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Standpunkt: Gleiches Recht für alle Schweine

Tanja Busse

/ 8 Minuten zu lesen

Unser Recht gesteht Tieren ganz unterschiedliche Ansprüche zu, je nachdem wie wir sie nutzen wollen. Es ist Zeit, die rechtlichen und ethischen Widersprüche aufzulösen und auszuhandeln, wie wir Tierrechte und Lebensmittelproduktion in Einklang bringen können, meint Tanja Busse.

Eine Sau mit Ferkeln (links) in der Massentierhaltung und ein Wildschwein mit Frischlingen in einem Wildpark (rechts). (© picture-alliance/dpa, Foto Links: Friso Gentsch; Foto rechts: SVEN SIMON)

Die Menschenrechte gelten für alle Menschen, so steht es im Grundgesetz. Alles andere würden wir als ungerecht empfinden. Bei den Tieren ist es nicht so. Sogar innerhalb der gleichen Art sind sie vor dem Gesetz nicht gleich. Unser Recht gesteht ihnen ganz unterschiedliche Ansprüche zu, je nachdem wie wir sie nutzen wollen. Zwei Schweine im Zoo haben ein Anrecht auf mindestens 60 Quadratmeter Platz und zwar mit Naturboden, Wühlplätzen, Suhlen und Scheuerbäumen. Schweine in der Landwirtschaft haben dagegen nur Anspruch auf die Fläche, die sie brauchen, um sich in natürlicher Körperhaltung gleichzeitig hinlegen können – je nach Größe ist das ein halber bis ein ganzer Quadratmeter. Das bedeutet: Zooschweine bekommen 30 Mal mehr Platz – und Möglichkeiten, nach Schweineart zu leben, also mit der Nase im Boden nach Futter zu wühlen und im Schlamm zu suhlen. Die Mastschweine bekommen das alles nicht, obwohl beide unter dem Schutz des gleichen Gesetzes stehen, nämlich des Tierschutzgesetzes. Nur verlangt das sogenannte Säugetiergutachten, das vom Bundeslandwirtschaftsministerium 2014 als "Orientierungshilfe für die Auslegung der allgemeinen Regelungen des Tierschutzgesetzes" für Zootiere vorgestellt wurde, eben viel Lebensraum für Schweine und die Tierschutznutztierhaltungsverordnung, die für Mastschweine gilt, eben nicht.

Ethisch ist das fragwürdig – und aus Sicht der Schweine schlicht ungerecht. Es gibt keine zoologischen Gründe für diese Unterschiede, nur historische und vor allem wirtschaftliche. Die Bedürfnisse der Hausschweine sind denen der Wildschweine sehr ähnlich. Dieser unaufgelöste Widerspruch führt zu gesellschaftlichen Spannungen.

Seit Hunderttausenden von Jahren jagen Menschen Tiere, um sich von ihnen zu ernähren, und seit ein paar Jahrtausenden halten Menschen Tiere in Gefangenschaft, um sie für sich arbeiten zu lassen und sie anschließend zu töten und zu essen. Tiere waren dabei gleichzeitig Gefährten und Gefangene des Menschen, sie wurden versorgt, vor Beutegreifern und Futterknappheit beschützt und doch ausgebeutet. Das Recht des Menschen, über Tiere verfügen zu können, wurde über viele Jahrhunderte kaum in Frage gestellt. In den letzten Jahrzehnten hat sich nun die Art, wie in Europa Milch, Fleisch, Eier, Getreide und Gemüse erzeugt werden, fundamental verändert. Die landwirtschaftliche Produktion in Europa soll – so die politische Vorgabe der EU seit 1992 – den Gesetzen der globalisierten Agrarmärkte folgen, nur abgefedert durch umfangreiche öffentliche Subventionen. Das heutige landwirtschaftliche System – moderne Landwirtschaft nennen es die einen, Agro-Industrie die anderen – beruht auf den Prinzipien der Industrie: Intensivierung, und Technisierung, Spezialisierung und Standardisierung. Um auf oder an den globalen Märkten konkurrenzfähig zu sein, müssen die landwirtschaftlichen Betriebe zu möglichst niedrigen Erzeugerpreisen liefern und das geht nur über Leistungssteigerung durch Effizienz. Aus dieser Perspektive können Rinder, Hühner und Schweine weniger als lebendige fühlende Wesen mit Bedürfnissen und Persönlichkeiten betrachtet werden, sie werden vielmehr zu Produktionseinheiten – so lernen es die angehenden Landwirte in den Berufsschulen.

Deutschland zählt heute zu den größten Exporteuren von Schweinefleisch weltweit. Mehr als die Hälfte der 2019 hier geschlachteten Tiere wurde exportiert, großenteils in andere EU-Länder und zu einem Drittel nach China. Das war nicht immer so: Bis vor wenigen Jahrzehnten lieferten die meisten Bauern ihre Tiere an den nächstgelegenen Schlachthof, Schnitzel und Koteletts wurden zum großen Teil in der Region verzehrt, in der die Schweine gelebt hatten. In den 2000er Jahren richtete sich die deutsche Schweinefleisch-Industrie mehr und mehr auf den Export aus. Während viele kleine Schlachthöfe feste Mitarbeiter zu Tariflöhnen beschäftigen, setzten die großen Schlachtkonzerne auf Werkverträge mit schlecht bezahlten Arbeitern aus Osteuropa. Dadurch konnten sie billiger schlachten als die kleineren Betriebe, die sie nach und nach verdrängten. Heute dominieren drei große Konzerne den Markt, Tönnies, Vion und Westfleisch. Auch gegenüber den Landwirten nutzen sie ihre Marktmacht und diktieren genaue Anforderungen. Sie verlangen möglichst große Partien möglichst gleich schwerer Schweine, sodass auch große Schweinemastbetriebe gegenüber den kleinen Höfen im Vorteil sind. Die Landwirte erleben dabei, wie unterschiedliche nationale Standards die Wettbewerbsbedingungen auf den Weltmärkten verzerren: Schweinemäster in North Carolina, einer der Hochburgen der US-amerikanischen Fleischindustrie, pumpen die Gülle ihrer Tiere in riesige offene Becken neben den Ställen, von wo aus sie bei Hurrikanen in die anliegenden Gewässer fließen – mit desaströsen Umweltfolgen. Die deutschen Schweinemäster dagegen müssen ihre Gülle so entsorgen, dass die Böden alle Nährstoffe aufnehmen können und kein Nitrat ins Grundwasser gelangt. Das ist in den viehdichten Regionen im Nordwesten Deutschlands nicht gelungen; hier gelangt also zu viel Nitrat ins Grundwasser. Dennoch ist – um in der Sprache der ökonomische Effizienz zu bleiben – die Verteilung der Gülle für die Landwirte in Deutschland ein erheblich teurerer Kostenfaktor als für ihre amerikanischen Kollegen.

Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Standards: Nach langem Ringen ist es in Deutschland ab dem 1. Januar 2021 verboten, Ferkel ohne Betäubung zu kastrieren. Ab dann müssen die Landwirte ihre Tiere vor der Kastration so betäuben, dass sie keinen Schmerz empfinden, während die Nachbarländer Dänemark und Niederlande nur eine Schmerzlinderung verlangen, die wesentlich günstiger ist. Die deutschen Sauenhalter*innen geraten deswegen nun in Schwierigkeiten, weil ihre dänischen und niederländischen Kolleg*innen günstigere Ferkel an die deutschen Mastbetriebe anbieten als sie. Dieser enorme Preis- und Effizienzdruck beherrscht den Alltag auf den landwirtschaftlichen Betrieben.

Dieses neue System hat beinahe überall in Europa die kleinen Bauernhöfe verdrängt und damit auch die alte bäuerliche Ökonomie, die auf Vielfalt, Langfristigkeit und geschlossene Kreisläufe setzte. Die Vielfalt war eine Art Ernteversicherung: Vertrockneten die Bohnen, gab es immerhin noch Erbsen. Als gutes bäuerliches Wirtschaften galt es, eine Ernte auf dem Feld zu haben, eine in der Scheune und eine auf der Bank, das war das angewandte Vorsorgeprinzip für Krisenzeiten. Heute ist es dagegen üblich, Investitionen in neue Ställe und Maschinen über Kredite zu finanzieren und diese über sehr lange Zeit abzubezahlen, bis zu 30 Jahre lang. Bei den ständig schwankenden und oft viel zu niedrigen Erzeugerpreisen ist das eine riskante Rechnung.

Die Profiteure dieser Entwicklung erzählen die Agrargeschichte der letzten Jahrzehnte gerne als beispiellose Erfolgsgeschichte. Sie halten eine Laudatio auf den technischen Fortschritt und preisen die Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft. Das System gilt ihnen als alternativlos, weil wir Konsumenten unsere Lebensmittel so billig wie möglich haben wollen; weil es die deutschen Landwirte weltmarktfähig macht und weil bald acht, neun oder sogar zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, die ernährt werden müssen. In diesem System werden Schweine so gezüchtet und gefüttert, dass sie so schnell wie möglich wachsen und schlachtreif werden. Eine Rücksichtnahme auf die besonderen Bedürfnisse der Art ist dabei nicht vorgesehen. Die hohe Leistung der Tiere – Milchmenge, Ferkel, Fleischzunahme – gilt den Landwirt*innen als Beleg für die Gesundheit der Tiere im Stall. Sie vergleichen das Leben ihrer Kühe oder Schweine nicht mit Haustieren von heute, sondern mit den Stalltieren von früher und schauen dabei vor allem auf die Verbesserungen.

Für die Konsument*innen waren diese Veränderungen beinahe unsichtbar. Vielen Stadtbewohner*innen wird kaum aufgefallen sein, dass immer weniger Tiere draußen auf den Weiden zu sehen sind und kleine landwirtschaftliche Betriebe und regionale Schlachthöfe geschlossen werden. Nur den Autofahrer*innen dürfte aufgefallen sein, wie viele Viehtransporter auf den Autobahnen im Nordosten Deutschlands unterwegs sind. Die Nähe zwischen Produzenten und Konsumenten ist verlorengegangen. Die Landwirte – zu Rohstofflieferanten einer globalisierten Industrie degradiert – haben den Kontakt zu ihren End-Kunden, den Konsumenten verloren. Dabei ist auch der Austausch über die jeweiligen Werte und Erwartungen gekappt worden.

Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Sicht auf Tiere und die Frage, wie wir mit ihnen umgehen sollten, stark verändert. Die Bedürfnisse von Tieren sind in den Vordergrund gerückt, der Primat des Menschen wird immer öfter in Frage gestellt. Während, grob vereinfacht, Landwirte so günstig wie möglich so viele Kalorien wie möglich erzeugen sollen, ernennen die urbanen Mittelschichten ihre Haustiere zu ebenbürtigen Gefährten (während viele gleichzeitig Fleisch und Milchprodukte so billig wie möglich kaufen). Diese gegenläufigen Entwicklungen haben zu enormen Konflikten in der Landwirtschaft geführt. Viele Konsument*innen scheinen gut mit ihrem widersprüchlichen Verhalten zu leben (Hunde streicheln, Schweine essen), doch viele Landwirt*innen leiden an den Vorwürfen einer kritischen Öffentlichkeit, die ihre Geschäftsmodelle in Frage stellt. Die unterschiedlichen Wertesysteme stehen dabei unversöhnlich nebeneinander.

Der Export des deutschen Schweinefleischs war viele Jahre lang ein wirtschaftliches Erfolgsmodell, zumindest für die großen Schlachthöfe. Die Kritik an den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Schlacht- und Zerlegebetrieben und den Umweltfolgen der hohen Schweinebestände prallte jahrelang an ihnen ab, bis die Corona-Ausbrüche in mehreren Schlachthöfen im Sommer 2020 die Fließbänder stoppten. Dabei gerieten die Missstände auf den Schlachthöfen ins Licht der Öffentlichkeit. Inzwischen wird weiter geschlachtet, jedoch mit reduzierter Kapazität. Beinahe gleichzeitig erkrankten erste Wildschweine in Deutschland an der gefürchteten "Afrikanischen Schweinepest", die sich von Osten aus immer weiter ausgebreitet hatte. Diese Krankheit ist für Menschen ungefährlich, aber für Schweine oft tödlich. Seitdem hat China die Grenzen für Schweinefleisch aus Deutschland geschlossen und damit ist ein wichtiger Abnehmer verlorengegangen.

Aus diesem Grund befinden sich die Ferkelerzeuger und Schweinemäster in einer Ausnahmesituation, die alle Risiken und Widersprüche einer globalisierten Wirtschaft offenlegt: Weil die Schlachthöfe nicht mit voller Auslastung arbeiten, können immer mehr Schweine nicht zum geplanten Zeitpunkt geschlachtet werden. Aber auf Verzögerungen ist das effizienz-optimierte System nicht ausgerichtet. Die schlachtreifen Schweine werden schnell zu groß für ihre Buchten, die sie aber räumen müssen, weil der Platz dringend für die neuen jungen Mastschweine gebraucht wird, die ihrerseits ihre Ställe an die neu abgesetzten Ferkel weitergeben. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Sorgen und weitere Auflagen. In dieser angespannten Situation haben Tierrechtler Anfang November einen Schlachthof in Kellinghusen in Schleswig-Holstein besetzt, vor dem sich die vollgeladenen Viehtransporter stauten. Eine aufgebrachte Tierrechtlerin schleuderte den Landwirt*innen entgegen: "Ihr seid für mich keine Menschen", während ein Landwirt die Polizei bat, Pause zu machen, damit er und seine Berufskollegen mitsamt ihren Schleppern die Sache klären könnten. Dieser Zusammenprall der Werte ist der vorläufige Tiefpunkt eines gesellschaftlichen Streites, der vermeidbar gewesen wäre. Die tiefe Spaltung wurde verursacht durch eine Politik, die es versäumt, die rechtlichen und ethischen Widersprüche aufzulösen und gesellschaftlich auszuhandeln, wie Rechte für Tiere und Lebensmittelproduktion in Einklang gebracht werden können.

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Dr. Tanja Busse, geboren 1970, studierte Journalistik und Philosophie in Dortmund, Bochum und Pisa, volontierte beim Westdeutschen Rundfunk und war Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Sie ist freiberufliche Moderatorin, Autorin und Journalistin, unter anderem für die Süddeutsche, Die Zeit, den Freitag und moderiert Diskussionen und Konferenzen zu den Themen Landwirtschaft, Nachhaltigkeit, Ernährung, Ökologie, Ressourceneffizienz. 2015 erschien ihr Buch "Die Wegwerfkuh" im Blessing Verlag München, 2019 "Das Sterben der anderen. Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können".