Die Gesellschaft ist verletzlich und Menschen sind aufeinander angewiesen. Diese Tatsache ist vielen bewusst geworden in der ersten Zeit der Konfrontation mit der Corona-Pandemie. Sie hat sich ausgedrückt in persönlichen und politischen Gesten der Wertschätzung und Anerkennung für diejenigen, die sorgende Tätigkeiten übernehmen. Dabei gerieten zum einen die in den Blick, die Sorge für das Wohl aller tragen (also z.B. die Tätigen in der Landwirtschaft, dem Lebensmitteleinzelhandel oder der Müllbeseitigung), zum anderen – und insbesondere – diejenigen, die beruflich Verantwortung im Generationenverhältnis und/oder für die Schwachen bzw. die Erkrankten in der Gesellschaft übernehmen, z.B. als Erzieher*innen oder Pflegende. Zudem wurden die Belastungsgrenzen von Menschen thematisiert, die innerhalb der Familie Verantwortung für Kinder oder/und hilfebedürftige (ältere) Angehörige übernehmen. Die öffentliche Wertschätzung durch die gesamtgesellschaftliche Anerkennung sorgender Tätigkeiten als "systemrelevant" war angemessen, aber nicht hinreichend. Denn durch die Corona-Pandemie ist wie unter einem Brennglas sichtbar geworden: Die Missstände in den Bereichen der fürsorgenden Verantwortungsübernahme und Sorgetätigkeit sind eklatant. Sozialpolitik sollte deshalb andere Akzente setzen. Gleichzeitig bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Debatte über unser Für- und Miteinander.
Dabei geht es nicht nur um Fragen der Ressourcen- und Lohngerechtigkeit, wie sie bereits jetzt im Kontext der Corona-Pandemie in einer breiten öffentlichen Debatte gestellt werden, wenn die relativ geringe Entlohnung der professionell Sorgetätigen thematisiert wird. Es wird auch darum gehen, die ethisch begründeten Praktiken und Haltungen innerhalb der Gesellschaft in einen Begründungszusammenhang zu integrieren. Man denke beispielsweise an die große gesellschaftliche Akzeptanz der krisenbedingten Einschränkung individueller Grundrechte und die relative Einhelligkeit bei der Ablehnung utilitaristischer Positionen, die das Leben älterer Menschen und spezifischer Risikogruppen zugunsten einer so genannten Herdenimmunität gefährden.
Die coronabedingte Krise hat zudem zu einer neuen Aufmerksamkeit geführt für die Bedeutung von Beziehungen und Bindungen, und zwar nicht ausschließlich im persönlichen Bereich. Gleichzeitig macht sie uns unsere Angewiesenheit und menschliche Verletzlichkeit durch unethisches Handeln anderer unmissverständlich klar: drastisch angesichts von bislang politisch kaum gebremsten Profitinteressen, die direkt in menschenverachtenden Praktiken münden, wie sie beispielsweise (aber nicht nur) in der Fleischindustrie "perfektioniert" werden. Dabei ist anzumerken, dass gerade an diesem Beispiel während der Corona-Pandemie deutlich wurde, dass die Missachtung ethischer Standards letztlich nicht begrenzbar ist, also z.B. nicht auf einzelne ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen beschränkt bleibt, sondern zu einer sehr direkten Bedrohung für alle werden kann. Diese Bedrohung aller zeigte sich auch an dem Umstand unzureichender oder fehlender Schutzkleidung für professionell Pflegende in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten sowie für pädagogische Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe infolge von Fehlplanungen auf Basis betriebswirtschaftlicher Steuerung und marktwirtschaftlichen Kalküls. Das überproportional hohe Risiko, dem zunächst diese Personengruppen ausgesetzt waren und sind, wirkt sich (potentiell) auf alle aus. Dass in diesen Bereichen ebenso wie in der Familie vorrangig Frauen Sorgetätigkeiten übernehmen und mit entsprechenden Risiken und Belastungen konfrontiert sind – und auch das ist im Kontext der Maßnahmen infolge der Pandemie unübersehbar geworden –, verweist zugleich auf bislang nicht hinreichend geklärte Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Die ethischen Fragen, die mit den persönlichen Alltagserfahrungen verknüpft sind, werden in wissenschaftlichen und politischen Diskursen thematisiert. In besonderer Weise ist unter den Bedingungen der Corona-Pandemie wahrnehmbar, wie ‚alltagsnah‘ ein gesellschaftspolitisch relevanter und damit hochsensibler akademischer Diskurs sein kann.
Wo es um die Übernahme gegenseitiger Verantwortung geht, muss man sich über ihre Akzeptanz, ihr ethisches Fundament und ihren Rahmen verständigen. Wie fragil diese sind, wurde in der aktuellen Krise offenkundig. Orientierung bietet hier der Maßstab der Gerechtigkeit als Grundsatz des staatlichen und sozialen Handelns im Kontext wechselseitiger Anerkennungsbeziehungen, der Gerechtigkeit sowohl in Beziehung zur Solidarität als auch zur familialen und gemeinschaftlichen Sorge setzt. Insbesondere in Bezug auf das Generationenverhältnis ist diese als Anerkennungsform asymmetrisch. Hierzu kann zunächst auf Honneths Überlegungen zur asymmetrischen Fürsorge zurückgegriffen werden, um diese Begriffe und Zusammenhänge ein wenig zu erläutern. Explizit würdigt auch die abschließend berücksichtigte Care-Debatte die existentielle Angewiesenheit jedes Menschen auf konkrete und unmittelbare Fürsorge und betont die Anerkennung einer potentiellen lebenslangen (körperbezogenen, emotionalen und/oder sozialen) Verletzlichkeit oder Hilfebedürftigkeit. Sie verbindet die ethische Dimension der Anerkennung mit der Fürsorge als soziale Praxis. Dadurch wird die Einbeziehung von Aspekten der Geschlechtergerechtigkeit im Kontext der Übernahme von Sorgetätigkeiten möglich.
Honneths Überlegungen zur asymmetrischen Fürsorge
Für Axel Honneth (1998) ist die Hilfebedürftigkeit konstitutiver Ausdruck des Menschlichen. In Anlehnung an die Objektbeziehungstheorie geht Honneth prinzipiell davon aus, dass das ethische Fundament des Verhältnisses zwischen Selbst und Sozialem in der Erfahrung der primären Anerkennung des Kindes durch seine Eltern liegt. Honneth argumentiert, dass Formen emotional-fürsorglicher Aufmerksamkeit – auch wenn deren existentiell umfassender Charakter in der frühkindlichen Phase zum Tragen kommt – lebenslang bedeutsam bleiben. Er diskutiert die (körperliche) Fürsorge und die emotionale Zuwendung in direktem Zusammenhang zum Selbstvertrauen: Die Erfahrung von Beziehung schaffe und erhalte ein Bewusstsein des Selbst, die Erfahrung emotional naher Fürsorge schaffe und erhalte das Selbstvertrauen. Ohne diese Erfahrungen seien Würde und Selbstverwirklichung nicht vorstellbar. In dieser Vorstellung von Würde verbinden sich die Prinzipien Anerkennung und Gerechtigkeit, wobei Honneth (2000) Ideen zur asymmetrischen Anerkennungsform der Fürsorge entwickelt:
Die Muster der Anerkennung nach Honneth
Honneth geht davon aus, dass sich menschliche Identität durch einen stufenweisen "Kampf um Anerkennung" entwickle. Dieser Kampf um Anerkennung führe im sozialen Leben zu "moralischen Spannungen", die sich "allmählich zu einem Zustand kommunikativ gelebter Freiheit" auflösen (Honneth 1998: 11). Die Logik der Anerkennung ergebe sich aus einer inneren Dynamik heraus. Weil Menschen durch die Anerkennung anderer stets eine neue Dimension ihres Wesens erfahren, müssten sie die Beziehung "auch auf konflikthafte Weise wieder verlassen, um gewissermaßen zur Anerkennung einer anspruchsvolleren Gestalt ihrer Individualität zu gelangen" (Honneth 1998: 31). Im Konflikt selbst werde darauf abgezielt, die Unverletzlichkeit der eigenen Person zu erhalten, indem versucht werde, das Gegenüber "von der Anerkennungswürdigkeit ihrer eigenen Persönlichkeit zu überzeugen" (Honneth 1998: 41). Anerkennung entsteht demnach prozesshaft durch Konflikt und Versöhnung, wobei der moralisch motivierte Kampf um Anerkennung die Intersubjektivität intensiviert und in einer höherstufigen Anerkennungsbeziehung mündet.
Als erste Anerkennungsform nennt Honneth (1998: 153ff) die Liebe, die immer auf ein direktes Gegenüber und damit auf Gegenseitigkeit angewiesen, aber nicht immer gerecht sei, was insbesondere im Verhältnis fürsorglicher Eltern gegenüber dem abhängigen Kleinkind deutlich werde. Die Liebe stelle lebensgeschichtlich die erste und damit grundsätzliche Form von Anerkennung dar. Insofern liegt das Erleben von Fürsorglichkeit vor der Erfahrung von Gerechtigkeit. Liebe und Fürsorge ermöglichen erst die Entwicklung von grundlegendem Selbstvertrauen und sind Voraussetzung für alle weiteren positiven Formen der Anerkennung. Da sich liebende Fürsorge jedoch auf einen eingeschränkten Kreis sehr nahestehender Menschen beschränke, sei sie kein allgemeines Prinzip des Umgangs.
Das zweite Muster der Anerkennung ist dem Bereich des Rechts zugeordnet (Honneth 1998: 177ff). Die rechtliche Anerkennung als gleichberechtigter Träger von Rechten in Abgrenzung zur Missachtung (durch Entrechtung bzw. soziale Ausschließung) sei für die Entwicklung von Selbstachtung konstitutiv. Das Rechtsverhältnis sei weder – wie das liebende Anerkennungsverhältnis – auf wenige Personen begrenzt, noch würden spezifische Eigenschaften anderer wertgeschätzt. In der Rechtsbeziehung wird das einzelne Subjekt aus einer universellen Perspektive anerkannt: Nicht Sympathie, sondern die Erfüllung normativer Erwartungen und Pflichten entscheiden über die rechtliche Anerkennung. Die Einzelnen könnten sich als Personen betrachten, die mit allen anderen Mitgliedern eines Gemeinwesens gewisse Eigenschaften des moralisch Handelnden teilen würden. Damit sei jedem Rechtsverhältnis eine gegenseitige Anerkennung immanent.
Als dritten Typus der Anerkennung nennt Honneth (1998: 198ff) die Solidarität als die Zustimmung, Ermutigung und Wertschätzung hinsichtlich individuell entwickelter Fähigkeiten und Lebensweisen. Indem erst die positive Beurteilung durch andere den eigenen Leistungen und den individuellen Besonderheiten allgemeine Bedeutung und Wertschätzung verleihen könne, bilde diese Form der Anerkennung die Voraussetzung der Selbstschätzung. Honneth unterscheidet soziale Wertschätzung vom Rechtsverhältnis insofern, als die Person nicht als generalisiertes Subjekt, sondern wegen ihrer Beiträge zur Verwirklichung gesellschaftlicher Zielsetzungen anerkannt wird und verbindet damit Wertschätzung mit der Existenz eines intersubjektiv geteilten Wertehorizontes. Der Solidarität wohnt "ein Prinzip der egalitären Differenz" inne, die auf symmetrischer Wertschätzung basiere, was heiße,
"sich reziprok im Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. Beziehungen solcher Art sind solidarisch zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken: denn nur in dem Maße, in dem ich dafür Sorge trage, dass sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die gemeinsamen Ziele zu verwirklichen" (Honneth 1998: 209f).
Die drei Anerkennungsmuster Liebe, Recht und Solidarität begreift Honneth als Grundlage der Sittlichkeit, die genannten Formen der Anerkennung bilden ihm zufolge den Rahmen, in dem sich Menschen ihrer Würde und Integrität sicher sein können: In der Erfahrung der Liebe entstehe Selbstvertrauen, durch rechtliche Anerkennung Selbstachtung und im Erleben von Solidarität könne der Mensch sich selbst schätzen (Honneth 1998: 277f). Ohne Selbstvertrauen, rechtlich gewährte Autonomie und Sicherheit über den Wert der eigenen Fähigkeiten sei Selbstverwirklichung dagegen nicht vorstellbar. Erst durch Anerkennung, Toleranz und Respekt werde eine Gesellschaft zu einer demokratischen Gesellschaft. Entsprechend müsse eine Gesellschaftsmoral neben dem Ziel der Gerechtigkeit, die in erster Linie als Gleichbehandlung verstanden werde, auch Prinzipien der Anerkennung integrieren.
Die Gestaltung familialer Generationenbeziehungen lässt sich mit Honneth als ethisch begründete Praxis darstellen, die weder utilitaristisch motiviert, noch auf einen naturhaften Kern reduzierbar ist. Damit wird die anerkennungstheoretische Argumentation für die gesellschaftlich höchst sensible Debatte um die Zukunft familialer Generationenbeziehungen relevant, die hier lediglich in Stichworten umrissen wird. Seit den 1990er Jahren intensiv debattiert wird in diesem Zusammenhang, dass demographischer Wandel und Modernisierungsprozesse Fragen der Generationensolidarität auf gesellschaftlicher Ebene betreffen, z.B. hinsichtlich des Verhältnisses von Rechtsstaat und Sozialstaat. Und sie schaffen Verunsicherung beim Zusammenleben der Generationen in den Familien selbst (vgl. Kunstmann 2010). Der Diskurs zum Verhältnis von Modernisierung und Familie ist im deutschsprachigen Raum insbesondere durch die von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in den 1990er Jahren formulierten Analysen geprägt, die vor allem negative Konsequenzen der Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse für die Familie annehmen (z.B. Beck/ Beck-Gernsheim 1990, 1994). Traditionelle Lebensformen, die eine Stabilität familialer Beziehungen gewährleistet hätten, werden nach Beck zunehmend ersetzt durch wenig stabile Formen des Zusammenlebens. Dadurch würden vormals verbindliche Versorgungszusammenhänge zwar flexibler, vor allem aber fragiler und fragwürdiger: Familiale Beziehungen gerieten zu einer Art "Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf" (Beck 1986: 208).
Aus strukturellen Veränderungen der Familie werden in dieser Argumentation direkt negative Konsequenzen für zwischenmenschliche Beziehungen abgeleitet im Sinne verminderter solidarischer Bindungen zwischen Familienmitgliedern. Dabei werden zumeist einseitig einzelne Modernisierungsdimensionen berücksichtigt und diese wiederum vor allem im Hinblick auf Risiken thematisiert (vgl. Kunstmann 2010). Diese Theorie vernachlässigt damit nicht nur die ethischen und emotionalen Dimensionen des generativen Zusammenlebens in Familien, sie ist zudem auch empirisch nicht gestützt.
Gleichwohl zeigt sich insbesondere mit Blick auf die familiale Fürsorge, die nach wie vor überwiegend von Frauen übernommen wird, wie eng traditioneller Generationen- und Geschlechtervertrag miteinander verknüpft sind. In der modernisierungstheoretischen Debatte wird hierzu postuliert, Veränderungen der Geschlechterrollen und des Geschlechterverhältnisses im Kontext zunehmender Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen würden zu einem Wandel der weiblichen Normalbiografie führen, insbesondere im Sinne einer weiter zunehmenden Berufsorientierung bei Frauen. Angesichts der relativen Unvereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienverantwortung sei deshalb zu erwarten, dass sich nicht nur deren Bereitschaft zur Übernahme von Fürsorgeverantwortung verringere, sondern auch die Möglichkeiten der Verantwortungsübernahme begrenzt seien. In dieser Argumentation leitet sich aus der Erosion traditioneller Geschlechterrollen direkt eine Erosion der Generationenbeziehungen ab, weil Generationenfürsorge primär als Tradition bzw. als Ausdruck traditioneller Lebensverhältnisse verstanden wird. Letztlich liegt dem die Vorstellung zugrunde, nur traditionelle familiale Verhältnisse seien geeignet, die Generationenfürsorge sicherzustellen. Die Ethik der Generationenbeziehungen wird als vorrangig institutionell verankert interpretiert. Modernisierungsbedingte Veränderungen werden nicht als Zugewinn von Freiheit und Gerechtigkeit, sondern einseitig als Ausdruck der Krise interpretiert.
Die Care-Debatte
Der Begriff Care fasst private und/oder erwerbsförmige Tätigkeiten der Sorge bzw. Fürsorge für andere zusammen. Dazu gehören Tätigkeiten wie Zuwenden, Versorgen, Betreuen, Erziehen, Pflegen und Unterstützen anderer, aber auch die Selbst(für)sorge. Care bezieht alle Bereiche von Sorgetätigkeiten sowie die emotionale Dimension des Umsorgens und Sorgetragens als ethischen Anspruch und als zwischenmenschliche Haltung ein. Basis der Care-Debatte ist die Anerkennung einer potentiellen lebenslangen (körperbezogenen, emotionalen und/oder sozialen) Verletzlichkeit oder Hilfebedürftigkeit. "Sorgen", so Brückner (2009), ist die Konsequenz menschlicher Abhängigkeiten im Lebensverlauf oder in besonderen Lebenssituationen. Dabei beziehen sich die Debatten um Care jedoch nicht ausschließlich oder vorrangig auf private Lebenszusammenhänge. Konflikte im Kontext von Care werden entsprechend nicht als Privatangelegenheit verstanden, sondern wegen ihrer Relevanz für das Gemeinwohl wird Care als gesellschaftliche Aufgabe aufgefasst, die folglich einer (gesellschafts)politischen Rahmung bedarf. Tronto (2000) spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise von der "Demokratie als fürsorgliche Praxis". Die bislang mangelnde Anerkennung von Sorgetätigkeiten in Deutschland, so argumentiert Brückner (2009) daran anknüpfend, verweise auf einen unvollständigen Demokratisierungsprozess (vgl. Kunstmann 2021).
Unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen führen die Care-Debatte, mit variierenden Erkenntnisinteressen und Akzentuierungen. Trotz ihrer zahlreichen Facetten ist den Diskussionen zum einen gemeinsam, dass unter Care eine Haltung der Verantwortlichkeit und eine fürsorgliche Praxis zu verstehen ist. Allerdings werden dabei die verschiedenen Facetten des Care-Begriffs in unterschiedlicher Weise berücksichtigt. Auch ist im Moment in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung offen, ob z.B. von "Care- bzw. Fürsorge-Arbeit" zu sprechen ist, um die Relevanz dieser gesellschaftlich und politisch vernachlässigten Leistung im Vergleich zur Lohnarbeit zu betonen, oder ob Begriffe wie z.B. "Care- bzw. Sorge-Tätigkeit" zu nutzen sind, um z.B. deren ethische Dimension und/oder eine Abgrenzung zu den Maßstäben des Arbeitsmarktes hervorzuheben. Unabhängig von der jeweiligen Perspektive auf Care wird Fürsorglichkeit und Beziehungsarbeit als Basis eines guten Lebens bewertet. Zum anderen werden ethische und sozialpolitische Fragen in der Care-Debatte als miteinander verbunden diskutiert. Vor allem Nussbaum (2002, 2014) macht Care zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Gerechtigkeit. Sie würdigt damit die Phasen extremer und asymmetrischer Abhängigkeiten im Leben: "(...) jede reale Gesellschaft ist eine fürsorgespendende und eine fürsorgeempfangende Gesellschaft und muss daher Wege finden, um mit diesen Fakten menschlicher Bedürftigkeit und Abhängigkeit klarzukommen, Wege, die vereinbar sind mit der Selbstachtung der Fürsorgeempfänger und die den Fürsorgespender nicht ausbeuten" (Nussbaum 2003: 183).
Nussbaum leitet aus dieser Prämisse nicht lediglich die Anforderung ab, das kulturelle Bild bindungsloser Unabhängigkeit zu revidieren. Sie hält darüber hinaus eine Erweiterung des Produktivitätsbegriffs sowie die Abkehr von einem ausschließlich auf der Vorstellung reziproker Austauschprozesse und Beziehungen beruhenden Denkens für unabdingbar. Brückner (2009) plädiert analog dafür, dass "Sorgen als gesellschaftliche und zwischenmenschliche Aufgabe nur verstanden werden kann, wenn die bisher eher getrennt wahrgenommenen sozialpolitischen und handlungsbezogenen Aspekte des Sorgens im Kontext gesellschaftlicher Strukturen zusammen gedacht werden", und führt weiter aus, "dass sich eine Kultur des Sorgens, die diesen Namen auch verdient, nur dann entwickeln kann, wenn sie als unabdingbarer Teil des demokratischen, einschließlich geschlechterdemokratischen Projektes gesehen wird" (Brückner 2009: 19). Die Kultur des Sorgens habe, insofern Sorgetätigkeiten traditionell Frauen zugeschrieben würden, einen engen Bezug zur Konstruktion des Geschlechterverhältnisses: Nicht nur werde Care weitgehend der privaten Sphäre und damit den Frauen zugewiesen, auch würden Angewiesenheit bzw. Abhängigkeit in patriarchal strukturierten Gesellschaften negativ bewertet, da sie dem traditionellen Ideal männlicher Unabhängigkeit entgegenstünden. Damit verbunden sei auch eine mangelnde Anerkennung der weiblich konnotierten Sorgearbeit: "Im sozialen Leitbild für eine effektive Lebensführung", so Eckart (2016: 3) dominieren vielmehr die "Maßstäbe der Arbeitsmarkt-Individualisierung, der Selbstoptimierung und der ungebundenen Arbeitsmonade". Beide Autorinnen betonen, einerseits suggeriere die weitgehende Ausgrenzung des Sorgens aus der öffentlichen Sphäre eine ‚Naturhaftigkeit‘ des Sorgens, andererseits marginalisiere und entwerte der öffentliche Diskurs die Sorge und die Sorgenden.
Ausblick
Mit Beginn der Corona-Pandemie trat die Bedeutung von Sorgetätigkeit angesichts der – wenn auch in den verschiedenen Personengruppen ungleich ausgeprägten – Verletzlichkeit und Angewiesenheit aller in den Vordergrund. Durch die Maßnahmen zur Begrenzung der Pandemie traten die familialen und erwerbsmäßigen Sorgetätigkeiten zudem kurzfristig partiell aus ihrer Unsichtbarkeit und Marginalisierung heraus. Gleichwohl sind die Folgen der Corona-Pandemie im Care-Bereich nicht überraschend. Bereits 2013 hat eine Initiative von Wissenschaftler*innen auf die Care-Krise, die sich in unterschiedlichen Facetten in Familien, im Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegebereich sowie in der Sozialen Arbeit zeigt, in einem so genannten Care-Manifest aufmerksam gemacht (care-macht-mehr.com). Aktuell legt diese Initiativgruppe ein Positionspapier vor, in dem – unter Bezugnahme auf die Corona-Pandemie – zentrale Probleme im Kontext der Care-Krise benannt und Ziele einer solidarischen Organisation von Care formuliert sowie Arbeitspakete zu deren Umsetzung skizziert werden. Zentral ist auch hier die Annahme, "dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit" (Thiessen et al 2020). Im Weiteren wird es darum gehen, familiale und erwerbsmäßige Sorge in ihrer systemrelevanten, also gesellschaftstragenden Bedeutung, anzuerkennen und aufzuwerten. Ein oberflächlich angewandter Utilitarismus und/oder ein funktionales Denken sind demgegenüber als ideologisch verkürzt zurückzuweisen, weil ethische Aspekte der menschlichen Würde und des Personenseins weitgehend vernachlässigt und zudem strukturell ungerechte Bedingungen der Fürsorge institutionalisiert würden (vgl. Kunstmann 2010). Die Care-Debatte bietet einen Interpretationsrahmen familialer und erwerbsmäßiger Sorgearbeit an, durch den Fürsorglichkeit und Solidarität als Ausdruck emotionaler Bindung und ethischer Praxis verstehbar werden, ohne Fragen der Gerechtigkeit auszuklammern, weder auf familialer noch auf gesellschaftlicher Ebene. Sie ermöglicht es insbesondere, die Kultur des Sorgens mit engem Bezug zur Konstruktion des Geschlechterverhältnisses zu reflektieren. Daran anknüpfend sind (sozial-)politische Rahmenbedingungen zu etablieren, die – auch in Krisenzeiten – die Sorge füreinander sichern und als gemeinsame Aufgabe aller gestaltbar machen.
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