Die Covid-19-Pandemie hat die Frage aufgeworfen, was zu tun ist, falls so viele schwer kranke Patienten in den Krankenhäusern ankommen sollten, dass die dort vorhandenen lebensrettenden Beatmungsgeräte, Intensivbetten oder Personalkapazitäten nicht mehr für alle ausreichen. Medienberichte aus Norditalien haben ein solches Knappheitsszenario im März 2020 einer breiten Öffentlichkeit plastisch vor Augen geführt. Die meisten Menschen scheinen intuitiv die Auffassung zu vertreten, dass lebensrettende Ressourcen in einer solch schrecklichen Situation möglichst effizient oder nutzenbringend eingesetzt werden sollten. Zugleich dürfte die Überzeugung, dass es dabei nicht zu Diskriminierungen bestimmter Personengruppen kommen sollte, weit verbreitet sein. Beide Ziele gleichzeitig zu erreichen, ist jedoch eine regulatorische Gratwanderung. Im Folgenden werden die verschiedenen Möglichkeiten einer Abwägung dieser beiden teils gegenläufigen Zielsetzungen für Szenarien dieser Art analysiert.
In lebensbedrohlichen Knappheitssituationen greifen Ärztinnen und Ärzte traditionellerweise auf eine sogenannte Triage zurück. Das Wort "Triage" geht auf das französische "trier" zurück und bedeutet "Sichten", "Auswählen" oder "Selektieren". Bei einer Triage teilen erfahrene Notfallmedizinerinnen und -mediziner die Hilfsbedürftigen in sogenannte Sichtungskategorien ein. In den etablierten Systemen gibt es dabei mindestens drei Kategorien: (a) Personen, denen sofort geholfen werden muss, um Schlimmeres zu verhindern, (b) Patientinnen und Patienten, deren Behandlung noch etwas aufgeschoben werden kann, und (c) Patientinnen und Patienten, bei denen eine Rettung angesichts der Lage aussichtslos erscheint und die daher nur noch eine symptomlindernde Behandlung erhalten sollen. Die Betroffenen werden dabei häufig mit Armbändern in unterschiedlichen Farben versehen, sodass alle an den Rettungsmaßnahmen Beteiligten möglichst schnell erfassen können, was als Nächstes zu geschehen hat.
Schon zu Beginn der COVID-19-Pandemie im März 2020 haben sich in Deutschland mehrere medizinische Fachgesellschaften zusammengetan – darunter insbesondere die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und auch die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) –, um den Intensivmedizinerinnen und -medizinern des Landes ein konkret auf diese Viruserkrankung zugeschnittenes Triage-System an die Hand zu geben. Auch in vielen anderen Ländern wurden solche Empfehlungen zusammengestellt oder bereits vorhandene Pandemiepläne wieder hervorgeholt. Einigkeit herrscht dabei in Bezug auf die Feststellung, dass in Knappheitsszenarien zunächst versucht werden sollte, die Ressourcen zu vergrößern, planbare Behandlungen zeitweilig zu verschieben und Verlegungen in weniger stark belastete Krankenhäuser zu forcieren. Damit soll erreicht werden, dass eine Triage, bei der ja manche Personen von einer kurativen Behandlung ausgeschlossen werden, erst als letztes Mittel zum Einsatz käme. Bei der konkreten Ausgestaltung eines Triage-Systems kann man auf unterschiedliche Formen der Effizienz oder des Nutzens abzielen. Dabei kommen insbesondere die folgenden Konzeptionen in Frage:
(i) eine Sicherung der größtmöglichen Anzahl zusätzlicher Lebensmonate und -jahre,
(ii) die Rettung der größtmöglichen Anzahl an Personen und
(iii) ein bloßes Sicherstellen, dass lediglich diejenigen bedürftigen Patientinnen und Patienten in den Genuss der Ressourcen kommen, die im Falle einer Behandlung eine gute Überlebensaussicht haben.
(i) Einige der 2020 konzipierten Systeme zielen auf die erste Option ab. Dazu gehört die Empfehlung der Italienischen Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI). Ein notorisches Problem bei dieser Option besteht darin, dass dabei insbesondere ältere Menschen zurückgestellt oder von der Behandlung ausgeschlossen werden müssen, da sie in der Regel weniger zusätzliche Lebensjahre vor sich haben als eine jüngere Person. Die italienische Stellungnahme besagt beispielsweise explizit, dass möglicherweise eine Altersgrenze gesetzt werden müsse und dass Personen favorisiert werden sollten, bei denen noch mehr Lebensjahre gerettet werden können.
Eine Zurücksetzung von älteren Menschen stellt die fundamentale Gleichwertigkeit aller Menschen in Frage, was das ethische Kernproblem solcher Regelungen ausmachen dürfte. Zudem können instrumentelle Gegenargumente angeführt werden, wie etwa der Umstand, dass dadurch das Solidaritätsgefühl in der Bevölkerung abnehmen könnte, Missgunst zwischen den Generationen gesät werden könnte, ältere Menschen in Angst versetzt werden oder ihr Vertrauen in Medizin und Politik verlieren könnten. Die deutschen Fachgesellschaften sehen in ihrer Empfehlung aufgrund dieser vielschichtigen Probleme keine Altersgrenzen bei einer möglichen Corona-Triage vor.
Doch es gibt auch Argumente, mit denen das Alter als Zuteilungskriterium gerechtfertigt werden könnte. Dazu gehören insbesondere das sogenannte Fair Innings-Argument, das vermutlich auf Daniel Callahan und John Harris zurückgeht, sowie der Prudential Life Span-Ansatz von Norman Daniels.
(ii) Eine zweite Option besteht darin, einer möglichst großen Anzahl von Bedürftigen zum Überstehen der Erkrankung zu verhelfen. Diese Möglichkeit ist das explizite Ziel in der Empfehlung der deutschen Fachgesellschaften
(iii) Man könnte sich jedoch auch mit einer noch bescheideneren Nutzenzielsetzung zufriedengeben, nämlich mit der bloßen Anforderung, dass nur solche Patientinnen und Patienten in den Genuss der knappen Ressourcen kommen sollten, bei denen tatsächlich eine realistische Chance auf einen Behandlungserfolg besteht. Diese Option wird manchmal von Autorinnen oder Autoren vorgeschlagen, die die Auffassung vertreten, dass bei der Zuteilung knapper, lebensrettender Ressourcen ausschließlich die Chancengleichheit aller Bedürftigen relevant sein darf und dass alle substantielleren Nutzenanforderungen diese Chancengleichheit von vorneherein gefährden.
Vorgeschlagen wird dabei gelegentlich, unter den Patientinnen und Patienten mit realistischen Erfolgsaussichten ein Zufallsverfahren, wie zum Beispiel eine Lotterie, darüber entscheiden zu lassen, wer zum Zuge kommen sollte. Ergänzend dazu wird mitunter angeregt, man solle die Patientinnen und Patienten strikt nach der Reihenfolge ihrer Ankunft im Krankenhaus versorgen; wobei angenommen wird, diese Reihenfolge sei derartig zufällig, dass sie dieselbe Funktion wie eine Lotterie habe. Wer eine solche Auffassung vertritt, muss sich dem Problem stellen, dass manche der ins Krankenhaus gebrachten Bedürftigen völlig aussichtslose Fälle sein könnten, die dann Ressourcen in Anspruch nehmen würden, mit denen jemand anderes gerettet werden könnte. Diesem Problem soll entgangen werden, indem man hinzufügt, dass nur denjenigen Kranken Chancengleichheit gewährt werden solle, bei denen eine hinreichend gute Aussicht darauf besteht, dass sie die Erkrankung durch die Behandlung überstehen werden.
Diese Möglichkeit kann – ähnlich wie auch die Option, die größtmögliche Anzahl an Menschen zu retten – die Frage aufwerfen, ob eine Zurückstellung aufgrund von Vorerkrankungen, die die Erfolgsaussicht der Behandlung gefährden, den Charakter einer Diskriminierung hat. Müsste man diese Frage bejahen, so bestünde ein ethisches Problem. Möglicherweise kann jedoch argumentiert werden, dass Benachteiligungen aufgrund medizinischer Eigenschaften ethisch nicht immer auf dieselbe Weise zu bewerten sind wie Diskriminierungen aufgrund von lebenslang bestehenden Eigenschaften wie etwa dem Geschlecht, der Hautfarbe oder einer Trisomie 21. Dann bleibt diese Variante aus ethischer Sicht wählbar – oder eben auch, wie es die deutschen Fachgesellschaften vertreten, die noch etwas nützlichere Option, die größtmögliche Anzahl an Personen zu retten.
In Bezug auf alle drei Optionen bleibt abschließend zu sagen, dass sie in Situationen, in denen man noch nicht sehr viel über eine neue Erkrankung weiß, zunächst einmal einen recht abstrakten Charakter haben. Solange keine Daten darüber vorliegen, welche konkreten medizinischen Eigenschaften die restliche Lebenserwartung, die prospektive Behandlungsdauer und die Überlebensaussichten bei Behandlung beeinflussen, können die Ärztinnen und Ärzte kaum direkt auf eine der drei diskutierten Optionen abzielen. Sie können dann lediglich auf allgemein bewährte, konkrete medizinische Kriterien zur Einschätzung von schlechten Erfolgsaussichten achten. So lohnt sich denn auch ein Blick auf die Liste derjenigen Eigenschaften, die die deutschen Fachgesellschaften für generell erfolgsgefährdend halten – und bei deren Vorliegen sie im Knappheitsfall nur noch eine palliative Behandlung vorsehen. Es handelt sich dabei um das Vorhandensein einer schweren anderweitigen Erkrankung, um chronisches oder schweres, fortgeschrittenes Organversagen (insbesondere des Herzens, der Lunge oder der Leber), um weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen, um weit fortgeschrittene Krebserkrankungen, um schwere und irreversible Formen von Immunschwäche sowie um Multimorbidität.
Die Empfehlung der deutschen Fachgesellschaften wurde wenige Tage nach der ersten Veröffentlichung auch vom Deutschen Ethikrat für vertretbar gehalten