Schon seit Längerem beschäftigt sich die Medizingeschichte mit den "bedrohlichen und sich rasch verbreitenden" Krankheiten in der Geschichte der Menschheit. Zu diesen hochansteckenden und epidemisch oder gar pandemisch auftretenden Infektionskrankheiten (Seuchen) liegt deshalb auch bereits eine umfängliche wissenschaftliche Literatur vor.
Geschichte der epidemischen Krankheiten
Eine bewusst medizin-historisch intendierte Forschung zur Geschichte der epidemischen Krankheiten begann im 18. Jahrhundert, was einige monographische Darstellungen v.a. zur Geschichte von Pest, Syphilis, Pocken und Aussatz belegen, und wurde im 19. Jahrhundert fortgesetzt. Eine "Weltgeschichte der großen Epidemien"
Da noch Anfang des 19. Jahrhunderts die Ursachen der Seuchenentstehung weder durch die Anhänger der Lehre von den Krankheitskonstitutionen
Die rein empirisch begriffene und betriebene "historische Pathologie", die zusätzlich auch für vieles Spekulative offen war, musste zwangsläufig schon bald mit Bemühungen um eine zunehmend naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin in Konflikt geraten – und von dorther Kritik erfahren. Zudem wurde von ihr seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch ein Beitrag zum Erkenntnisfortschritt der Pathologie erwartet. Und dennoch gab 1860 bis 1864 der Hygieniker und Medizinhistoriker August Hirsch sein "Handbuch der historisch-geographischen Pathologie" heraus, das sogar noch 1881 bis 1886 in drei Bänden eine zweite Auflage erlebte, obwohl die Bakteriologie bereits in voller Blüte stand und weitgehend das wissenschaftliche Profil der medizinischen Forschung beherrschte. Neu war die konsequent verfolgte Zusammenführung bzw. Synthese von Geschichte und Geographie der Krankheiten
In den Tagen der jungen Bakteriologie und einseitigen Überschätzung der Mikroorganismen als alleiniger Krankheitsursache blieben die von Hirsch formulierten Aufgaben und Ziele einer historischen Epidemiologie jedoch völlig unberücksichtigt. Zwar wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee insbesondere von Medizinhistorikern (in Deutschland v.a. Karl Sudhoff und Georg Sticker), aber auch von Epidemiologen und Klinikern neu aufgegriffen – nun unter neuen Gesichtspunkten sowie auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Arbeitsmethoden. Und der Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht kommt 1963 zur Einschätzung, dass der "ungemein rasche Wechsel der Krankheitslandschaft unter dem Einfluss sozialer Veränderungen und moderner Behandlungsmethoden" allein schon überzeugend(er )
Tatsächlich blieb die historische Epidemiologie eine Domäne der Medizingeschichte. Für diese ist jedoch nicht das pathologische Geschehen an sich Untersuchungsgegenstand, weshalb sie auch nicht (mehr) den Anspruch erhebt, zum Erkenntnisfortschritt der Pathologie von Seuchen beizutragen. Vielmehr verfolgt sie das Ziel, die Geschichte der Seuchen im Kontext der jeweiligen sozialen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Bedingungen und Entwicklung der betroffenen Regionen/Länder zu untersuchen, zunehmend auch in Unterscheidung von individueller und gesellschaftlicher inkl. staatlicher Wahrnehmung, Deutung, Reaktion und Handlung. Allerdings sind die jeweils epochen- und kulturabhängigen Prozesse und Faktoren, die die "Geschichte der Seuchen" bedingt haben (soweit überhaupt bislang erforscht, bekannt, wissenschaftlich begründet
Medizingeschichte als Erkenntnisquelle
Gegenwärtig gefragt ist die medizinhistorische Expertise zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit einer grassierenden Pandemie; Politik und Gesellschaft sollen sozusagen aus der Geschichte Lehren für die aktuellen Herausforderungen der Pandemie ziehen
Als die in ihrem Ausmaß – sowohl in Verbreitung als auch Schweregrad (wofür als Indikatoren die Letalität, Morbiditäts- und Mortalitätsrate herangezogen werden) – und ihrer Auswirkung auf das gesellschaftliche Leben verheerendsten und zugleich gefürchtetsten Seuchen in der Menschheitsgeschichte werden vor allem die Pest
Wohl am umfänglichsten in der Seuchengeschichte dürften die Pestpandemien medizinhistorisch erforscht worden sein, v.a. der "Schwarze Tod" im späten Mittelalter. Zumindest liegt hierzu inzwischen eine zahlenmäßig besonders reichhaltige Literatur vor, die zunehmend auch gerade die kulturhistorisch bedeutsamen Aspekte in den Blick zu nehmen anstrebt, nach Wahrnehmungs- und Deutungsmustern für Seuchen fragt und ihre politischen und kulturhistorisch relevanten Folgen herauszuarbeiten versucht
So stellt etwa Dinges als "politische Implikationen der Wahrnehmung der Pest" in der Frühen Neuzeit
Politische Implikationen
Ein direkter Vergleich oder eine Übertragung von historischen Prozessen und Denkmodellen auf die Gegenwart verbietet sich natürlich, doch in wissenschaftshistorischer Analyse und Wertung der Seuchengeschichte – selbst der Pest, die in Europa schon längst verschwunden ist – werden durchaus Aspekte offenbar, die auch heute noch von Relevanz sind. Um bei dem Beispiel der "politischen Implikation der Wahrnehmung" zu bleiben: Auch bei der derzeitigen COVID-19-Pandemie wird die Verursachung und damit eine Schuld anderen Akteuren (Personen oder Staaten) zugeschrieben. In der säkularisierten Welt wird hierfür nicht mehr das Argument der Sündhaftigkeit und deren Bestrafung durch Gott gebraucht, sondern angesichts der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz- bzw. Machtkonstellation die Unterstellung organisatorischer/logistischer oder gesundheitspolitischer Unfähigkeit bzw. falscher Handlungsweise bemüht. Innerhalb der betroffenen Staaten wird zusätzlich der Vorwurf laut, bestimmte Bevölkerungsgruppen (hier sind es wieder die sozialen "Unterschichten" oder sog. "bildungsfernen Schichten" – als wäre dies ihr selbst gewolltes Schicksal), einschließlich ethnischer Minderheiten, verhielten sich falsch oder uneinsichtig. Und nicht zuletzt wird auch das Problem der Migration/Immigration mit der Pandemie politisiert, obwohl deren eigentliche Ursachen nicht durch "Corona" bedingt sind, sie haben durch die Pandemie "nur" eine Zuspitzung und damit größere Wahrnehmung erfahren. Für die Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit der derzeitigen COVID-19-Pandemie wäre vielleicht der Vergleich mit der als "Spanische Grippe"
Es war das erste Mal, dass die Influenza globalhistorisch in Erscheinung trat und sie war "mit Abstand der größte Influenza-Ausbruch der Geschichte"
Gelegentlich wurden Desinfektionsmaßnahmen durchgeführt, eine Meldepflicht der Influenza bestand jedoch schon deshalb nicht, da kriegsbedingt das zur Erfassung nötige Personal (einschließlich Schreibkräfte) fehlte. Vertreter der preußischen Behörden, die keine systematische Bekämpfung der Influenza veranlassten, verteidigten ihr zögerliches Vorgehen mit Hinweis auf die Schweiz, deren Maßnahmen – Meldepflicht, Sperrstunden, Untersagung größerer Veranstaltungen – ohne messbare Auswirkungen auf die Morbidität gewesen seien
Interessant ist vor allem aber die Wahrnehmung bzw. Rezeption der Influenza-Pandemie nach 1920. Obgleich offensichtlich von den Bürgern – zumindest lassen überlieferte persönliche Zeitzeugenberichten darauf schließen
Eine omnipräsente 'Rememorierung' der "Spanischen Grippe" erfolgte v.a. mit dem pandemischen Auftreten der Schweinegrippe 2009/10
Nun sind die ermittelten Angaben für "historische" Seuchen aufgrund der schlechten Datenlage (an verwertbaren Quellen/Statistiken) mit sehr großen Unsicherheiten behaftet. Dies wird umso deutlicher, wenn selbst die WHO 2008 nur etwa ein Drittel aller weltweiten Influenza-Todesfälle aus den Sterberegistern von 112 Staaten erfassen konnte. In der modernen Epidemiologie muss unter Berücksichtigung der oftmals schlechten Datenlage und der komplexen Mechanismen einer weltweiten Verbreitung von Infektionskrankheiten häufig auf stark vereinfachte, lineare Modelle zurückgegriffen werden, die auf einem eindeutig definierten Status von Populationen basiert (z.B. vulnerabel, exponiert, erkrankt, tot oder geheilt). Die erhobenen Daten werden mit einem umfangreichen statistischen Instrumentarium ausgewertet und als aggregierte Informationen im Rahmen von Tabellen, Graphen und kartographischen Darstellungen sichtbar gemacht
Schlussfolgerungen aus der Seuchengeschichte für die aktuelle COVID-19-Pandemie
Dennoch lassen sich in Kenntnis und Wissen der Seuchengeschichte (im historischen Kontext), einschließlich und insbesondere der jeweiligen konzeptionellen Grundlagen und Strategien sowie Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung, auch grundsätzliche Aussagen zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit gegenwärtigen Epidemie- und Pandemiegeschehen ableiten, speziell in Bezug zur aktuellen COVID-19-Pandemie. So ist schon nur in oberflächlicher Betrachtung auffällig, dass und wie sich bestimmte Paradigmen gleichen, mitunter sogar Stereotype in der Argumentation fortgeschrieben werden. Auf die Problematik "Schuldzuweisung" und Migration/Immigration ist bereits verwiesen worden. Eine Parallele z.B. zur "Spanischen Grippe" scheint sich auch hinsichtlich des Einflusses und der Dominanz exakter Naturwissenschaften (damals Bakteriologie, jetzt Virologie) auf die Gesundheitspolitik abzuzeichnen. Selbstverständlich ist der exakte Nachweis der Krankheitsursache für Entscheidungen von notwendigen Regelungen und Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen zur effektiven Bekämpfung einer Epi- oder Pandemie unabdingbar. Allerdings dürfen nicht nur die unmittelbaren Folgen durch das Virus, sondern müssen auch die mittelbaren Folgen für den Gesundheitszustand der Bevölkerung durch die Maßnahmen bedacht werden. Auch bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung und Aufklärung lassen sich aus der Seuchengeschichte Schlussfolgerungen für die aktuelle Situation ziehen. Zwar ist im Gegensatz etwa zur "Spanischen Grippe" die derzeitige Pandemie nicht verharmlost worden, doch die sehr komplexen epidemiologischen Zusammenhänge und Faktoren lassen sich nicht mit der bloßen Angabe der (wie auch immer erhobenen) Infektionszahl verständlich machen.
In historischer Bewertung der Seuchengeschichte kann die Medizingeschichte zu Erkenntnissen beitragen, aus der Politik und Gesellschaft "Lehren" für die aktuellen Herausforderungen ziehen können – und zwar nicht nur zur Bekämpfung einer bereits "präsenten" Epidemie/Pandemie, sondern auch zur "Vorbeugung", d.h. zu Zwecken des Seuchenschutzes.
Literatur
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