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Bioethik und die Evangelische Kirche

Prof. Dr. Gerhard Robbers

/ 7 Minuten zu lesen

In der evangelischen Kirche in Deutschland gibt es erhebliche Unterschiede in der Bewertung der verschiedenen bioethischen Problembereiche. Gerhard Robbers erklärt, welche.

(© picture-alliance, photothek)

Die Existenzweise evangelischer Lehre zur Bioethik

Die evangelische Kirche will dazu beitragen, in positiver und kritischer Begleitung des wissenschaftlichen Fortschritts die Würde der einzelnen Menschen zu sichern. Sie hat dabei gerade auch die Schwachen im Blick und die, die sich selbst nicht äußern können. Das christliche Menschenbild und Weltverständnis bildet die Grundlage, auf der die evangelische Kirche viele Beiträge zur Bioethik geleistet hat, so zum Beginn und zum Ende des Lebens, zur Organtransplantation, zur Stammzellforschung, zur Gentechnik und zum Umweltschutz. Die Vielfalt organisatorisch selbständiger evangelischer Kirchen macht es allerdings nicht leicht, eine spezifisch evangelische Sicht zur Bioethik zu finden. Zu den evangelischen Kirchen zählen die auf Martin Luther zurückgehenden Kirchen ebenso wie die auf Johannes Calvin gründenden reformierten Kirchen und die aus der Zusammenführung beider Bekenntnisse hervorgegangenen unierten Kirchen. Darüber hinaus sind evangelische Kirchen auch die Gemeinschaften der Waldenser und die Böhmischen Brüder, die Quäker, Baptisten und Kongregationalisten, die Methodisten und viele andere.

Die evangelischen Kirchen leben über die ganze Welt verstreut. Sie sind in unterschiedlichen Kulturen, ökonomischen Verhältnissen und politischen Zusammenhängen eingelassen, ohne dass diese Vielfalt in einem institutionellen Zentrum gebündelt wäre. Die im Einzelnen unterschiedlichen theologischen Grundkonzeptionen, denen diese Kirchen folgen, führen dabei zu unterschiedlichen Wahrnehmungen bioethischer Fragestellungen. Die evangelischen Kirchen kennen kein verbindliches Lehramt. Evangelische Lehre entwickelt sich im Pluralismus der Auffassungen oft nur als Frage, die die Entscheidung für die richtige Antwort in die Verantwortung des Einzelnen stellt. Hierin drückt sich ein positives Verhältnis zur geschichtlichen Vielfalt aus, das der Entwicklung von Pluralismus günstig ist. Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt äußert sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) auf unterschiedlichen Ebenen und durch verschiedene Organe zur Bioethik. Dabei nimmt der Rat der EKD als kirchenleitendes Organ eine wesentliche Verantwortung wahr.

Grundlagen der evangelischen Bioethik

Ein grundlegender Text zur Bioethik ist die Gemeinsame Erklärung der christlichen Kirchen und kirchlichen Zusammenschlüsse in Deutschland "Gott ist ein Freund des Lebens", der sich schon 1989 den Herausforderungen und den Aufgaben beim Schutz des Lebens widmete. Die Erklärung gilt der Bewahrung und Förderung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und der besonderen Würde des menschlichen Lebens. Sie geht auf spezielle Bereiche besonderer Verantwortung ein und auf aktuelle Herausforderungen wie den Embryonenschutz, den Schutz von ungeborenen Kindern und Behinderten, die Organverpflanzung und die Sterbebegleitung.

Evangelische Bioethik hat in der Würde des Menschen ihre Grundlage. Als ein Zentralbegriff bei der Beschreibung der besonderen Würde des menschlichen Lebens gilt im Christentum die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Vorstellung vom Menschen als dem "Bild Gottes" stammt aus dem ersten Schöpfungsbericht der Bibel (1 Mose 1, 26 f.). Diese Qualifizierung des Menschen als "Bild Gottes" gilt nicht allein der menschlichen Gattung, sondern jedem einzelnen Menschen. Individuelle Besonderheit ist ein Wesensmerkmal des Menschseins. Jeder Mensch besitzt einen eigenen Wert und Sinn. Diese Auszeichnung des Menschen ist unverlierbar, wie immer der Mensch beschaffen ist und was immer mit ihm geschieht oder was er tut – und sei er in seinen Lebensäußerungen noch so eingeschränkt. Er behält seinen Eigenwert. Wert und Würde des Menschen bestimmen sich letztlich nicht aus seinen Funktionen oder Fähigkeiten, nicht aus seinen Leistungen, aus Verdiensten oder aus bestimmten Eigenschaften, und sie bestimmen sich schon gar nicht nach individuellem oder sozialem Nutzen und Interesse.

Der Mensch verdankt sein Sein als Person in evangelischer Überzeugung der vorbehaltlosen Anerkennung durch Gott, die zur wechselseitigen Anerkennung der Menschen untereinander verpflichtet. Insbesondere evangelische Theologen betonen den relationalen Charakter der Person: Person ist jemand nur in Beziehung – grundlegend zu Gott, in Folge dessen auch zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst.

Mit der Würde des Menschen ist ein prinzipielles Selbstbestimmungsrecht gegeben. Insofern bleibt er als Person der Fremdbestimmung von außen entzogen, und zwar auch dort, wo er sich in seinem bisherigen Leben nie seiner selbst bewusst gewesen ist oder hat äußern und seiner Umgebung verständlich machen können.

Einzelfragen evangelischer Bioethik

Die bioethische Diskussion darf sich nicht auf Fragen verengen, die vornehmlich nur reiche Länder betreffen, wie der Status des menschlichen Embryos, die Fortpflanzungsmedizin, die Organtransplantation und die Sterbehilfe. So wichtig diese Fragen sind, sieht die evangelische Kirche auch den hohen Stellenwert, den die Bekämpfung von Krankheit in weniger entwickelten Ländern besitzt.

Embryonenschutz

Menschlichen Embryonen sind menschliche Lebewesen und als solche schutzwürdig. Das reproduktive Klonen wird abgelehnt, ebenso wie das Klonen von Embryonen, um sie dann für die Forschung oder für therapeutische Zwecke zu verwenden und zu vernichten. Auch die Abtreibung (und Tötung) eines Föten, mit dem Ziel, transplantierbare Organe zu gewinnen, ist moralisch unvertretbar. Forschung an ungeborenen Menschen ebenso wie andere Humanexperimente können nur insoweit gebilligt werden, als sie der Erhaltung und Förderung dieses bestimmten individuellen Lebens dienen. Gezielte Eingriffe an Embryonen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, sind nicht zu verantworten, und seien die Forschungsziele noch so hochrangig. Der ungeborene Mensch hat ebenso wie der geborene Anspruch auf Schutz. Der Rat der EKD hat embryonale Stammzellforschung abgelehnt. Auch bei der Forschung mit sog. überzähligen Embryonen wird menschliches Leben danach als bloßes Mittel zum Zweck benutzt und damit gegen die Würde des Menschen verstoßen. Deswegen kann es keine Abwägung zwischen dem Lebensschutz des Embryos einerseits und der Forschungsfreiheit andererseits geben, denn es handelt sich hier immer um Tötung in fremdem Interesse.

Es gibt in der evangelischen Kirche in Deutschland gleichwohl erhebliche Unterschiede in der Bewertung der verschiedenen bioethischen Problembereiche. Eine Grundfrage besteht darin, wann das Leben eines Menschen beginnt und welcher moralische Status dem Embryo zuerkannt wird.

Oft wird dabei eine Klugheitsregel der ethischen Tradition hinzugezogen. Danach soll man bei Entscheidungen über das Leben von Menschen, bei denen es mehrere Alternativen gibt, die sicherere Variante wählen. Wenn man dieser Regel folgt, beginnt das Leben des Menschen mit der vollständig vollzogenen Vereinigung von Ei- und Samenzelle, und ihm gebührt der volle Lebensschutz von Anfang an. Auch die befruchtete Eizelle außerhalb des Mutterleibes hat nach dieser Auffassung Personenstatus und damit den Status eines Trägers von Grundrechten. Das entscheidende Argument für diese Auffassung ist, dass es in der Entwicklung von der Keimzellenverschmelzung bis zum Ende der irdischen Existenz eines Menschen keine andere Zäsur gibt, die sich mit guten Gründen als Beginn des Menschseins verstehen ließe. Die dafür theoretisch in Frage kommenden Einschnitte in der menschlichen Entwicklung wie die Einnistung in die Gebärmutter oder die Geburt, bilden nur Stationen innerhalb der Entwicklung als Mensch. Es ist stets eine Entwicklung als Mensch und nicht eine Entwicklung zum Menschen.

In der ethischen Diskussion innerhalb der evangelischen Kirche wird aber auch eine Position geltend gemacht, wonach dem menschlichen Embryo in seiner frühen Entwicklungsphase nur eine Schutzwürdigkeit abgeleiteter Art zukommt. Hier wird faktisch unterschieden zwischen "menschlichem Leben" und "werdenden Menschen". Insbesondere bei Embryonen, die in vitro heranwachsen und nicht in der Gebärmutter eingenistet sind, handelt es sich nach dieser Auffassung nicht um werdende Menschen, weil sie selbst nicht alle äußeren Voraussetzungen dafür haben, dass aus ihnen ein Mensch hervorgehen kann. So wird hier differenziert zwischen dem Leben werdender Menschen, das aller Fürsorge wert ist, und menschlichem Leben, das dadurch, dass es der medizinischen Forschung zur Verfügung steht, kranken Menschen zugute kommen könnte.

Diagnostik

Vorgeburtliche (pränatale) und voraussagende (prädiktive) Diagnostik können dem Leben und Gesundheitsinteresse des ungeborenen und des geborenen Menschen dienen; sie können aber durch solches Wissen auch verunsichern, belasten und verängstigen. Vor allem für ungeborene Kinder mit Behinderung wird die pränatale Diagnostik oft zum tödlichen Risiko. Der Wert und die Würde eines Menschen hängen aber nicht von seiner Gesundheit oder seiner Leistungsfähigkeit ab.

Bei jeder Voraussage über künftige Erkrankungen und Risiken ist wichtig, folgende Prinzipien zu beachten: a) die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme, b) das "Recht auf Nichtwissen", c) das Recht auf Selbstbestimmung, welche (genetische oder andere) Daten erhoben werden, sowie d) die Berücksichtigung der besonderen psychischen Situation, wenn eine Person ein Krankheitsrisiko befürchtet.

Sterbehilfe und Sterbebleitung

Die evangelische Kirche tritt für umfassende Sterbebegleitung ein. Aktive Sterbehilfe ist eine ethisch nicht vertretbare, gezielte Tötung eines Menschen in seiner letzten Lebensphase, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen, verzweifelten Wunsch hin erfolgt. Die Alternativen zur Tötung sind vielmehr umfassende Sterbebegleitung, Leidensminderung durch Schmerztherapie und Palliativmedizin und Betreuung in Hospizen. Zudem gibt die evangelische Kirche Empfehlungen zur Patientenverfügung. Eine Rechtsordnung, die aktive Sterbehilfe zulässt, beschwört die Gefahr herauf, dass der uneingeschränkte Schutz des Lebensrechts aller Menschen auch an anderen Stellen gelockert wird.

Gentechnik und Umweltschutz

Immer wieder hat die evangelische Kirche zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt, mit den Tieren als Mitgeschöpfen und mit den natürlichen Ressourcen aufgerufen. Besonders die Gentechnik wird von der evangelischen Kirche sehr differenziert betrachtet. Sie erinnert dabei daran, dass bei der Beurteilung und Anwendung von Gentechnik nach den folgenden Kriterien gehandelt werden muss: Abschätzung der Folgen, Bewertung der Risiken, Abwägung von Kosten und Nutzen, Einbeziehung von Alternativen und Gerechtigkeit für alle.

Fussnoten

Geb. 1950, Dr. iur. utr., Professor für fü öffentliches Recht, Kirchenrecht, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte. 1982-1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. Seit 1989 Professor in Trier. 1997-2008 Richter im Nebenamt am OVG Rheinland-Pfalz. Leiter des Instituts für Europäisches Verfassungsrecht. Geschäftsführender Vorstand des Instituts für Rechtspolitik, seit 2008 Richter des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz. Professor Robbers ist zudem Vorstand des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages und der gewählte Präsident des Kirchentages 2013.