Vorbemerkung zum Standpunkt
Patienten jedweden Alters kommen zum Neurochirurgen (oder werden gebracht) mit der Frage, ob sich Erkrankungen oder Verletzungen des Nervensystems durch eine Operation heilen oder lindern lassen. Der folgende Beitrag argumentiert vor dem Hintergrund konkreter Erfahrungen: Seit über zwölf Jahren leitet der Autor ein 14-köpfiges Neurochirurgen-Team aus fünf Nationen an der ältesten Klinik Deutschlands in kommunaler Trägerschaft (eröffnet 1874) – in einem Krankenhaus mit derzeit 1.000 Betten für zwei Dutzend medizinischer Fachdisziplinen im Friedrichshain. In der Rettungsstelle dieses Klinikums werden täglich 150 bis 300 körperlich oder seelisch Erkrankte und Verletzte gesehen – nicht selten alte, vereinsamte Menschen, Obdachlose sowie Drogen- und Alkoholabhängige. Andererseits werden speziell in die Neurochirurgie geplant Patienten mit komplexen Tumoren oder Verschleißerscheinungen des Schädels und der Wirbelsäule sowie Patienten mit Hormonstörungen durch Erkrankungen der Hirnanhangdrüse zugewiesen.
Häufig wird nach operativen Möglichkeiten der Verbesserung der Hirndurchblutung gefragt, etwa durch die mikro-neurochirurgische Anlage eines ,Bypass‘, bei dem die Schlagadern mit Fäden genäht werden, die halb so stark sind wie Frauenhaar. Der Autor nimmt aktiv am Bereitschaftsdienst teil. Im Jahr 2017 wurde er vom Chefarztkollegium zum ehrenamtlichen Ärztlichen Direktor des Klinikums gewählt.
Auf der Basis dieser Erfahrungen – und das bedeutet eben: aus einem persönlichen Standpunkt heraus – soll im Folgenden auf zwei latente Probleme des deutschen Gesundheitswesens aufmerksam gemacht werden: Es handelt sich dabei um ein (bio-)ethisches und um ein ökonomisches Problem.
Neurochirurgie im Spannungsfeld bioethischer Themen
In der Neurochirurgie spielen Fragen der Medizinethik, besonders der Ärztlichen Ethik, der Klinischen Ethik und der Pflegeethik eine Rolle. Neben dem beruflichen "Know how" der praktizierenden Ärzte und Pflegekräfte geht es stets auch um Verantwortung und Anerkennung in der lebendigen Beziehung zum Patienten, der grundsätzlich seine Autonomie bewahrt und dessen Würde die Leitlinie der Neurochirurgie bildet. Im Weiteren sollen einige Problemfelder beschrieben werden, in denen die ethischen Leitlinien zugunsten situativer Entscheidungen vernachlässigt oder "gebeugt" werden müssen; dazu zählen: Paternalismus bspw. in Fällen von Drogenabhängigkeit etc. Darüber hinaus werden strukturelle Probleme des Gesundheitssystems markiert, die aufgrund eines Überhangs von ökonomischen und verwaltungstechnischen Paradigmen generiert werden.
Zu zwei Problemen im derzeitigen Gesundheitssystem
Das ethische Problem
Früher galt das Wohlergehen des Patienten als höchstes Gut in der Medizin (Salus aegroti suprema lex). Im Rahmen einer erstarkenden Patienten-Autonomie wird heutzutage dessen Selbstbestimmung primär favorisiert (Voluntas aegroti suprema lex). Beide Begriffe sollen zunächst umrissen werden, um anschließend ihr Verhältnis ethisch näher bestimmen zu können:
Unter Wohlergehen (salus) lassen sich körperliche und seelische Gesundheitsmomente fassen. Nach Ansicht des Autors gehört sicher nicht hierzu: verletzt, getreten, misshandelt, mit Drogen abhängig gemacht und in die Illegalität getrieben zu werden. In die Bestimmung des Wohlergehens im Sinne eines ethischen Maßstabs für Mediziner spielen sowohl Beobachtungen des Arztes als auch das Erleben und Empfinden des Patienten hinein; im besten Fall bringt ein Gespräch Aufschluss über die Gesamtsituation.
Würde, Autonomie und Freiheit sind die Grundlagen des zweiten Prinzips. Ein Recht auf Selbstbestimmung (voluntas) zählt zu den verfassungsmäßig geschützten Grundrechten einer jeden Person. Im konkreten Fall setzt ein autonomer Entschluss allerdings Bewusstsein und Geschäftsfähigkeit voraus. Auch hier müssen Umstände und die wechselseitige Beziehung Arzt-Patient berücksichtigt werden.
Zwischen diesen beiden komplexen Grundsätzen kann nun ein Wertekonflikt entstehen, insbesondere in Gegenden mit einer fehlenden klinischen Sozialpsychiatrie, wo also die Umstände der je konkreten Krankheitsbedingungen nicht weiter erhellt werden können; dies sei nachstehend veranschaulicht.
Es gibt beispielsweise in Berlin viele impulsgehemmte, offenkundig psychiatrische Erkrankte, die zwar drogenabhängig, aber nicht andauernd geschäftsunfähig sind. Zumeist sind sie überwiegend uneinsichtig im Hinblick auf eine gebotene (längerfristige) Behandlung. Sie leben in einem Ambiente, in dem derart Geschwächte einer offenkundigen Selbst- und Fremdgefährdung ausgesetzt sind.
Ein Paradoxon liegt nun darin, dass diese Menschen, wenn sie ein Delikt begehen, tatsächlich vor den Folgen ihrer Handlungen geschützt werden können, indem sie – dann auch gegen ihren Willen – längerfristig in die forensische Psychiatrie eingewiesen werden. Solange sie nicht straffällig sind, werden sie derzeit (in Berlin) immer wieder auf freien Fuß gesetzt. Meist lernen sie während der durch das derzeitige Abrechnungssystem vorgegebenen Kurz-Aufenthalte in der Psychiatrie ähnlich Entwurzelte kennen. Mit denen treffen sie sich dann extra-klinisch (negative peer group) und die Fehlentwicklung wird verstärkt. Nicht selten folgen Bewusstseinsverluste aus inneren oder äußeren Anlässen, gefolgt von zahllosen "Rettungs"-Einsätzen mit Notarztwagen, Aufenthalten in Akutkliniken, um dann bei der nächsten Gelegenheit dort wieder zu verschwinden, und der Teufelskreis beginnt von vorn. In erlebten Einzelfällen werden dabei insbesondere alkoholabhängige Frauen eingeliefert, die Opfer von Rohheitsdelikten, Vergewaltigungen etc. geworden sind und deren erhebliche Verletzungen auch (vermeidbar) zum Tode führen können. Zu mildern wären derartige Phänomene auf lange Sicht lediglich (sofern das ohne gesellschaftlichen Wandel und genetisch für Einzelfälle überhaupt aussagbar ist), wenn sich politische Änderungen ergäben, die zur Etablierung klinischer Sozialpsychiatrien (mit nachhaltigeren Resozialisierungsansätzen als in den derzeitigen Kurzzeitpsychiatrien) und in einer Modifikation der Gesetzgebung führen.
Das ökonomische Problem
Cathy Tokarski (1995) hat in den 1990er Jahren pointiert auf eine kardinale Änderung im Gesundheitssystem hingewiesen, indem sie den Übergang vom Barmherzigkeits-Prinzip (welches in politischen Systemen mit freier Marktwirtschaft kaum noch finanzierbar erschien) zum Ökonomie-Prinzip thematisierte. Sie spielt mit der Wortwahl im Titel ihrer Publikation (Wem die Stunde schlägt) beeindruckend sowohl auf die ideologische Dialektik im spanischen Bürgerkrieg (Hemingway 1940) als auch auf eine allgemeinere Verantwortungsverpflichtung an, die einem jeden in sozialen Gefügen zukommt (Donne, vor 1631). Im derzeitigen Anreizsystem des deutschen Gesundheitswesens ist es so, dass Ärzte möglichst viele "Erlöse" generieren sollen, und vertraglich ihre Entlohnung davon abhängen kann. Dabei ist bereits die Wahl der Bezeichnung suggestiv: Denn unter "Erlös" wird hier nicht das Resultat eines "strebenden sich Bemühens" (Goethe 1831) verstanden, sondern,irgendwie in Anschlag zu bringendes Geld‘. Dieser Ansatz verleitet nicht unbedingt dazu, Patienten zunächst ohne viel materiellen Aufwand, konservativ abwägend und mit wiederholten Gesprächen zu behandeln.- Der Ansatz führt eher dazu, aufwändige Verfahren und Operationen zu indizieren, nicht selten mit Implantaten. Für die administrativen Träger von Krankenhäusern sind dabei paradoxerweise sogar diejenigen Fälle interessant, die sehr komplex verlaufen. Nicht selten verbergen sich dahinter ältere Patienten mit vielen Begleiterkrankungen, bei denen es im Verlauf von Eingriffen zu Komplikationen mit längerem Aufenthalt auf der Intensivstation, mit Dialyse und einer Vielzahl an Beatmungsstunden gekommen ist.
In vielen operativen Fachdisziplinen fehlen beispielsweise vergleichende Studien, ob und wann Patienten, bei denen die moderne Bildgebung (etwa CT oder MR) zufällig einen (oft stummen) Befund zutage gebracht hat, zunächst auch einer konservativen Verlaufsbegleitung zugeführt werden könnten. Da heutzutage auch Ordinarien unter Wirtschaftszwängen stehen, und da (in gleichsam vorauseilendem Gehorsam) viele Chefs im Vergleich viel operiert haben wollen, werden auch an Universitäten Patienten mit Bildbefunden operiert, zu denen gar nicht zweifelsfrei belegt ist, dass ein operatives Verfahren einem konservativen überlegen ist. Als Aufgabe allgemeiner Krankenhäuser wird zudem von deren Administratoren formuliert, es sei nicht Auftrag der Einrichtung, Patienten zu heilen, sondern sie "entlassfähig" zu machen. Und zwar in demjenigen Zeitfenster, welches vom Abrechnungssystem als optimal ausgewiesen wird.
Verschärft wird die Finanzmittelknappheit auch durch die Nichterfüllung ausreichend bereitgestellter Gelder gemäß des Gesetzes einer dualen Krankenhausfinanzierung (Naegler u Wehkamp 2018). Damit dennoch alles recht günstig verläuft, werden zum einen Krankenkassenerlöse – etwa für Instandhaltung – zweckentfremdet und zum andern am hauptsächlichen Kostenfaktor Personal gespart. Für die Patienten entsteht deshalb häufig der Eindruck einer übergroßen Zeitknappheit bei den meisten Protagonisten. Dabei wird in unserem westlichen Medizinverständnis leicht übersehen, dass ein Kranker i.d.R. mehrere Angehörige hat, deren Gemüter ebenfalls aus dem Gleichgewicht gekommen sein können, die informiert und ggf. getröstet werden möchten, ohne dass der hierzu erforderliche Personalbedarf systematisch erfasst wäre. Die jüngst vorgeschriebenen Personalbemessungsuntergrenzen dürfen als ein erster Versuch gesehen werden, hier seitens des Gesetzgebers gegenzusteuern. Allerdings sind derlei Vorschriften leichter zu erlassen, als dass sie in der vielfach geschachtelten Realität mit landesweit fehlenden Spezialkräften umzusetzen wären.
Über den strukturellen Zusammenhang der beiden Probleme
Die beiden Problembereiche werden nicht nur unter klinischem Fachpersonal diskutiert, sondern gehören auch weithin zur Einschätzung der Bevölkerung. Auf der einen Seite werden die Begegnungen zwischen Arzt und Patient durch den ökonomischen Zwang in ihrer ethischen Dimension gestört. Verwaltungsvorgaben und finanzielle Forderungen überlagern die eigentliche Aufgabe der Ärzte sowie der Pflegekräfte und auch die Rolle der Angehörigen von betroffenen Patienten.
Auf der anderen Seite führt der moralische Anspruch, der in den meisten Fällen aus einer intrinsischen Motivation der Ärzte und zugleich aus einem Berufsethos heraus entsteht, dazu, dass das medizinische Personal sich in einem Konflikt zwischen Qualität und Quantität der Betreuung geradezu aufreibt. Für die Patienten wiederum führt dieser Konflikt dazu, dass sie nur noch in einen bestehenden Betrieb eingepasst werden, statt umgekehrt zu einem angemessenen Einsatz der vorhandenen medizinischen Mittel zu gelangen. Im Nachgang eines Symposions zur "Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft" ließe sich also kritisch formulieren: "Ein angemessenes Medizin-Konzept berücksichtigt kognitive, emotionale, ethisch-spirituelle und gesellschaftliche Dimensionen. Die Nichtbeachtung dieser Mehrdimensionalität ist derzeit als Defizit wahrnehmbar." (Rössler u. Waller 1988, bes. pp 74, 81).
Auf der allgemeinen Ebene wäre für eine Verbesserung der Situation nötig, eine technologisch aufgewertete Verwaltung als unterstützende, nicht als lenkende Instanz einzusetzen. Forschung und Anwendung sollten in einen direkteren Austausch gebracht werden, der in einem gemeinsamen fachlichen und ethischen Diskurs stattfinden kann.
Für die konkrete Begegnung zwischen Klinikpersonal und Patient würden durch diese Maßnahmen nachträglich Voraussetzungen geschaffen, die zur Berücksichtigung eines zeitgemäßen klinischen Selbstverständnisses eigentlich von vornherein unabdinglich sind.
Schlussfolgerung
Der Autor plädiert für einen kritischen Diskurs zu beiden, hier nur oberflächlich anreißbaren Problemen: dem des "Wohlergehens gegenüber einem Selbstbestimmungsrecht" und dem der Entlohnung medizinischer Leistung (inklusive fächerübergreifender Definitionen) (Ringkamp u. Wittwer 2018). Geboten erscheint zumindest eine stärkere Integration zweier Prinzipien in das deutsche Gesundheitssystem: das einer allgemeineren Finanzierung nach übergeordneten Solidarprinzipien und das einer neu zu stärkenden Eigenverantwortung ärztlichen Tuns, mit einer geringeren Abhängigkeit vom wirtschaftlichen "Erlös".
Geradezu verwunderlich angesichts der genannten Probleme bleibt allerdings, dass wir fast weltweit um das derzeitige Gesundheitssystem in Deutschland beneidet werden, und dass es trotz aller Misslichkeiten, dank Idealismus – und zwar auf allen Hierarchie-Ebenen – so erfolgreich geblieben ist und schlussendlich doch einer großen Anzahl an Patienten geholfen werden kann. Diese erfreulichen Zustände sollten nichtsdestotrotz Ansporn zu weiteren Bemühungen, Verbesserungen und Reformen sein.
Danksagung
Für konstruktive Diskurse bedankt sich der Autor bei: Herrn Prof. Dr. Karsten Fischer (Politikwissenschaft/München), Frau Dr. Alexandra Lingesleben (Neurologie und Psychiatrie/Berlin), Frau Prof. Dr. Dagmar Schmauks (Semiotik/Berlin), Herrn Dr. Alexandros Tassinopoulos (Agentur für Arbeit/Berlin) sowie Herrn PD Dr. Josef Zander (Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin/Dortmund)
Literatur
Donne J (vor 1631) Meditation N° 17. In: Alford H (ed) The Works of John Donne. London, John W. Parker. 1839; vol 3, pp 574-575.
Goethe JWv (1831) Engel: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." In: Zoozmann R (Hrsg) Goethes Meister-Werke, Band II (Faust II, Vers 11936). Verlagsdruckerei "Merkur", Berlin (sine anno, ~ 1900), p 143.
Hemingway E (1940) For Whom the Bell Tolls. New York, Scribner.
Naegler H, Wehkampf KH (2018) Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung. Krankenhausärzte und Geschäftsführer im Interview. Berlin, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Ringkamp D, Wittwer H (Hrsg) (2018) Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen. Freiburg/München, Verlag Karl Alber.
Rössler D, Waller HD (Hrsg) (1988) Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Drittes Blaubeurer Symposion vom 30. September – 2. Oktober 1988. Tübingen, Attempto Verlag Tübingen.
Tokarski C (1995) As Catholic hospitals begin to merge with for-profit health systems, leaders of both are wondering for whom the church bell tolls. Hosp Health Netw 69: 41-43.