Embryonen- und Stammzellforschung
In Deutschland gehören die Embryonenforschung und die Stammzellforschung zu den umstrittensten bio- und lebenswissenschaftlichen Forschungsfeldern. Es war vor allem eine neue Reproduktionstechnologie, die Behandlung von Kinderlosigkeit durch künstliche Befruchtung, die der Embryonenforschung ganz neue Möglichkeiten eröffnet hat. Diese hat überzählige, im Reagenzglas erzeugte Embryonen entstehen lassen, die bei Wissenschaftlern große Begehrlichkeiten wecken. Durch diese Embryonen wird es auf neue Weise möglich, menschliches Leben in seinen frühesten Entwicklungsstadien zu erforschen, nach Krankheitsursachen zu suchen, Mechanismen pathologischer Entwicklungsverläufe aufzudecken und Therapien für bisher als unheilbar geltende Krankheiten zu entwickeln.
Die Befruchtung im Reagenzglas eröffnet auch die Möglichkeit, die befruchtete Eizelle durch die sog. "Präimplantationsdiagnostik" noch vor der Einpflanzung auf Schädigungen hin zu untersuchen oder Embryonen nach bestimmten Kriterien, etwa dem Geschlecht, auszuwählen. 1998 gelang es amerikanischen Wissenschaftlern erstmals, aus überzähligen menschlichen Embryonen embryonale Stammzellen zu gewinnen. Seitdem ist die Stammzellforschung weltweit expandiert und zu einem Gegenstand teilweise höchst kontrovers geführter medizinischer, wissenschaftspolitischer und ethischer Debatten geworden.
Zumindest in ihrer öffentlichkeitswirksamen Darstellung werden die Stammzellen immer wieder zu einer Trägerin großer Hoffnungen auf eine zukünftige, möglicherweise schon bald bevorstehende Revolution der Medizin stilisiert. Da mit ihnen die Verheißung verbunden wird, dass in Zukunft unheilbare Erkrankungen heilbar sein werden, erhoffen sich ihre Befürworter auch die Erschließung milliardenschwerer und renditestarker Zukunftsmärkte. Demgegenüber weisen Kritiker nicht nur auf völlig überzogene Erwartungen hin, sondern vor allem auch auf mögliche medizinische Risiken und Gefahren sowie höchst problematische ethische Implikationen.
Was genau sind Stammzellen?
Stammzellen haben die Fähigkeit, sich unbegrenzt zu vermehren und alle Zelltypen des Körpers zu bilden, beispielsweise Muskel-, Nerven- oder Blutzellen. Mit solchen, in Zellkulturen gezüchteten Zellen arbeitet die Stammzellforschung. U.a. werden Versuche unternommen, spezifische Zellen herzustellen, mit denen Krankheiten wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und Leukämie behandelt werden sollen. Bisher konnte aber noch keine Verfahren gefunden werden, mit denen sich die Entwicklung der Stammzellen gezielt steuern lässt.
Stammzellen finden sich in Embryonen und Föten sowie in verschiedenen Organen des Menschen, im Knochenmark und im Nabelschnurblut. Entsprechend wird zwischen embryonalen, fetalen und adulten Stammzellen unterschieden. Letztere können von Säuglingen, Kindern oder Erwachsenen stammen. Die Forschung an Stammzellen von geborenen Menschen ist ethisch unproblematisch, wird aber bezüglich ihres möglichen Nutzens unterschiedlich eingeschätzt. Befürworter der embryonalen Stammzellforschung schätzen das Entwicklungspotenzial adulter im Vergleich mit embryonalen Stammzellen als geringer ein, ebenso ihre Vermehrbarkeit.
Embryonale Stammzellen, die im Mittelpunkt der Kontroversen stehen, können auf drei verschiedene Weisen gewonnen werden: Aus so genannten "überzähligen Embryonen", die für eine künstliche Befruchtung hergestellt werden, jedoch nicht benötigt werden, aus Feten, die zwischen der fünften und neunten Schwangerschaftswoche abgetrieben werden und durch Zellkerntransfer, auch "therapeutisches Klonen" genannt. Hierbei wird die Eizelle einer Spenderin entkernt und mit dem Kern einer Körperzelle des Patienten wieder gefüllt. So entsteht eine neue, entwicklungsfähige totipotente Zelle. Aus der daraus entwickelten Blastozyste werden dann pluripotente Stammzellen entnommen. Ziel dieses Verfahrens ist es, Ersatzgewebe aus körpereigenem Material herzustellen, das genau auf den jeweiligen Patienten passt.
Gesetzliche Regelungen
In Deutschland wird die Forschung an Embryonen durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) aus dem Jahr 1990 geregelt. Dieses Gesetz räumt dem Schutz von Embryonen gegenüber verschiedenen anderen Interessen, u.a. Forschungsinteressen, einen eindeutigen Vorrang ein. Nach dem deutschen Stammzellgesetz aus dem Jahr 2002 ist die Arbeit mit Stammzellen erheblich eingeschränkt. Es verbietet die Herstellung von Stammzellen in Deutschland, erlaubt jedoch ihren Import, wenn sie vor dem 1.1. 2002 hergestellt wurden. Aufgrund des starken Drängens vieler Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen sowie aus forschungspolitischen Erwägungen hat der Deutsche Bundestag im April 2008 entschieden, den Stichtag für den Import menschlicher embryonaler Stammzellen auf den 1. Mai 2007 zu verschieben.
Die ethische und politische Kontroverse
Warum die Embryonen- und Stammzellforschung ethisch so kontrovers diskutiert wird, liegt an den Fragen, die durch sie aufgeworfen werden. Darf man menschliches Leben künstlich im Labor herstellen? Darf dieses so hergestellte menschliche Leben zu Forschungszwecken genutzt werden, die ihnen nicht selbst zugute kommen? Kann man in Bezug auf Stammzellen überhaupt schon von "menschlichem Leben" sprechen? Darf man sie vor der Einpflanzung auf ihre Qualität hin prüfen und ggf. auf die Einpflanzung verzichten? Ist es vertretbar, Menschen zu klonen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen bzw. zu welchem Zweck? Dürfen Eltern ihr zukünftiges Kind mit Hilfe genetischer Testverfahren so auswählen, dass es nach seiner Geburt als lebensrettender Zellspender für ein todkrankes Geschwisterkind dienen kann? Darf man Embryonen eigens für solche Zwecke herstellen? Darf man dies auch auf dem Wege des Klonens tun?
Diese sehr unterschiedlichen Fragen haben in ethischer Hinsicht einen gemeinsamen Kern, nämlich das Problem der Legitimität der Beforschung und Nutzung von frühem menschlichem Leben. Dieses Problem ist nur lösbar, wenn die Frage nach dem moralischen Status und der ethischen Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens auch in seinen sehr frühen Entwicklungsstadien beantwortet werden kann. Zumindest im deutschsprachigen Raum wird die Frage nach dem moralischen Status über die Würde verhandelt. Ausgehend von Kant gilt Würde dabei als ein absoluter Wert des Menschen, der ihn über jeden Preis erhaben macht. Nach weit verbreiteter Auffassung ist Würde angeboren, unveräußerlich und unteilbar, weder steigerbar noch verlierbar. Lebewesen, denen Würde zukommt, sind somit in moralischer Hinsicht allen Systemen relativer und kategorialer Bewertungen entzogen und durch ein Instrumentalisierungsverbot geschützt.
Aber wem genau kommt diese Würde zu? Ab wann hat der Mensch Würde? Es ist genau diese Frage, die die Gemüter entzweit und höchst kontrovers diskutiert wird. Das Spektrum der Positionen zur Beantwortung der zweiten Frage reicht von einem sehr frühen Zeitpunkt (Befruchtung der Eizelle oder Einnistung in die Gebärmutter) über die Bestimmung von moralisch bedeutsamen Entwicklungseinschnitten (etwa der Entstehung von Empfindungsfähigkeit) hin zur Geburt oder einem noch späteren Zeitpunkt. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage diskutiert, ob die Würde von Anfang an unbedingt gilt oder ob ein gestuftes Modell angemessener ist. Es existiert also ein (historisch relativ neuartiges, erst durch die modernen Wissenschaften und ihre Möglichkeiten entstandenes) Problem der Zuschreibung von Würde. Ebenso ist heute strittig, ob die Würde rechtlich und ethisch ein oberstes Gut oder ein Gut unter Gütern ist, das der Bewertung und Abwägung unterzogen werden kann.
Verschiedene Positionen in der Debatte
Für die Befürworter liberaler Regelungen in der Embryonen- und Stammzellforschung stehen die in Zukunft zu erwartenden Ergebnisse der Forschung und die sich daraus vielleicht ergebenden neuen medizinischen Möglichkeiten im Vordergrund. Embryonen sind ihrer Auffassung nach kein ethisches Schutzgut wie Personen mit Grundrechten, etwa einem Recht auf Leben. Da es sich eher um Sachen handelt, ist es aus dieser Perspektive durchaus legitim, sie zu verbrauchen, wenn dadurch hochrangige Zwecke wie der medizinische Fortschritt erreicht werden können. Und wenn der Verbrauch legitim ist, dann ist es auch die Herstellung von Embryonen. Vertreter dieser Position bringen vor, dass der frühe Embryo keinerlei Ähnlichkeit mit der Gestalt eines lebenden Menschen hat und nicht über ein noch so minimales Bewusstsein verfügt. Sie vertreten ein Verständnis von Würde, das sehr stark auf Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zu freier und vernunftgeleiteter Selbstbestimmung abhebt. Da ein früher Embryo gewiss nicht über diese Fähigkeit verfügt, komme ihm auch keine Würde zu. Dadurch ziele das Argument der illegitimen Instrumentalisierung ins Leere. Diese ethische Argumentation wird durch die Behauptung flankiert, deutsche Wissenschaftler würden durch das die Forschungsfreiheit beschneidende geltende Recht in ihrer Arbeit erheblich behindert und drohten zudem, den Anschluss an die internationale Spitzenforschung zu verlieren. Und es wird mit Nachdruck der bereits erwähnte ökonomische Aspekt, die Erschließung zukünftiger internationaler Märkte für neue Therapien betont. Auf dieser Ebene zeigt sich die Wertfrage als ökonomische Frage.
Demgegenüber bringen die Kritiker vor, menschliches Leben werde durch die embryonenverbrauchende Forschung, das Klonen und die Gewinnung von Stammzellen einem zweckrationalen Kalkül unterworfen. Es wird die Gefahr der Selektion von unbrauchbarem oder wertlosem Leben heraufbeschworen. Der Embryo steht demnach in Gefahr, schutzlos individuellen oder gesellschaftlichen Zwecksetzungen ausgeliefert und zu einem Objekt willkürlicher Behandlung zu werden. Schließlich öffnet die Embryonenforschung die Tür für genetische Manipulationen aller Art, die letztlich im Dienste einer (ihrerseits politisch instrumentalisierbaren) Verbesserung des Menschen stehen könnten. Spätestens an dieser Stelle würde dann die eugenische Seite dieses Forschungszweiges mitsamt all ihrer problematischen historischen und zukünftigen Implikationen sichtbar.
Während die Befürworter der Embryonenforschung sich auf eine "Ethik des Heilens" beziehen, der zufolge Gesundheit ein sehr hohes individuelles und gesellschaftliches Gut ist, das zu fördern eine ethische Pflicht darstellt, weisen die Kritiker auf die Gefahr dieser Ethik hin, wenn sie allzu einseitig verstanden wird: Krankheit und Leiden könnten entwertet und ihres durchaus auch positiven Sinns im menschlichen Leben beraubt werden. Sie wären kein integraler Bestandteil des menschlichen Lebens mehr, sondern würden nur noch als zu vermeidendes Übel angesehen. Zudem könnte das Ideal menschlicher Perfektion zu einer Diskreditierung und Ablehnung all derjenigen führen, die ihm nicht entsprechen, etwa von Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranken. In jedem Fall wäre der Mensch seiner Selbstzweckhaftigkeit und seiner Würde beraubt und würde statt dessen an gesellschaftlichen Maßstäben, seien es Minimal-, Durchschnitts- oder Idealnormen, gemessen. Die Kritiker liberaler Regelungen beharren auf der moralischen Gleichwertigkeit allen menschlichen, also auch vorgeburtlichen Lebens, unabhängig von seinem Entwicklungstand.
Fazit
Die hier nur angerissenen Debatten sind philosophisch und rechtlich höchst diffizil, zugleich von großer gesellschaftlicher und politischer Relevanz. Auch wenn aus Sicht des Verfassers die Argumente der Kritiker der Embryonen- und Stammzellforschung schwerer wiegen, muss man zugestehen, dass auch ihre Befürworter triftige Argumente vorbringen. Jedoch muss man klar sehen, dass nicht nur eine liberal gehandhabte biomedizinische Forschung problematische ethische Implikationen und Folgen hat. Auch der Schutz von sehr frühem menschlichem Leben hat seinen Preis. Der Zwiespalt zwischen möglichem medizinischem Fortschritt und Würdeschutz für ungeborenes Leben lässt sich nicht ohne Rest auflösen. Es steht allerdings zu vermuten, dass die Gesetze in Zukunft liberalisiert werden und biomedizinische Praktiken, die heute noch für Unruhe sorgen, zukünftig als mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen werden, wie es heute bereits mit der Pränataldiagnostik der Fall ist.
Literatur
Gehring, Petra: Woher kommt die Stammzelle? Fünf Vorfragen zu einer phantastischen Substanz. In: Was ist Biopolitik. Frankfurt 2006
Geyer, Christian: Biopolitik. Frankfurt 2001
Merkel, Reinhard: Forschungsobjekt Embryo. München 2002
Links
Externer Link: www.stemcellforum.org
Externer Link: www.dfg.de