breyer/Bürger 2005). Ein weiterer Grund zur Skepsis liegt in der Ambivalenz der Botschaften, die mit dem Angebot genetischer Tests ausgesandt werden. Während auf der einen Seite das Wissen um das persönliche Krankheitsrisiko mehr Sicherheit bieten und eine selbstbestimmte Lebensplanung ermöglichen soll – z.B. durch rechtzeitige Bekämpfung einer Krankheit –, droht auf der anderen Seite eine "aufgeklärte[] Ohnmacht" (Lemke 2004: 72). Denn gerade dort, wo Tests besonders zuverlässige Ergebnisse erbringen – wie z.B. im Fall der monogenetisch vererbten Krankheit Chorea Huntington –, steht den Betroffenen keine Therapie zur Verfügung (vgl. Kitcher 1998: 69ff.). Dies gilt auch für die Vielzahl von Tests, die lediglich statistische Wahrscheinlichkeiten mit unklarem Aussagewert für die individuelle Lebensführung produzieren. Auf diese Weise werden Betroffene neuen Ungewissheiten ausgesetzt.

Damit verbunden ist nicht zuletzt eine Veränderung des Krankheitsbegriffs. Ethiker und Soziologen sprechen hier vom Phänomen der "healthy ill" bzw. der asymptomatisch Kranken. Dies impliziert nicht nur eine Reduzierung von Gesundheit, sondern führt zur Generierung von "Risikopersonen", d.h. Personen, die sich in einem intermediären Zustand zwischen Gesundheit und Krankheit befinden (vgl. Kollek/Lemke 2008). Nicht zuletzt könnte das Wissen, zu einer Risikogruppe zu gehören, den gesellschaftlichen Druck erhöhen, sich risikoadäquat zu verhalten. Wird der menschliche Körper zum Objekt gesellschaftlicher Kontrolle, steht letztlich die Freiwilligkeit, sich testen zu lassen, zur Disposition: Das "Recht auf Nicht-Wissen" als Teil der informationellen Selbstbestimmung droht einem "Ethos der Pflicht" (Lemke 2004: 91) zu weichen, das es dem Einzelnen aufbürdet, sich über seine Gesundheitsrisiken in Kenntnis zu setzen (vgl. Feuerstein/Kollek 2001; Kuhlmann 2001: 127ff.). So könnte ein gesellschaftlicher Druck zur Vornahme genetischer Tests entstehen, etwa um Kranken- oder Lebensversicherungen abschließen oder in Arbeitsverhältnisse eintreten zu können.

Vor dem Hintergrund dieser Fragen hat sich nicht nur der Deutsche Ethikrat in einer Stellungnahme eingehend mit der genetischen Diagnostik befasst (Deutscher Ethikrat 2013), sondern seit 2010 besteht in Form des Gendiagnostikgesetzes hierzulande auch eine rechtliche Regelung in diesem Bereich. So ist z.B. vor der Durchführung einer genetischen Untersuchung sowie vor Befundmitteilung eine eingehende ärztliche Beratung obligatorisch, wobei die Anforderungen an die Qualität dieser Beratung nach wie vor kontrovers diskutiert werden. Auch wenn Patienten grundsätzlich das Recht haben, die Ergebnisse genetischer Test zu erfahren, erkennt das Gendiagnostikgesetz zugleich an, dass nicht jede Art von Wissen dazu geeignet ist, die Selbstbestimmung zu erhöhen; vielmehr kann es in bestimmten Kontexten auch handlungsunfähig machen. Insofern wird ein "Recht auf Nichtwissen" als individuelles Recht auf "informationelle Abgeschiedenheit" eingeräumt, d.h. niemand muss gegen seinen Willen ein Untersuchungsergebnis zur Kenntnis nehmen. Dieses Recht gilt es gleichwohl gegen das Recht auf Wissen anderer, die gesundheitlich von diesem Wissen profitieren könnten, abzuwägen. Eine Einschränkung des Rechts auf Nichtwissen scheint insbesondere dann ethisch gerechtfertigt, wenn es sich um Befunde mit therapeutischer Dringlichkeit und Relevanz handelt (BMBF-Projektgruppe "Recht auf Nichtwissen" 2016). Zugleich setzt das Gendiagnostikgesetz auch Grenzen für die Weitergabe genetischer Daten an Dritte (Arbeitgeber, Versicherungen etc.) und erlaubt es Versicherungen nur dann Testergebnisse von Kunden zu verlangen, wenn eine Leistung von mehr als 300.000 Euro vereinbart wurde.

III. "Gläserner Mensch"?

Gegen die durch DNA-Datenbanken und Gentests beförderte Vision eines bis auf das Erbgut hin durchschaubaren, "gläsernen Menschen" sind wiederholt Einwände vorgetragen worden. Konkret bestehen Zweifel, inwieweit der Einblick in das DNA-Profil den Menschen tatsächlich "durchschaubar" macht. Außerdem mahnen Kritiker an, die Wechselwirkung zwischen genetischen und Umweltfaktoren nicht aus dem Blick zu verlieren, und betonen, dass bereits der Umgang mit nicht-genetischen Daten spezifische Gefahren berge. Mit einer "normativen Privilegierung genetischer Informationen" erweise man dem Ziel, Diskriminierung zu vermeiden, daher einen Bärendienst (vgl. Lemke/Lohkamp 2005:65). Tatsächlich hat die erfolgreiche Anwendung einiger genetischer Tests in der medizinischen Praxis seit Ende der 90er Jahre einen Trend zur Normalisierung genetischer Informationen in Gang gesetzt. Für Regine Kollek und Thomas Lemke scheint allerdings weder die Annahme eines "genetischen Exzeptionalismus" – d.h., dass genetischen Informationen im Vergleich zu anderen persönlichen Informationen ein besonderer Status zukommt – noch die eines "genetischen Generalismus" – d.h., dass es keinen Unterschied zwischen genetischen und anderweitig erhobenen Bio-Informationen gibt – zuzutreffen. Als Mittelweg plädieren sie für eine Perspektive, die sie als "Kontextualismus" bzw. "schwachen Exzeptionalismus" bezeichnen. Demnach ist der Status genetischer Informationen kein intrinsisches Merkmal, sondern wird durch wissenschaftliche, medizinische und soziale Faktoren sowie den Kontext ihrer Erzeugung und Verwendung wesentlich beeinflusst (vgl. Kollek/Lemke 2008).

Handelt es sich bei der Rede vom "gläsernen Menschen" üblicherweise um eine Metapher, die sich auf den Staat als überwachende Instanz bezieht, zeichnet sich diesbezüglich eine Akzentverschiebung ab. Zwänge aus der Nutzung von Bio-Informationen rühren gegenwärtig nicht so sehr von potentieller staatlicher Überwachung her, sondern von der kontextüberschreitenden Erhebung und einer von Individuen selbst vorgenommenen Bereitstellung individueller Bio-Informationen, die im Zeitalter hochvernetzter Informations- und Kommunikationstechnologien mit anderen Datensätzen verknüpft und in ganz verschiedenen gesellschaftlichen, auch kommerzialisierten, Kontexten zur Anwendung kommen können. Debatten über den Umgang mit persönlichen (Bio-) Informationen sind daher nicht allein mit Bezug auf genetische Daten erforderlich. Konkret geht es um eine sorgfältige Abwägung verschiedener Grundrechte, wie der Forschungsfreiheit, des Rechts auf Information, dem Schutz der Privatheit oder auch dem Schutz vor Diskriminierung.

Literatur

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BMBF-Projektgruppe "Recht auf Nichtwissen" (2016): Empfehlungen zum anwendungspraktischen Umgang mit dem Recht auf Nichtwissen”. Medizinrecht 34, S.399-405.

Breyer, Friedrich/Bürger, Joachim (2005): Genetische Differenzierung in der Privatversicherung. In: Wolfgang van den Daele (Hrsg.): Biopolitik. Leviathan Sonderheft 23/2005, Wiesbaden: VS-Verlag, S.71-96.

Externer Link: Deutscher Ethikrat (2013): Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung. (letzter Zugriff am 08.06.2017).

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Feuerstein, Günter/Kollek, Regine (2001): Vom genetischen Wissen zum sozialen Risiko: Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B27, S.26-33.

Gottweis, Herbert/Petersen, Alan (2008): Biobanks. Governance in comparative perspective. London/New York: Routledge.

Hansson, Sven Ove/Björkman, Barbro (2006): Bioethics in Sweden. In: Cambridge Quarterly of Health Care Ethics 15, S.285-293.

Hildt, Elisabeth/Kovács, László (2009): Was bedeutet genetische Information? Berlin/New York: de Gruyter.

Hoppe, Nils (2007): Out of Touch: From Corporeal to Incorporeal, or Moore Revisited. In: Christian Lenk/Nils Hoppe/Roberto Andorno (Hrsg.): Ethics and Law of Intellectual Property: Current Problems in Politics, Science and Technology. Aldershot: Ashgate, S.199-210.

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Lemke, Thomas/Heinemann, Torsten (2013): Verdächtige Familien: Gesellschaftliche Implikationen von DNA-Abstammungsgutachten in Einwanderungsverfahren. In: Thomas Lemke: Die Natur in der Soziologie. Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen biotechnologischen Wissens. Frankfurt/New York, S.129-153.

Lemke, Thomas/Lohkamp, Christiane (2005): Formen und Felder genetischer Diskriminierung: Ein Überblick über empirische Studien und aktuelle Fälle. In: Wolfgang van den Daele (Hrsg.): Biopolitik. Leviathan Sonderheft 23/2005, Wiesbaden: VS-Verlag, S.45-70.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Grundlage dafür bildet der Prümer Vertrag von 2005, dem 10 EU-Staaten, darunter Deutschland, angehören.

  2. Vgl. dazu z.B. den Report des britischen Nuffield Council on Bioethics (2007), der sich mit dieser Problematik auseinandergesetzt und Empfehlungen zum Umgang mit forensischen DNA-Datenbanken abgegeben hat.

  3. Im Falle der UK National Criminal Intelligence Database, die seit 2001 bereits mehr als drei Millionen Datensätze gesammelt hat, gab es beispielsweise Hinweise darauf, dass selbst bei nichtigen Vergehen von Minderjährigen ein DNA-Profil erstellt und gespeichert worden ist (vgl. Wallace 2006).

  4. Das Register verdankt seine Bezeichnung der Krankheit Phenylketonurie als einer der vier Krankheiten, auf die alle Neugeborenen in Schweden untersucht werden. Für die Speicherung der dafür entnommenen vier Blutstropfen und ihre Verwendung zu therapeutischen oder Forschungszwecken müssen die Eltern ihre schriftliche Einwilligung erteilen.

  5. Externer Link: http://www.p3gconsortium.org

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ist Geschäftsführer der Ethikkommission der Universität Ulm.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen.