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Seuchengeschichte Möglichkeiten und Grenzen zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit aktuellen Pandemiegeschehen

Caris-Petra Heidel

/ 24 Minuten zu lesen

Die SARS-Pandemie (Nov. 2002-Juli 2003) war das erste Auftreten des durch ein SARS-Coronavirus hervorgerufenen Schweren Akuten Atemwegssyndroms – und zugleich die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts. Was kann man aus der Erforschung der Pandemien in der Geschichte der Menschheit lernen? Und welche Schlussfolgerungen kann man ziehen für den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit ihnen?

Pest-Prozession in Rom, Gemälde von Adolph Hiremy-Hirschl, 1883. (© picture-alliance/akg)

Schon seit Längerem beschäftigt sich die Medizingeschichte mit den "bedrohlichen und sich rasch verbreitenden" Krankheiten in der Geschichte der Menschheit. Zu diesen hochansteckenden und epidemisch oder gar pandemisch auftretenden Infektionskrankheiten (Seuchen) liegt deshalb auch bereits eine umfängliche wissenschaftliche Literatur vor.

Geschichte der epidemischen Krankheiten

Eine bewusst medizin-historisch intendierte Forschung zur Geschichte der epidemischen Krankheiten begann im 18. Jahrhundert, was einige monographische Darstellungen v.a. zur Geschichte von Pest, Syphilis, Pocken und Aussatz belegen, und wurde im 19. Jahrhundert fortgesetzt. Eine "Weltgeschichte der großen Epidemien" legte 1882 Heinrich Haeser mit dem dritten Band seines "Lehrbuch[s] der Geschichte der Medicin" vor. Sie war Ergebnis einer gezielten und umfassenden Bearbeitung historischer Überlieferungen zu epidemischen Krankheiten aus eindeutig und ausschließlich historischem Interesse. Doch hatte sich Haeser einst – zumindest zeitweilig – der Historiographie der Seuchengeschichte auch unter der Motivation gewidmet, zur medizinischen Klärung der Ursachen und Ätiologie von epidemischen Krankheiten beizutragen.

Da noch Anfang des 19. Jahrhunderts die Ursachen der Seuchenentstehung weder durch die Anhänger der Lehre von den Krankheitskonstitutionen, noch durch die "Kontagionisten" geklärt werden konnten, griff man schließlich (auch angeregt durch die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende "Historisierung der Natur") zusätzlich auf die Beobachtung früherer Generationen zurück. Eine Forschungsrichtung, von der unter diesem Gesichtspunkt, neue Einsichten in die Problematik der Seuchenentstehung und -verbreitung erhofft wurden, war die sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts herausbildende "historische Pathologie". Die historische Pathologie als "Darstellung von dem Verhalten und der Gestaltung der Krankheiten innerhalb der einzelnen, von dem Menschengeschlechte durchlebte [sic!] Zeiträume" wurde im 19. Jahrhundert insbesondere von Justus Friedrich Carl Hecker (1795-1850), Heinrich Haeser (1811-1884) und August Hirsch (1817-1894) vertreten. Vor allem Hecker habe – so der spätere Medizinhistoriker Hirsch – erstmals "seinen Blick über die Gränzen Dessen, was man bis dahin 'Geschichte der Krankheiten' genannt hatte", erhoben und "die großen Volkskrankheiten als das Product einer zahlreichen Reihe von Factoren auffassen [gelehrt], die ebenso in der jeweiligen physischen und psychischen Stimmung des Menschen selbst, wie in den wechselnden Gestaltungen des politischen und sozialen Lebens, in den Einflüssen athmosphärischer und tellurischer Bewegungen gegeben sind".

Die rein empirisch begriffene und betriebene "historische Pathologie", die zusätzlich auch für vieles Spekulative offen war, musste zwangsläufig schon bald mit Bemühungen um eine zunehmend naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin in Konflikt geraten – und von dorther Kritik erfahren. Zudem wurde von ihr seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch ein Beitrag zum Erkenntnisfortschritt der Pathologie erwartet. Und dennoch gab 1860 bis 1864 der Hygieniker und Medizinhistoriker August Hirsch sein "Handbuch der historisch-geographischen Pathologie" heraus, das sogar noch 1881 bis 1886 in drei Bänden eine zweite Auflage erlebte, obwohl die Bakteriologie bereits in voller Blüte stand und weitgehend das wissenschaftliche Profil der medizinischen Forschung beherrschte. Neu war die konsequent verfolgte Zusammenführung bzw. Synthese von Geschichte und Geographie der Krankheiten. Ihr maß Hirsch (noch immer) eine eminente Bedeutung für die Ätiologie und Pathogenese epidemischer Krankheiten bei, denn offenbar erkannte er bereits die Grenzen der von ihm durchaus "als einen großen Fortschritt in der Lehre von den Krankheitsursachen" begrüßten bakteriologischen Forschung. Sie könne zwar die direkte Ursache und den Übertragungsmodus infektiöser Erkrankungen feststellen, jedoch keine ausreichende Erklärung für die "Gelegenheitsursachen" geben, d.h. für die Gründe, warum es nur manchmal und in bestimmten Gegenden zum epidemischen Auftreten von Krankheiten kommt. Übrigens gilt die Beobachtung auch für Pandemien. Obwohl sie im Unterschied zu Epidemien örtlich nicht beschränkt, länder- und kontinenteübergreifend sind, kann es auch hier von der Krankheit nicht betroffene Gebiete geben.

In den Tagen der jungen Bakteriologie und einseitigen Überschätzung der Mikroorganismen als alleiniger Krankheitsursache blieben die von Hirsch formulierten Aufgaben und Ziele einer historischen Epidemiologie jedoch völlig unberücksichtigt. Zwar wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee insbesondere von Medizinhistorikern (in Deutschland v.a. Karl Sudhoff und Georg Sticker), aber auch von Epidemiologen und Klinikern neu aufgegriffen – nun unter neuen Gesichtspunkten sowie auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Arbeitsmethoden. Und der Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht kommt 1963 zur Einschätzung, dass der "ungemein rasche Wechsel der Krankheitslandschaft unter dem Einfluss sozialer Veränderungen und moderner Behandlungsmethoden" allein schon überzeugend(er ) gewirkt habe, dass "Geschichte und Geographie der Krankheiten Realitäten sind". Aber selbst er muss eingestehen, dass "trotzdem Geschichte und Geographie der Krankheiten in Lehre und Forschung noch immer nicht stärker gepflegt werden" .

Tatsächlich blieb die historische Epidemiologie eine Domäne der Medizingeschichte. Für diese ist jedoch nicht das pathologische Geschehen an sich Untersuchungsgegenstand, weshalb sie auch nicht (mehr) den Anspruch erhebt, zum Erkenntnisfortschritt der Pathologie von Seuchen beizutragen. Vielmehr verfolgt sie das Ziel, die Geschichte der Seuchen im Kontext der jeweiligen sozialen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Bedingungen und Entwicklung der betroffenen Regionen/Länder zu untersuchen, zunehmend auch in Unterscheidung von individueller und gesellschaftlicher inkl. staatlicher Wahrnehmung, Deutung, Reaktion und Handlung. Allerdings sind die jeweils epochen- und kulturabhängigen Prozesse und Faktoren, die die "Geschichte der Seuchen" bedingt haben (soweit überhaupt bislang erforscht, bekannt, wissenschaftlich begründet), nicht gleichzusetzen oder unmittelbar übertragbar. Deshalb lassen sich aus der historischen Erkenntnis keine konkret-praktischen Lösungen oder Handlungsanweisungen für die aktuelle Situation ableiten.

Medizingeschichte als Erkenntnisquelle

Gegenwärtig gefragt ist die medizinhistorische Expertise zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit einer grassierenden Pandemie; Politik und Gesellschaft sollen sozusagen aus der Geschichte Lehren für die aktuellen Herausforderungen der Pandemie ziehen . Dieses Ansinnen ist aber keineswegs erstmalig, sondern wieder mit der jetzigen COVID-19-Pandemie formuliert worden. Erinnert sei etwa an die 'Rememorierung' der sog. "Spanischen Grippe" (1918-1920) mit dem Auftreten von Influenza-Pandemien in jüngerer Vergangenheit.

Als die in ihrem Ausmaß – sowohl in Verbreitung als auch Schweregrad (wofür als Indikatoren die Letalität, Morbiditäts- und Mortalitätsrate herangezogen werden) – und ihrer Auswirkung auf das gesellschaftliche Leben verheerendsten und zugleich gefürchtetsten Seuchen in der Menschheitsgeschichte werden vor allem die Pest, der "Englische Schweiß", Cholera, Typhus, Pocken und die Virusgrippe (Influenza) genannt; unter den "neuen" Infektionskrankheiten haben sich AIDS und SARS zu Pandemien entwickelt.

Wohl am umfänglichsten in der Seuchengeschichte dürften die Pestpandemien medizinhistorisch erforscht worden sein, v.a. der "Schwarze Tod" im späten Mittelalter. Zumindest liegt hierzu inzwischen eine zahlenmäßig besonders reichhaltige Literatur vor, die zunehmend auch gerade die kulturhistorisch bedeutsamen Aspekte in den Blick zu nehmen anstrebt, nach Wahrnehmungs- und Deutungsmustern für Seuchen fragt und ihre politischen und kulturhistorisch relevanten Folgen herauszuarbeiten versucht.

So stellt etwa Dinges als "politische Implikationen der Wahrnehmung der Pest" in der Frühen Neuzeit drei Modi fest: 1. Territoriale und konfessionelle Abgrenzungsstrategien durch Fremdzuschreibung , 2. innergesellschaftliche Zuschreibungen und 3. (Selbst)Zuschreibung von politischer Lösungskompetenz(von der Kirche über die Obrigkeiten zu den Spezialisten).

Politische Implikationen

Ein direkter Vergleich oder eine Übertragung von historischen Prozessen und Denkmodellen auf die Gegenwart verbietet sich natürlich, doch in wissenschaftshistorischer Analyse und Wertung der Seuchengeschichte – selbst der Pest, die in Europa schon längst verschwunden ist – werden durchaus Aspekte offenbar, die auch heute noch von Relevanz sind. Um bei dem Beispiel der "politischen Implikation der Wahrnehmung" zu bleiben: Auch bei der derzeitigen COVID-19-Pandemie wird die Verursachung und damit eine Schuld anderen Akteuren (Personen oder Staaten) zugeschrieben. In der säkularisierten Welt wird hierfür nicht mehr das Argument der Sündhaftigkeit und deren Bestrafung durch Gott gebraucht, sondern angesichts der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz- bzw. Machtkonstellation die Unterstellung organisatorischer/logistischer oder gesundheitspolitischer Unfähigkeit bzw. falscher Handlungsweise bemüht. Innerhalb der betroffenen Staaten wird zusätzlich der Vorwurf laut, bestimmte Bevölkerungsgruppen (hier sind es wieder die sozialen "Unterschichten" oder sog. "bildungsfernen Schichten" – als wäre dies ihr selbst gewolltes Schicksal), einschließlich ethnischer Minderheiten, verhielten sich falsch oder uneinsichtig. Und nicht zuletzt wird auch das Problem der Migration/Immigration mit der Pandemie politisiert, obwohl deren eigentliche Ursachen nicht durch "Corona" bedingt sind, sie haben durch die Pandemie "nur" eine Zuspitzung und damit größere Wahrnehmung erfahren. Für die Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit der derzeitigen COVID-19-Pandemie wäre vielleicht der Vergleich mit der als "Spanische Grippe" bezeichneten Influenza-Pandemie 1918-1920 noch aufschlussreicher.

Es war das erste Mal, dass die Influenza globalhistorisch in Erscheinung trat und sie war "mit Abstand der größte Influenza-Ausbruch der Geschichte". Dennoch wurde diese erste Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts sozusagen "ausgestanden". Grund war aber nicht nur, dass keine erfolgreichen Gegenmittel (Arzneimittel/Impfung) zur Verfügung gestellt werden konnten, zumal in Wirkmächtigkeit des "bakteriologischen Denkstils" und trotz bereits in den 1890er Jahren geäußerten Zweifeln an einer bakteriologischen Genese das 1892 von Richard Pfeiffer (1858-1945) entdeckte Bakterium "Haemophilus influenzae" als entscheidendes Pathogen der Influenza ausgemacht wurde.. Von entscheidendem Einfluss war vielmehr die politische Situation in unmittelbarer Auswirkung des Ersten Weltkrieges. So wurde im Deutschen Reich die breitere Öffentlichkeit nur zögerlich über die "Spanische Grippe" in Kenntnis gesetzt, Berichte über die Erkrankung und deren Ausmaß wurden bewusst zurückgehalten . Während des Ersten Weltkrieges unterlagen deutsche Zeitungen nicht nur einer Zensur, sondern viele Sachverhalte wurden im Sinne einer patriotischen Berichterstattung dargestellt, etwa, dass insbesondere Soldaten der Entente-Mächte von der Influenza betroffen seien. Und während die Zeitungen die Influenza als neue Modekrankheit diffamierten, gingen sie aber durchaus auf die "Russische Grippe" von 1889 und deren Folgen ein. Während der gravierenden zweiten pandemischen Welle im Herbst 1918 wurde v.a. eine Strategie der Beschwichtigung der Bevölkerung betrieben: Es handele sich um ein gutartiges Auftreten der Influenza, die Gesundheitsbehörden nähmen sich der Eindämmung und Bekämpfung der Seuche an. Schuld an der Ausbreitung sei die schlechte Ernährungslage – wobei vermieden wurde, den Krieg als ursächlich für die desolate Versorgungslage zu nennen. Auch das Nichtbefolgen von Hygienerichtlinien habe die Ausbreitung der Influenza befördert. Dabei hatte der vom Reichsgesundheitsamt einberufene Reichsgesundheitsrat überhaupt erst im Oktober 1918 allgemeine Belehrungen zur persönlichen Hygiene in Aussicht gestellt, die über die Presse verbreitet werden sollten. Die Verhaltensmaßregeln beinhalteten die Mahnung zum regelmäßigen Händewaschen, Gurgeln mit Salzwasser und zur Einhaltung der Bettruhe sowie (falls zu einer Risikogruppe zugehörig) zur Meidung von Menschenansammlungen. Die zunächst angedachte Schließung von Schulen und Theatern oder Versammlungsverbote wurden dann doch nicht für erforderlich gehalten.

Gelegentlich wurden Desinfektionsmaßnahmen durchgeführt, eine Meldepflicht der Influenza bestand jedoch schon deshalb nicht, da kriegsbedingt das zur Erfassung nötige Personal (einschließlich Schreibkräfte) fehlte. Vertreter der preußischen Behörden, die keine systematische Bekämpfung der Influenza veranlassten, verteidigten ihr zögerliches Vorgehen mit Hinweis auf die Schweiz, deren Maßnahmen – Meldepflicht, Sperrstunden, Untersagung größerer Veranstaltungen – ohne messbare Auswirkungen auf die Morbidität gewesen seien. Hinsichtlich der behördlichen, gesundheitspolitisch indizierten Maßnahmen ist aber auch immer mit zu bedenken, dass die Bakteriologie im Kaiserreich eine wichtige Rolle in der staatlichen Seuchenbekämpfung spielte, und auch im Sanitätswesen hochgeschätzt wurde. Denn in gegenseitiger Sympathie von Militär und Bakteriologie bestand eine sowohl konkrete als auch metaphorische Berührung mit dem Phänomen von Kampf und Krieg, die für das Erscheinungsbild der Bakteriologie wichtig war.

Interessant ist vor allem aber die Wahrnehmung bzw. Rezeption der Influenza-Pandemie nach 1920. Obgleich offensichtlich von den Bürgern – zumindest lassen überlieferte persönliche Zeitzeugenberichten darauf schließen – die ("komische neue", unbekannte) Seuche mit ihren Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben als Gefahr und Bedrohung wahrgenommen wurde, blieb sie kaum im kollektiven Gedächtnis erhalten. Man mag der Vermutung von Jacobsen zustimmen, "dass durch die Schrecken des gerade beendeten Ersten Weltkriegs die Menschen so an Kummer gewöhnt waren, dass es nicht zu Angst und Panik kam wie bei vielen Seuchen zuvor". Doch dürfte daran auch oder insbesondere die öffentliche Vermittlung einen großen Anteil gehabt haben, besser gesagt das Desinteresse und ein fehlendes Krisenbewusstsein der Behörden und damit ein Herunterspielen der Gefahr. In der Öffentlichkeit fand somit kaum ein Diskurs zur "Spanischen Grippe" statt ; er verlagerte sich vielmehr und fast ausschließlich auf den wissenschaftlichen Bereich. Denn die "Spanische Grippe" beschäftigte ab 1920 vor allem Wissenschaftler und Ärzte bezüglich der Frage, wieso die Influenza nicht effektiv bekämpft werden konnte und welche Ansätze jenseits der bisher verfolgten bakteriologischen Erklärung denkbar wären.

Eine omnipräsente 'Rememorierung' der "Spanischen Grippe" erfolgte v.a. mit dem pandemischen Auftreten der Schweinegrippe 2009/10, doch habe dies nach Rengeling selten zu einer adäquaten Analyse der gegenwärtigen (2009) epidemiologischen Ereignisse geführt. Und auch generell sind offensichtlich die von der medizinhistorischen Forschung zur Seuchengeschichte erbrachten Ergebnisse und Schlussfolgerungen von der Öffentlichkeit und den (politischen) Entscheidungsträgern nahezu unberücksichtigt geblieben.

Nun sind die ermittelten Angaben für "historische" Seuchen aufgrund der schlechten Datenlage (an verwertbaren Quellen/Statistiken) mit sehr großen Unsicherheiten behaftet. Dies wird umso deutlicher, wenn selbst die WHO 2008 nur etwa ein Drittel aller weltweiten Influenza-Todesfälle aus den Sterberegistern von 112 Staaten erfassen konnte. In der modernen Epidemiologie muss unter Berücksichtigung der oftmals schlechten Datenlage und der komplexen Mechanismen einer weltweiten Verbreitung von Infektionskrankheiten häufig auf stark vereinfachte, lineare Modelle zurückgegriffen werden, die auf einem eindeutig definierten Status von Populationen basiert (z.B. vulnerabel, exponiert, erkrankt, tot oder geheilt). Die erhobenen Daten werden mit einem umfangreichen statistischen Instrumentarium ausgewertet und als aggregierte Informationen im Rahmen von Tabellen, Graphen und kartographischen Darstellungen sichtbar gemacht. Dieses Modells und methodischen Verfahrens bedient sich auch die historische Epidemiologie, nur sind allein die hierfür notwendigen Grunddaten aufgrund der Quellenlage weitaus schwieriger zu verifizieren; außerdem können weder an historische Quellen moderne medizinische Maßstäbe angelegt (siehe Anm.19), noch die jeweiligen epidemiologischen Ereignisse und Bedingungen gleichgesetzt werden.

Schlussfolgerungen aus der Seuchengeschichte für die aktuelle COVID-19-Pandemie

Dennoch lassen sich in Kenntnis und Wissen der Seuchengeschichte (im historischen Kontext), einschließlich und insbesondere der jeweiligen konzeptionellen Grundlagen und Strategien sowie Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung, auch grundsätzliche Aussagen zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit gegenwärtigen Epidemie- und Pandemiegeschehen ableiten, speziell in Bezug zur aktuellen COVID-19-Pandemie. So ist schon nur in oberflächlicher Betrachtung auffällig, dass und wie sich bestimmte Paradigmen gleichen, mitunter sogar Stereotype in der Argumentation fortgeschrieben werden. Auf die Problematik "Schuldzuweisung" und Migration/Immigration ist bereits verwiesen worden. Eine Parallele z.B. zur "Spanischen Grippe" scheint sich auch hinsichtlich des Einflusses und der Dominanz exakter Naturwissenschaften (damals Bakteriologie, jetzt Virologie) auf die Gesundheitspolitik abzuzeichnen. Selbstverständlich ist der exakte Nachweis der Krankheitsursache für Entscheidungen von notwendigen Regelungen und Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen zur effektiven Bekämpfung einer Epi- oder Pandemie unabdingbar. Allerdings dürfen nicht nur die unmittelbaren Folgen durch das Virus, sondern müssen auch die mittelbaren Folgen für den Gesundheitszustand der Bevölkerung durch die Maßnahmen bedacht werden. Auch bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung und Aufklärung lassen sich aus der Seuchengeschichte Schlussfolgerungen für die aktuelle Situation ziehen. Zwar ist im Gegensatz etwa zur "Spanischen Grippe" die derzeitige Pandemie nicht verharmlost worden, doch die sehr komplexen epidemiologischen Zusammenhänge und Faktoren lassen sich nicht mit der bloßen Angabe der (wie auch immer erhobenen) Infektionszahl verständlich machen.

In historischer Bewertung der Seuchengeschichte kann die Medizingeschichte zu Erkenntnissen beitragen, aus der Politik und Gesellschaft "Lehren" für die aktuellen Herausforderungen ziehen können – und zwar nicht nur zur Bekämpfung einer bereits "präsenten" Epidemie/Pandemie, sondern auch zur "Vorbeugung", d.h. zu Zwecken des Seuchenschutzes.

Literatur

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. n. Ackerknecht (1963), S. 5.

  2. Haser (1882), Bd. 3. Bd. 1 ("Geschichte der Medicin im Alterthum und Mittelalter") und Bd. 2 ("Geschichte der Medicin in der neueren Zeit", 16.-19. Jahrhundert) waren (in 3. Aufl.) 1875 bzw. 1881 erschienen.

  3. Mit seiner "Lehre von den Krankheitskonstitutionen", die im Wesentlichen bis in das 19. Jahrhundert hinein lebendig blieb, knüpfte im 17. Jahrhundert Thomas Sydenham (1624-1689) erneut an das antike (hippokratische) medizinisch-wissenschaftliche Konzept an. Denn schon mit Begründung der ersten wissenschaftlichen Medizin zur Zeit der griechischen Antike, deren theoretische Grundlage die Säftelehre bzw. Humoralpathologie bildete, wurde ein von natürlichen Ursachen ausgehender Erklärungsversuch auch für das Auftreten von Epidemien unternommen. Entsprechend des Mikrokosmos-Makrokosmos-Denkens der griechischen Medizin (Vorgänge im Körperinneren widerspiegeln die Vorgänge in der Umwelt) war bei Seuchen gleichsam die gesamte lokale Atmosphäre in ihrem Gleichgewicht gestört, was sich auf die dort lebenden Menschen fatal auswirkte. Als wesentliche auslösende Momente standen also Klima und Witterung sowie deren Wechsel mit den Jahreszeiten im Vordergrund, was zugleich die Erklärung für einen jahreszeitgebundenen Rhythmus abgab, dem das gehäufte Auftreten bestimmter Erkrankungen unterliege. Weitere ätiologische Faktoren waren regionale Einflüsse sowie die gesamte Lebensweise, aber auch kosmische Konstellationen. In der hippokratischen Seuchentheorie spielte die Ansteckung vom Kranken zum Gesunden keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die aus den hippokratischen Vorstellungen entwickelte Miasma-Theorie der Seuchen blieb bis weit in die Neuzeit einflussreich (Miasma: übler/giftiger Dunst; krankheitsverursachende Materie, die durch faulige Prozesse in Luft und Wasser entsteht).

  4. Bereits im 16. Jahrhundert war mit der Kontagien-Theorie ein völlig neuer, über die antike Miasma-Theorie hinausgehender ätiologischer Erklärungsversuch entwickelt und vorgelegt worden [1546 veröffentlicht von Girolamo Fracastoro (ca. 1478-1553)]. In Erkenntnis des Ansteckungsweges von einem erkrankten auf einen gesunden Menschen, wurden Epidemien nicht mehr auf Klima, Witterung und Jahreszeiten (direkt) zurückgeführt, sondern auf einen lebendigen (also sich vermehrenden/reproduzierenden) Ansteckungsstoff. Die Auffassung vom "Contagium vivum" erfuhr aber erst im letzten Drittel des 19. Jh. durch die Bakteriologie Bestätigung (Erregernachweis).

  5. Mit (oder in zeitlicher Nachbarschaft) der Begründung der Geschichtsphilosophie (siehe Voltaires ‚Philosophie de l’histoire’, 1765) waren seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch Ansätze entstanden, die mit ihrer Anbindung an Methoden und Erträge der Naturforschung eine neue Behandlung der menschlichen Geschichte einleiteten.

  6. In ihrer Zeit war die historisch-pathologische Untersuchung jedoch nicht Teil der Medizingeschichte, sondern der pathologischen Forschung. Bleker (1984), S. 33. Unmittelbarer Ausgangspunkt für die weitreichenden "epidemiologischen" Untersuchungen war das epidemische Auftreten der Asiatischen Cholera in Deutschland 1831, deren Ätiologie nun auch mit Hilfe von neu zu erschließendem historischen Material geklärt werden sollte.

  7. Hirsch (1881), S. 2. Zur Entstehungsgeschichte und Zielstellung der "historischen Pathologie" vgl. v.a. Bleker (1984), S. 33-52; auch Heidel (1985), S. 731-733 und (1986), S. 394-397.

  8. Haeser war Ende der 1830er Jahre noch stark beeinflusst von den naturhistorisch-ontologischen Auffassungen, welche die Krankheit als ein unabhängig vom befallenen Organismus für sich denkbares Wesen betrachtete und ihr eine Entwicklung analog der Tier- und Pflanzenwelt zuschrieb. Vgl. hierzu auch Diepgen (1926), S. 302-327. Doch vollzieht auch er den generellen Wandel der "historischen Pathologie", was nicht zuletzt im 3. Band seines Lehrbuches zur Geschichte der Medizin (1882) deutlich wird – bei der hier unter historischen Gesichtspunkten erwähnten allgemeinen epidemiologischen Forschung findet sich noch nicht einmal ein Hinweis auf den Beitrag der "historischen Pathologie".

  9. Hirsch (1865), S. IV.

  10. Vgl. dazu Ackerknecht (1963), S. 1-5.

  11. Hier gemeint: "schneller und gründlicher als alle Predigten von uns Medizinhistorikern". Ackerknecht (1963), S. III.

  12. Ackerknecht (1963), S. III. Hervorhebung im Original.

  13. Ackerknecht (1963), S. III. In seinem einleitenden Kapitel "Die Geschichte und Geographie der Krankheiten im Wandel der Zeiten" (a.a.O., S. 1-5) verweist er ausdrücklich auch auf die zahlreichen ausländischen Arbeiten zur Geschichte der Krankheiten (allgemein u. einzelner Länder), v.a. aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Schweiz, Spanien, Skandinavien.

  14. Zur kritischen Wertung des Bearbeitungsstandes der Seuchengeschichte (bzgl. Methodik, Modellen, Diskurstheorien) in der deutschen Medizinhistoriographie vgl. Dinges (1995), S. 7-24; sowie insbesondere in Analyse der "Sozialgeschichte der Medizin" siehe Labisch (2016), S. 399-430.

  15. Nolte (2020), S. 193.

  16. Als erste (bekannte) Pestpandemie gilt die sog. Justinianische Pest (541-770), die in einem etwa 15- bis 25-jährigen Rhythmus in ca. 15-17 Wellen in Europa und Vorderasien auftrat. Mit der sich in der Geschichte eingebürgerten Bezeichnung "Schwarzer Tod" ist die Pest-Pandemie 1346-1353 gemeint, die mit etwa 100-125 Mio. Toten ein Viertel bis ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung gefordert haben soll. Zur Ausbreitung der Pest im Nahen Osten vgl. u.a. Jankrift (2005), S. 225-233.

  17. Der "Englische Schweiß" war eine sehr ansteckende Erkrankung mit sehr kurzer Krankheitsdauer und hoher Letalitätsrate, die im 15. und 16. Jahrhundert (erster Ausbruch 1485/86, letztmals 1551) in fünf Seuchenwellen epidemisch vorrangig in England, 1528/29 pandemisch in Europa auftrat, danach anscheinend wieder verschwand. Typisches Symptom waren starke Schweißausbrüche, die der Krankheit ihren Namen gaben. Die Ätiologie der Infektionskrankheit ist bis heute ungeklärt.

  18. Als erste Influenza-Pandemie wird die sog. Russische Grippe (ursächlich möglicherweise Pferde-Influenza-Virus) 1889/90, bis zu 1 Mio. Tote, beschrieben.

  19. Nach der hippokratischen Krankheitsauffassung ist der ganze Mensch und niemals nur ein bestimmter Teil des Körpers allein krank. Deshalb war die Medizin noch bis in die Frühe Neuzeit weniger an der Feststellung gesetzmäßiger Symptomkombinationen, d.h. von Krankheiten im modernen Sinne, als an der Feststellung der jeweils individuellen Symptomverbindungen interessiert. Nicht selten wurden Symptome für Krankheiten sui generis gehalten (Bsp. "Fieberkrankheiten"). Insofern kann die beschriebene Symptomatik und/oder die Krankheitsbezeichnung nicht immer zweifelsfrei mit dem modernen Krankheitsbegriff identifiziert werden. Zudem mag es vorgekommen sein, dass etwa Seuchen bei ähnlichen Symptomen verwechselt wurden bzw. (noch) andere Krankheiten unter einer – z.B. als Pest – benannten /beschriebenen Seuche erfasst wurden.

    Angesichts spärlicher naturwissenschaftlicher Daten greifen manche Forscher zu dem in der Geschichtswissenschaft umstrittenen Hilfsmittel der retrospektiven Diagnose. Dabei werden historische Seuchen-Schilderungen mit modernen medizinischen Darstellungen hinsichtlich Symptomatik, klinischem Bild und Epidemiologie direkt verglichen. Dies führt u.a. dazu, dass aus den Beschreibungen in historischen Texten unmittelbar eine moderne (mikrobiologische) Krankheitsdiagnose gestellt wird. Der Gefahr einer ahistorischen Spekulation sind sich diese Wissenschaftler nicht immer bewusst oder erkennen sie nicht. Denn an historische Quellen (z.B. gelegentlich ins medizinische Detail gehende zeitgenössische Berichte zum Seuchengeschehen) werden moderne medizinische Maßstäbe angelegt, ohne dabei die Erklärungsmodelle für die "Ursprünge" von Seuchen in der ′vormodernen′ Zeit (vor um 1800) im Kontext zu berücksichtigen , die nämlich das Seuchengeschehen v.a. naturkundlich-medizinisch und/oder religiös zu deuten versuchten. Siehe dazu ausführlich Leven (2016), S. 35-49, Leven (2005), S. 11-32.

  20. Seit 1980, weltweite Verbreitung, bisher etwa 36 Mio. Tote (vgl. Liste von Epidemien und Pandemien, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Epidemien_und_Pandemien); seit 2005 sei aber die Mortalitätsrate rückläufig.

  21. Die SARS-Pandemie (Nov. 2002-Juli 2003) war das erste Auftreten des durch ein SARS-Coronavirus hervorgerufenen Schweren Akuten Atemwegssyndroms, zugleich die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts. Von Südchina ausgehend verbreitete sie sich binnen weniger Wochen über nahezu alle Kontinente. Schwerpunkte (Staaten mit lokalen Infektionsketten) waren die Volksrepublik China, Hongkong, Singapur, Kanada, Vietnam, Taiwan, die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich.

  22. Vgl. u.a. Dinges (2005), S. 284-313, auch Bergdolt (2005), S. 317-357. Wenngleich nicht auf die Pest fokussiert, siehe auch Jütte (2014), S. 148-182, zur "gesellschaftlichen Reaktion auf Krankheit" in der Frühen Neuzeit (Stigmatisierung, Isolierung, soziale Kontrolle des Krankheitsverhaltens). Dennoch sind manche Phänomene, etwa der Rückzug der Pest aus Europa im 18. Jahrhundert und aus dem Vorderen Orient im 19. Jahrhundert, noch nicht eindeutig geklärt. Und auch wenn Konsens besteht, dass der "Schwarze Tod" gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen bzw. die sozialökonomische Entwicklung nicht allein verursacht, aber entscheidend begünstigt hatte – siehe u.a. Bergdolt (1994), S. 191-207 –, werden jedoch die Prozesse/Faktoren und deren Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte unterschiedlich bewertet (Wilderotter (1995), S. 14 f.).

  23. Dinges (2005), S. 284-298.

  24. Die in der Frühen Neuzeit (seit 15. Jahrhundert) entstehenden "Gesellschaften", so Dinges, haben ihre Identität um eine zusätzliche Dimension erweitert, indem sie die Verursachung der Pest Personen oder Herrschern aus anderen Territorien zuschrieben. Konnten schon nicht die biologischen Mechanismen der Seuchenentstehung erklärt werden, so half die Suche nach einem "Schuldigen" wenigstens, das plötzliche Massensterben zu deuten. Sicherlich kam mit der sich verschärfenden Konkurrenz der europäischen Mächte – was zunächst in Italien ganze Territorien auch für längere Zeit unter fremde Herrschaft brachte – die Idee auf, dass die jeweiligen Besatzungsmächte durch Einschleppen der Pest die unterworfenen Gebiete schwächen wollten, um sie (noch) leichter beherrschen zu können. Typischer für die frühneuzeitliche Politisierbarkeit der Pest sei aber die Verbindung mit der seit der Reformation entstehenden konfessionellen Grenzen zwischen den Territorien. Wobei sich allerdings wegen konfessioneller Minderheiten die Abgrenzung frühmoderner "Staaten" nach außen mit der Ausgrenzung bestimmter Gruppen im Innern vermischte, die gewissermaßen den Status von "Staatsfeinden" erhielten. Dieses Interpretationsmuster – sowohl der "Schuldhaftigkeit" als auch der Stilisierung von "Fremdem" – lebte im zweiten Zeitalter des Kolonialismus wieder auf, als die Pest aus Europa verschwunden war, aber in vielen Kolonien v.a. in Süd- u. Ostasien endemisch blieb. Dinges (2005), S. 285-287.

  25. Schon im 14. Jahrhundert waren die die öffentliche Meinung prägenden Personengruppen schnell bereit, Angehörige der Unterschicht als diejenigen zu bezichtigen, die die Pest einschleppten und zu ihrer Verbreitung beitrugen. In der Argumentation am einfachsten war die generelle Unterstellung einer besonderen Sündhaftigkeit der Armen, die von Gott bestraft würde (hier mit der Pest). Solche Zuschreibungen (um zugleich andere für ihr eigenes jämmerliche Los verantwortlich zu machen) wurde von einigen konkreten Beobachtungen gestützt: Die Pest brach häufig in ärmlichsten Vierteln aus oder wurde von Landstreichern, Trödlern, entlassenen Soldaten eingeschleppt, und verbreitete sich vorzugsweise in den dichter bevölkerten ärmeren Vierteln. In Unkenntnis der genaueren Übertragungswege wurden solche beobachteten Zusammenhänge von Pest und Armut sowie v.a. Migration gegen Ende des 15. Jahrhunderts immer deutlicher in Fachliteratur und Gesetzgebung thematisiert. Die Pest diente somit als Argument für die Ausweisung oder das Zulassungsverbot fremder Immigranten, für Überlegungen zur Deportation der Armen in entlegene Gebiete oder zur Verfolgung von unliebsamen Personen, vor allem aber für die auferlegte Pflicht zu einem gottesfürchtigen Leben, d.h. zur Arbeit. Dinges (2005), S. 287-289.

  26. Dinges macht hier aber darauf aufmerksam, dass sich die Modelle bzw. Denkweise der europäischen Obrigkeit, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter zur aktiven Eindämmung der Pest befugt und verpflichtet hielt, grundlegend von den Vorstellungen und politischen Verhältnissen am Südrand des Mittelmeeres ("okzidentaler Weg") unterschied.

  27. Bezeichnung in der Annahme, dass die Seuche ihren Ursprung auf der Iberischen Halbinsel genommen habe, da der erste Bericht von dem spanischen Sanitätsinspekteur de Salazar stammte. Tatsächlich trat sie zuerst in einem militärischen Heerlager in den USA (Kansas) auf und wurde von dort nach Europa eingeschleppt.

  28. Rengeling (2017), S. 19. Siehe auch Winkle (2005), S. 1004-1049. Dass Influenza-Epidemien oder gar Pandemien bereits während der Zeit der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aufgetreten seien, ist möglich, kann aber historisch (aus den Textquellen) nicht überzeugend nachgewiesen/geschlossen werden (vgl. Anm. 19). Selbst mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten ist die Diagnose der Influenza ohne einen Virusnachweis noch unsicher. Das Influenza-Virus wurde erst 1933 nachgewiesen.

  29. Bis Ende der 1880er Jahre bestand die Annahme, dass Krankheiten allein durch Bakterien hervorgerufen werden. Da allerdings bei einer Reihe eindeutig infektiöser Erkrankungen keine Isolierung von Erregern gelungen war, wurde schon um 1890 vermutet bzw. die Hypothese aufgestellt, dass diese Krankheiten von kleinsten Erregern hervorgerufen werden, die jedoch mit lichtmikroskopischer Technik nicht sichtbar gemacht werden könnten. Um die Jahrhundertwende konnte die Hypothese von der sog. Virusinfektion (virus = lat. Gift, Saft, Schleim) mit den Filtrationsversuchen bei der Maul- und Klauenseuche (1898/99) von Friedrich Löffler (1852-1915) bestätigt werden, womit die Grundlagen der Virologie als eigenständiger Bereich der Mikrobiologie gelegt worden waren.

    Eine endgültige Bestätigung fand die Hypothese allerdings erst durch "Sichtbarmachen" der Viren mittels Elektronenmikroskopie (1931). Insbesondere im Deutschen Reich war der bakteriologische Erklärungsansatz zur Genese und Behandlung von übertragbaren Krankheiten, also auch der Influenza, noch 1920 der "Goldstandard".

  30. Da auch keine geeignete Testung zur Verfügung stand, wurden mit Auftreten der ersten Grippefälle bei der kämpfenden Truppe im deutschen Heer (wohl schon April 1918) die erkrankten Soldaten – sofern Krankmeldungen überhaupt zur Kenntnis genommen und Grippekranke in ein Lazarett überwiesen wurden –, bei denen das Pfeiffersche Influenzabazillus nicht nachgewiesen werden konnte, häufig als Drückeberger beschimpft und ihre Kampfmoral angezweifelt. Winkle (2005), S. 1046 f. An Hygienemaßnahmen (im zivilen Bereich) wurde empfohlen, was sich in der Vergangenheit bereits vielfach bewährt hatte. Dem Ausbreitungsweg (nach Ansicht der Amtsärzte über Tröpfcheninfektion) wollte man durch Quarantäne, Desinfektion, Schulschließungen und der Unterbindung von Menschenansammlungen begegnen.

  31. Vgl. auch im Folgenden Rengeling (2017), S. 105.

  32. Der Reichsgesundheitsrat war zum ersten Mal am 10. Juli 1918 zusammengetreten, ein zweites Mal (auf Anfrage des Reichskanzlers) am 16. Oktober 1918.

  33. Lt. Jacobsen (leider ohne Quellenverweis) soll auch über weitere Maßnahmen diskutiert worden sein: vom Tragen eines Mundschutzes über das Verbieten des Ausspuckens auf der Straße bis zum Verbot, alte staubige Bücher zu öffnen; ebenfalls untersagt wäre das Händeschütteln gewesen. Jacobsen (2012), S. 125.

  34. Nach Berger seien die bloß allgemein gehaltenen Verhaltensmaßregeln und das Insistieren auf einer möglichst geringen Beunruhigung der Bevölkerung vor dem Hintergrund des Ausmaßes der Epidemie als Indizien für eine allgemeine Überforderung und Ratlosigkeit der Behörden zu werten. Berger (2009), S. 287.

  35. Rengeling (2017), S. 55. Die dritte Welle der "Spanischen Grippe" ab dem Frühjahr 1919 wäre kaum noch (medial) beachtet worden, da sich ab November 1918 die "mediale Agendasetzung" auf den Waffenstillstand, die Revolution und die Friedensverhandlung konzentriert hätte (a.a.O., S. 54, 105). Allerdings scheint (in Berücksichtigung der äußerst lückenhaften Datenlage) das Deutsche Reich vergleichsweise weniger von den Auswirkungen der Influenza bzgl. der Mortalität betroffen worden zu sein. So werden für das Deutsche Reich 300.000 influenzabedingte Todesfälle gegenüber 675.000 in den USA angenommen; allein der indische Subkontinent (damals Kolonie des Britischen Empires) war nach Schätzung mit 17-18 Mio. Toten betroffen, was vor allem auf die hohe Bevölkerungsdichte in Kombination mit einem kaum entwickelten Gesundheitssystem und einer Unterversorgung der Bevölkerung zurückgeführt wird.

  36. Auch die wissenschaftliche Hygiene (die als selbstständige Wissenschaft die meisten Probleme einer öffentlichen Gesundheitslehre in sich aufnahm und daher auch die wissenschaftlichen Grundlagen eines öffentlichen Gesundheitswesens "lieferte") stand seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem besonderen Einfluss und Eindruck der Bakteriologie (Ausdruck dessen war nicht zuletzt die Besetzung der meisten neuen Lehrstühle für Hygiene mit Bakteriologen) – somit auch, dass nahezu alle Probleme der Erkennung, Bekämpfung und Verhütung von Krankheiten durch die Bakteriologie zu lösen seien. Damit wurden die Problembereiche bzw. Faktoren der Hygiene (Umwelt-, Arbeits- und Sozialhygiene), die nicht bakteriologisch/mikrobiologisch determiniert sind, bei Maßnahmen der öffentlichen Hygiene weniger berücksichtigt oder gar vernachlässigt. Aber selbst heute noch wird häufig "Hygiene" mit Mikrobiologie identifiziert.

  37. Siehe ausführlich Leven (1997), S. 123-136, insbes. auch Berger (2009), S. 171-290.

  38. Vgl. Jacobsen (2012), S. 124, hier den im Auszug wiedergegebenen Bericht: beobachtete große Zahl von Begräbnissen/Leichenzügen, "pausenlos" fahrende Krankenwagen, überfüllte Krankenhäuser, personeller Notstand (ärztlichen u. pflegerischen Personals), geschlossene Theater, Geschäfte, Restaurants [wobei dies, wie oben erwähnt, nicht behördlichen Maßnahmen geschuldet war, sondern allein der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit der Arbeiter/Angestellten].

  39. Jacobsen (2012), S. 125.

  40. Selbst bei der dritten Welle waren die Behörden noch immer primär vom Szenario einer potentiellen Einschleppung von Kriegsseuchen absorbiert. Hinzu kam die mediale Desinformation im politischen Gehorsam, was die Ablenkung auf andere, als weitaus schlimmer deklarierte Gefahren [Revolution und Demobilisierung (1918/19), Heimkehrer/Flüchtlinge und die Rote Armee (1919-1923); siehe dazu Berger (2009), S. 267-290] ebenso einschloss, wie die Vermittlung einer moralischen Überlegenheit Deutschlands (trotz oder gerade wegen der Kriegsniederlage und v.a. des "Schandurteils von Versailles").

  41. Patrick Zylberman spricht nicht von einem Vergessen der Spanischen Grippe, sondern von einem Verschütten der Erinnerung. Zit. n. Rengeling (2017), S. 113.

  42. Siehe dazu insbes. Berger (2009), S. 291-390, sowie Rengeling (2017), S. 134 ff.

  43. Das Schweinegrippe-Virus von Typ A/H1N1 gehörte zum gleichen Subtyp wie der einige Jahre zuvor rekonstruierte Erreger der "Spanischen Grippe"; zudem kam das Virus nicht wie bei den Vogelgrippe-Pandemien 1950 und 1960 aus Hongkong, sondern aus Mexiko.

  44. Vgl. Rengeling (2017), S. 349.

  45. Rengeling (2017), S. 37 f.

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Prof. Dr. Caris-Petra Heidel ist Direktorin des Instituts für Geschichte der Medizin an der TU Dresden.