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Bioethik als Verantwortungsprinzip Bioethik, Biopolitik und Biorechtswissenschaften

Prof. Dr. Walter Schweidler Walter Schweidler

/ 7 Minuten zu lesen

Bioethik: Dahinter verbirgt sich mehr eine soziokulturelle Aufgabe als eine akademische Disziplin. Ihre Grundfrage lautet: Wie können die Reflexionsressourcen und -methoden der akademischen Ethik dafür genutzt werden, moralisch verantwortlich Entscheidungen in Problemfragen der Bioethik zu treffen?

Modelle von Embryos in der 10. Woche . (© AP)

Der Kontext der Bioethik

Biotechnologie und wissenschaftlicher Fortschritt

"Bioethik" ist mehr eine soziokulturelle Aufgabe als eine akademische Disziplin. Der biotechnologische Fortschritt konfrontiert uns mit neuen Handlungs- bzw. Forschungsoptionen wie

  • gezielten Eingriffsmöglichkeiten in menschliches Leben in Grenzzuständen, die sich früher unserer direkten Einwirkung entzogen;

  • Beobachtungs-, Diagnose- und Prognoseszenarien, etwa durch extrakorporale Untersuchung von Embryonen durch die Genomanalyse oder die Feststellbarkeit des "Hirntodes", denen menschliches Leben bislang nicht zugänglich war;

  • Veränderungsmacht in Bezug auf die strukturellen Identitätsbedingungen unserer Gattung selbst, wie sie sich durch das Klonieren von Menschen oder die Züchtung von teilmenschlichen Mischwesen ergeben würden.

Infolgedessen ist Bioethik eine Aufgabe der akademischen Ethik mit der Grundfrage: Wie können die Reflexionsressourcen und -methoden der akademischen Ethik dafür genutzt werden, moralisch verantwortlich Entscheidungen in Problemfragen der Bioethik zu treffen?

Ärztliche Verantwortung und menschliche Autonomie

Diese Aufgabe überschneidet sich mit der unrelativierbaren Verantwortung, die im Umgang mit bioethischen Problemen dem ärztlichen Handeln und den ihm zugrundeliegenden Entscheidungs-, Überprüfungs- und Ausbildungsprozessen zukommt. Ursprung der normativen Verpflichtungen und Ansprüche auf dem bioethischen Feld ist in weitem Umfang das Arzt-Patienten-Verhältnis. Die Einsetzung des Arztberufs zum Zweck der Heilung von Krankheiten, der Linderung von Schmerzen und der Nutzung medizinischen Wirkens zur Erfüllung der menschlichen Lebensbedürfnisse ist die fundamentale soziokulturelle Leistung, aus der sich die Prinzipien ergeben, die über die allgemeinen moralischen Maßstäbe verantwortbaren Lebens und Zusammenlebens hinaus die spezifisch "bioethische" Kompetenz begründen und erfordern.

Bioethische Verantwortung ist daher essentiell ärztliche bzw. Patientenverantwortung, wenngleich nicht ausschließlich und auch nicht immer notwendig die Verantwortung von Ärzten und Patienten. In jedem Fall ist das Recht zur Selbstbestimmung immer auf Patient und Arzt zu beziehen. Der Patient soll auch in der ärztlichen Behandlung so weit wie möglich als autonome Person respektiert werden; aber der Arzt ist kein Erfüllungsgehilfe des Patientenwillens und auch kein Agent gesellschaftlicher Zwecksetzungen und Erlaubnisspielräume, sondern hat letztlich immer auch Verantwortung vor den Pflichten, die ihm durch seinen Beruf und dessen ethische Konstitution auferlegt sind.

Politische Dimension der bioethischen Verantwortung

Natürlich ist das ärztliche Handeln nicht frei oder sogar willkürlich im Verhältnis zu gesetzlicher und richterlicher Regelung. Insbesondere der Eingriff in menschliches Leben, der zu seiner Beendigung führt oder mit diesem verbunden ist, fordert unrevidierbar die staatliche Verantwortung für den Schutz des menschlichen Lebens und die Sicherung der sich aus dem Prinzip der Würde des Menschen ergebenden grundrechtlichen Gewährleistungen heraus. Dies ändert jedoch wiederum nichts daran, dass es in wesentlichen Hinsichten und Bereichen spezifisch ärztliches Handeln ist, dessen Inhalt, Umfang und Beurteilungsmaßstäbe dabei geregelt werden.

Bioethische Entscheidungsfindung, auch wo sie im Wege der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung ausgeübt wird, ist insoweit immer auch eine Antwort auf die Frage, was in ethischer Hinsicht von einem Arzt mit seiner Berufs- und Hilfsverantwortung für Patienten verlangt werden darf und was gefordert werden muss. Dieser Horizont ist nicht zuletzt auch dort zu beachten, wo es um Freiheit und Fortschritt biomedizinischer Forschung geht. Der Auftrag zu Hilfe und Heilung von Menschen bleibt Maß und Grenze der Freiräume, in denen sich die Forschung abspielen und auf deren Gestaltung sie sich berufen kann. Es gibt keine (natur-)wissenschaftliche Antwort auf die Frage, warum der Mensch Heilung und Hilfe verdient, sondern umgekehrt ist von den humanen Lebenszwecken her zu begründen, warum und bis zu welchen Grenzen die ihnen dienende Forschung geboten und erlaubt ist.

Menschenwürde als Prinzip bioethischer Reflexion

Bioethik setzt nicht aus sich selbst heraus neue Maßstäbe des ärztlichen Handelns und der medizinischen Forschung, sondern bezieht das für sie konstitutive Feld auf die ethischen und rechtlichen Grundlagen verantwortlichen menschlichen Handelns überhaupt. Es gibt darum keinen bioethischen Diskurs ohne die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Würde des Menschen als oberstem Prinzip moderner rechtsstaatlicher Verfassungen. Der Begriff der Menschenwürde ist in seinem Inhalt und seiner Tragweite für bioethische Prinzipien- und Entscheidungsfindung umstritten.

Wer allerdings die Bioethik gerade im Blick auf ihre politisch-rechtliche Regelungsbasis auf einen anderen Ausgangspunkt gründen will als auf den, der durch die weltweit herrschende und in der Logik des modernen Verfassungsstaates intrinsisch verankerte Bedeutung des Würdebegriffs gegeben ist, der trägt die Beweislast für die theoretische und praktische Leistungsfähigkeit seiner These. Solange ein mit dem der Menschenwürde in diesem Sinne konkurrenzfähiges Rechtfertigungsprinzip bioethischen Handelns nicht angegeben werden kann, gibt es gute Gründe, an den folgenden Kernaspekten der Begründung der Bioethik vom Gebot der Unantastbarkeit der Menschenwürde her festzuhalten.

Die prohibitorische Funktion des Würdebegriffs

"Würde" ist nicht die Bezeichnung für einzelne oder Gruppen von Eigenschaften oder Vermögen menschlicher Individuen. Würde ist zugleich charakterisierende wie mit konstituierende Benennung eines Verhältnisses, in das alle Angehörigen der menschlichen Gattung einbezogen sind, und zwar aufgrund kulturell und rechtlich geschaffener Strukturen ihrer gegenseitigen Anerkennung als vernünftig handlungs- und rechtfertigungsfähige Wesen. Das heißt, dass jedes menschliche Wesen, das zu bewusstem und rechtfertigungsfähigem Handeln fähig ist, seiner Würde nur gerecht wird, wenn es sich vor jedem anderen menschlichen Wesen zu rechtfertigen vermag – ungeachtet des aktuellen Entwicklungs- oder Bewusstseinszustands. Der Würdebegriff hat hierbei die fundamental prohibitorische (und als solche gerade für ihn als einen konstitutiv rechtlichen Begriff charakteristische) Funktion, zu verbieten und zu verhindern, dass Menschen sich die Entscheidung darüber anmaßen, ob andere Menschen zum Kreis derer gehören, vor denen man sich zu rechtfertigen hat oder nicht.

Würde ist also wesentlich ein Status, kein Verdienst: Sie kommt allen Wesen zu, die im spezifisch menschlichen Respektsverhältnis zueinander stehen, nicht weil oder insoweit sie dieses Verhältnis wahrzunehmen vermögen, sondern weil es sich als solches Verhältnis gerade und nur im umfassenden Respekt aller von ihm umfassten Wesen voreinander konstituiert. Nur so ist verständlich, was es heißt, dass die Würde "unantastbar" sei: Sie kann immer verletzt, aber dem verletzten Wesen durch die Verletzung gerade niemals genommen und auch nicht gemindert werden. Verlieren kann man die Würde nur als aktiv Handelnder, eben indem und insofern man die Würde derer, die man durch sein Handeln verletzt, nicht respektiert.

Definitions- und Instrumentalisierungsverbot

Konkret begründet der Würdebegriff daher theoretisch ein Definitions- und praktisch ein Instrumentalisierungsverbot im Verhältnis aller menschlichen Wesen zu ihresgleichen. Auch Heilungs- und Hilfshandlungen sind daraufhin zu prüfen, ob sie zu Lasten von menschlichen Personen gehen, die durch sie zum bloßen Mittel für die Zwecke derer gemacht werden, denen man hilft oder die man heilt. Wieder ist der Respekt vor der unbedingten Schutzbedürftigkeit des Lebens und die Achtung vor der Selbstzweckhaftigkeit des Daseins menschlicher Personen nicht Implikation vorausgesetzter positiver Bestimmungen, also auch nicht etwa einer religiös beschworenen "Heiligkeit" des Menschseins (wenngleich entsprechende religiöse oder sonstige weltanschauliche Überzeugungen natürlich eigene Fundierungen der Anerkennung des Würdeprinzips sein können), sondern Ausdruck der Legitimationslogik eines rechtlich konstituierten Systems humanen Zusammenlebens.

Wenn es die Logik unserer Rechtsgewährleistungen wesentlich verlangt, uns des Urteils über die Zugehörigkeit anderer menschlicher Wesen zum Rechtsverband der Personen im Unterschied zu den Sachen zu enthalten, müssen wir es der Natur überlassen zu entscheiden, wer zur Menschengattung gehört. Nicht weil unsere Gattung in irgend einem Sinne heilig wäre, haben wir Normen geschaffen, um ihre Integrität zu schützen, sondern umgekehrt: Weil und insofern wir unser Zusammenleben auf Normen gründen, die in abstrakter und prohibitorischer Weise unsere Integrität schützen, können wir zwischen den natürlichen Bedingungen unseres Daseins und der abstrakt allgemeinen Ordnung unseres Zusammenlebens keine selbst ernannte Zwischeninstanz dulden, die über die Zusammensetzung der Menschheit verfügungsbefugt wäre.

Unabwägbarkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde

Entscheidend für die Verknüpfung von ethischem und rechtlichem Aspekt des Würdeprinzips ist schließlich auch die folgende Abgrenzung. Auf der einen Seite stehen die Grundrechte, die auf den Schutz des Lebens und der Integrität von Personen gerichtet sind und die eine rechtsstaatliche Verfassung gewährleistet. Auf der anderen Seite jedoch die vorgesetzliche Fundierung dieser Grundrechte, die eben durch den Begriff der Menschenwürde impliziert und beansprucht wird.

Die ethische Begründungsleistung einer Rechtsordnung besteht auch und gerade im Zeichen des neuzeitlichen und bis heute tragenden Staatsverständnisses wesentlich in der Systematik, mit welcher es ihr gelingt, den vorgesetzlichen Grund der Gesetze in der Logik der Verfassung zu verankern. Und dies bedeutet, den Grund, auf den sich der Legitimitätsanspruch auch der rechtsstaatlichen Verfassung stützen muss, in der Verfassung, die ja selbst ein Gesetz ist, zur Geltung zu bringen. Wäre Menschenwürde ein Grundrecht, das gegen andere Grundrechte abzuwägen und im Wechselspiel mit ihnen zu konkretisieren wäre, dann könnte sie gerade diese vorgesetzliche, auch die Grundrechtsgewährleistungen noch tragende Öffnung des Verfassungsgesetzes für die Aufnahme seines eigenen Grundes in sich selbst nicht leisten. Demgegenüber war es über Jahrzehnte hinweg die Leitlinie der deutschen Staatsrechtslehre, die Menschenwürde als wertgebundene Verpflichtung des Inhalts und der Systematik der Grundrechte auf ihr ethisch legitimierendes Maß zu begreifen: nämlich im Hinblick auf die Selbstzweckhaftigkeit der menschlichen Person.

Wird Menschenwürde also so begriffen, dann geht es auch dort, wo sie zum ausschlaggebenden Gesichtspunkt konkreter Güterabwägungen wird, bei der Berufung auf sie immer um das Unabwägbare und Unteilbare im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu allen Wesen seinesgleichen. Diese zentrale Rolle nimmt die Menschenwürde aber gerade auch in der Bioethik ein. Sie kann nicht mit Rechten oder Gütern "kollidieren", sondern entscheidet über den Umgang mit den Problemen, die sich durch mögliche Grundrechtskollision stellen.

Bioethik und Bildung

Es kann nicht bestritten werden, dass alle wesentlichen Fragen der Bioethik umstritten sind und dass es als Folge der in diesem Streit eingetretenen Frontenbildung zu erheblichen Konflikten und Widersprüchen bei ihrer gesetzlichen Regelung auf nationaler wie internationaler Ebene gekommen ist und auf unabsehbare Zeit weiter kommen wird. Angesichts dieser Situation gibt es nur den Ausweg, bioethische Reflexion nicht auf den Punkt zu verschieben, an dem (von Ärzten, Patienten, Angehörigen, Kommissionen, dem Gesetzgeber etc.) unter Zeit- und Entscheidungsdruck gehandelt werden muss, sondern sie zu einem tragenden Bestandteil der Bildung und Ausbildung derjenigen zu machen, die im Berufsleben die konkrete Verantwortung für den Umgang mit den bioethischen Fragen wahrzunehmen haben.

Geboren 1957, studierte Philosophie, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Katholischen Theologie in Eichstätt und München. Seit Wintersemester 2000/2001 ist er Professor am Lehrstuhl für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Praktischen Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte u.a. Bioethik, Rechtsphilosophie und Theorie der Menschenrechte und Interkulturelle Philosophie.