Begriffsklärung
Selbstoptimierung ist ein sehr kontrovers diskutiertes aktuelles gesellschaftliches Leitbild oder Orientierungsmuster für die individuelle Lebensgestaltung: Jeder und jede soll das Beste aus sich und seinem Leben machen. Von Trendforschern wird das 21. Jahrhundert als "Zeitalter der Selbstoptimierung" ausgerufen, und Soziologen sprechen von "Optimierungsgesellschaften", weil menschliche Optimierungsbestrebungen eine bislang unbekannte Präsenz, Radikalisierung und öffentliche Aufmerksamkeit erlangten.
Viele Kritiker lehnen Selbstoptimierung als solche ab, weil der Begriff des "Optimierens" aus dem technisch-ökonomischen Bereich stammt und daher mit Kriterien der Effizienz- und Produktivitätssteigerung in Verbindung gebracht wird. Eine ökonomisch-technische Grundhaltung scheint aber unangemessen zu sein für die menschliche Lebensführung und das praktische Selbstverhältnis von Personen. Seit Ulrich Bröcklings Diagnose eines "unternehmerischen Selbst" wird Selbstoptimierung in der Soziologie häufig als Chiffre oder Metapher für die neoliberale "Ökonomisierung des Sozialen" gelesen.
Selbstoptimierung und Enhancement
"Selbstoptimierung" und "Enhancement" sind Formen menschlicher Selbstverbesserungen. "Selbstoptimierung" ist aber mit Blick auf die dabei verwendeten Mittel der weitere Begriff. Denn Selbstoptimierung umfasst alle möglichen Methoden der Selbstverbesserung, sowohl neuste Technologien als auch weitgehend technikfreie traditionelle Praktiken wie Bildung, Körpertraining, Diät oder Meditation. Auch im Zeitalter der Selbstoptimierung verbessern sich die Menschen keineswegs nur mit technischen Mitteln, sondern zu einem großen Teil durch Überwindung von Gewohnheiten und Feilen an der eigenen Lebensführung, durch Arbeit an sich selbst und ihrer Persönlichkeit: Der Selbstoptimierungstrend hat einen riesigen Selbstentwicklungsmarkt mit einer Fülle an Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur, Coaching-Angeboten, Blogs, Vorträgen, Seminaren und Workshops z.B. zum lebenslangen Lernen, Zeit- und Selbstmanagement, Willens- und Motivationstraining hervorgebracht.
Enhancement bildet eine Sonderform der Selbstoptimierung und ist insofern der engere Begriff, als er sich auf bio- und neurowissenschaftlich fundierte technologische Methoden beschränkt. Der Neologismus "Enhancement" von engl. "to enhance" "steigern, erhöhen" impliziert zwar keine Vorstellung von einem optimalen Zustand, aber zur Selbstoptimierung werden durchaus auch sukzessive Selbstverbesserungen gezählt. Ebenso wenig lassen die konkreten Selbstverbesserungsmaßnahmen eine klare Unterscheidung zwischen qualitativen Veränderungen bei der "Selbstoptimierung" und rein quantitativen beim "Enhancement" zu, wie die beiden Termini "Optimum" und "to enhance" nahelegen könnten. Denn beim "emotionalen Enhancement" ("mood enhancement") z.B. ist das Ziel eine Stimmungsaufhellung oder Verbesserung des Wohlbefindens oder Wohlergehens mit eindeutig qualitativer Dimension. Bisweilen wird "Enhancement" wie bei der viel zitierten welfarist definition der Transhumanisten so weit verstanden, dass sie jede physische und psychische Veränderung umfasst, die "die Chancen erhöhen, ein gutes Leben zu führen".
Ziele der Selbstoptimierung
Worin genau das "Optimum" besteht und welches die konkreten Ziele der Selbstoptimierung sein sollen, steht nicht definitorisch fest. Optimiert werden können sämtliche Dimensionen des "Selbst", also z.B. physische, psychische, soziale und geistige Zustände oder Eigenschaften, Handlungsabläufe, Arbeitsprozesse, Kompetenzen etc. Definitionsgemäß stellt die Selbstoptimierung aber eine Verbesserung, d.h. eine Veränderung hin zu etwas Gutem oder Besserem dar. So gesehen ist der Begriff "Selbstoptimierung" nicht neutral, sondern impliziert eine positive Bewertung der jeweils anvisierten Veränderungen. Wenn radikale Befürworter suggerieren, sämtliche Selbstoptimierungsmaßnahmen wären schon aus begriffslogischer Notwendigkeit Verbesserungen und damit ethisch begrüßenswert, ist dies jedoch irreführend.
Gesundheit
Intelligenz
Gedächtnis
Selbstdisziplin
Empathie
In der Gegenwart ist eine heftige Kontroverse darüber entfacht, wer die Selbstoptimierungs-Ziele und die dahinterstehenden Wertmaßstäbe und Ideale festlegt. Aus Sicht der Kritiker werden Ziele, Ideale und das "Optimum" den Menschen "von außen" von der Gesellschaft vorgegeben. Sogar im DUDEN heißt es, Selbstoptimierung sei "jemandes (übermäßige) freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale".
Normative Mäßstäbe: Glück und Gerechtigkeit
Um die Ziele vermeintlicher Verbesserungshandlungen zu prüfen, bieten sich die beiden grundlegenden normativen Bezugsgrößen der Ethik an: "Glück" (1) und "Gerechtigkeit" (2). Obwohl es nicht immer explizit gemacht wird, ist das Generalziel menschlicher Selbstverbesserungen letzlich das persönliche Glück oder gute Leben.
Die individualethische Orientierungshilfe der Selbstoptimierung ist aber auch aus einer sozialethischen, moralischen Perspektive kritisch zu betrachten, weil eine Fokussierung auf sein eigenes "Selbst" die Gemeinwohlorientierung schwächen könnte. Optimierungsbestrebungen führen allerdings nicht notwendig zu narzisstischen, egozentrischen Einzelkämpfern und abnehmender Solidarität gegenüber Unperfekten, weil die Rücksichtnahme auf Um- und Mitwelt wie etwa beim Lifestyle der LOHAS ("Lifestyle of Health and Sustainability") genauso gewichtet werden kann wie die persönliche Gesundheit. Der omnipräsente Appell an ein positives Selbstverhältnis, Perfektionierung und Selbstverantwortung dürfte aber gerade bei Unterprivilegierten negative Gefühle des Ungenügens und der Minderwertigkeit verstärken. Denn sie können sich insbesondere teure Enhancement-Technologien z.B. im Bereich der Gentechnik nicht leisten. Dadurch käme es zu einer Verschärfung der Chancenungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit insbesondere im Fall drastischer Verbesserungen z.B. des Immunsystems oder der Intelligenz.
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