Synthetische Biologie bezeichnet ein Forschungsfeld, das sich mit der Veränderung bestehender sowie der Entwicklung neuer biologischer Systeme beschäftigt. Als Forschungsfeld ist sie zunächst, historisch wie inhaltlich, mit Verfahren der Gentechnik verwandt. Der Fokus liegt jedoch nicht darauf, einzelne erwünschte Merkmale in Organismen hervorzubringen oder zu unterdrücken. Vielmehr geht es heute darum, bestehende Funktionen von Organismen zielgerichtet zu verändern (z.B. als Zell-Fabriken), neue Funktionen von Organismen bereitzustellen (z.B. als Datenspeicher) und letztlich auch vollständig künstliche Minimal-Zellen oder Protozellen (Rasmussen et al., 2009) zu entwickeln, die nicht mehr zu den bekannten Lebensformen gehören würden.
Einem Forscherteam um Craig Venter gelang es im Jahr 2010, Organismen mit einem vollständig "künstlichen" Genom, d.h. nach Vorlage im Computer designter, synthetischer DNA Sequenzen auszustatten (Gibson et al., 2010). In der Folge wurden synthetische Organismen "programmiert" um Biosprit (Choi & Lee, 2013; Howard et al., 2013) und medizinische Wirkstoffe (Weber & Fussenegger, 2011) zu erzeugen oder zusätzliche Basenpaare in das "Alphabet" des Genoms einzufügen, um synthetische Organismen als Datenspeicher zu verwenden (Zhang et al., 2017). Noch befinden sich die meisten dieser Anwendungen im Versuchs- oder proof-of-principle-Stadium (in diesem Stadium soll die grundsätzliche Durchführbarkeit belegt werden), doch bieten sie bereits einen ersten Eindruck, auf welchen Ebenen Synthetische Biologie eingesetzt und Forschung betrieben werden kann.
In der Verknüpfung von Disziplinen wie der Molekularbiologie, Organischen Chemie, Informationswissenschaften, Nanotechnologie und Bereichen der Medizin kann Synthetische Biologie als Ingenieurswissenschaft beschrieben werden (Köchy, 2012), deren Kernidee von Vertretern aus den eigenen Reihen als "Digitalisierung" der Biologie bezeichnet wird (Venter, 2013). Man findet hier häufig das Ansinnen, Lebewesen mit neuen Funktionen zu erzeugen.
Verortung im ethischen Sprachspiel
Ob Digitalisierung oder Modifizierung: Eingriffe in das Genom sind umstritten. Bei Menschen, Tieren und auch Pflanzen wird nach wie vor um zulässige und unzulässige Anwendungen von gentechnischen Verfahren gerungen. Bei Eingriffen am Genom von Bakterien regt sich merklich weniger Widerspruch. Sie sind, da meist unsichtbar, auch kein typischer Gegenstand moralischer Auseinandersetzung. Anders als bei empfindungsfähigen und leidensfähigen Lebewesen, wie Menschen und Tieren, wird es bei Pflanzen bereits schwierig, moralisches Vokabular wie "Mitleid" oder ethische Konzepte wie ein "gutes" oder "gelungenes Leben" in Anschlag zu bringen. Bei Bakterien versagt auch die Kraft der Metaphern. Anders als bei Wäldern, Blumenwiesen und Landschaften, lässt sich den meist unsichtbaren Bakterien noch nicht einmal eine "Naturschönheit" abgewinnen.
Wer verantwortet die Folgen des Einsatzes Synthetischer Biologie?
Mit der computergestützten "Programmierung" von Organismen in der Synthetischen Biologie gehen auch Versuche der Standardisierung von funktionalen Bauteilen und Modulen einher. Nach dem aus der Softwareentwicklung stammenden Prinzip des frei zugänglichen Quellcodes (Open Source) sind auf Seiten wie Externer Link: http://parts.igem.org/Catalog modulare Komponenten für "Open Wetware"
Die Idee einer freien Zugänglichkeit von Bauplänen und Wissen um funktionale Einheiten in Organismen hilft einerseits einen Patentdschungel zu vermeiden (Ledford, 2013), der weitere Forschung und Entwicklung hemmen könnte, andererseits ermöglicht diese Offenheit, dass Synthetische Biologie nicht nur in institutionalisierten Universitätseinrichtungen und Forschungsabteilungen betrieben wird. Auch außerhalb des akademischen Rahmens haben sich sogenannte "Biohacker"-Gruppen etabliert (auch die Selbstbezeichnung "Hacker" weist auf Parallelen einer "Programmierbarkeit" von Organismen ähnlich wie einer Programmierbarkeit von Software hin), die in ihrer Freizeit Genome sequenzieren (z.B. ihre eigenen) oder Tabakpflanzen mit Leucht-Genen versehen (Bennett, Gilman, Stavrianakis, & Rabinow, 2009). Eine Biotechnik, die in ihren Grundzügen offen zugänglich und derart leicht zu handhaben ist, dass sie von Biohackern sowie Nachwuchswissenschaftlern in ihrer Ausbildung (und nicht nur von renommierten Forscherteams) durchgeführt wird, bietet einerseits große Chancen, ein Wissensgefälle zwischen globalem Süden und globalem Norden zu vermeiden, ist andererseits aber entsprechend schwierig zu kontrollieren. In Deutschland fallen Anwendungen der Synthetischen Biologie unter Regelungen zur Gentechnik und werden entsprechend streng reglementiert. Da sich auch bereits ausgerottete Krankheitserreger mit Mitteln Synthetischer Biologie wieder herstellen lassen, steckt ein Potenzial für terroristische Verwendung in der Technologie. Dieses Potenzial ist nicht mehr mit Mitteln der Forschungspolitik allein zu bewältigen und wird von staatlichen Sicherheitsinstitutionen (Wolinsky, 2016) inzwischen als fester Faktor einer veränderten weltweiten Sicherheitslage berücksichtigt. Die Verantwortung für Sicherheit und Folgen eines (unkontrollierten) Einsatzes der neuen Möglichkeiten in der Synthetischen Biologie reicht damit nicht nur über das Forschungsfeld und über nationale Zuständigkeiten hinaus, sondern ist bereits zu einer globalen Aufgabe geworden.
Wer profitiert und wer trägt Risiken des Einsatzes Synthetischer Biologie?
Eine Bruchlinie zieht sich entlang der sozialethischen Frage, wie Vor- und Nachteile verteilt sind, die durch neue Produkte entstehen können. Als mildes Beispiel kann dafür eine der ersten kommerziellen Anwendungen Synthetischer Biologie dienen: die Produktion eines Anti-Malaria-Medikaments (Artemisinin) durch genetisch modifizierte Hefe, die 2014 auf den Markt kam. Ohne synthetische Herstellung kann Artemisinin auch aus dem Einjährigen Beifuß (Artemisia annua) gewonnen werden, der in Afrika und Asien geerntet wird. Nichtregierungsorganisationen meldeten daraufhin Bedenken an, dass durch die synthetische Produktion der Lebensunterhalt von Bauern in ärmeren Regionen angegriffen werde, die den Einjährigen Beifuß für die Artemisininproduktion ernten (ETC, 2011, p. 40).
In diesem Fall entschärfte sich die Lage, da – von der Bill & Melinda Gates Foundation in der Entwicklung gefördert – das synthetisch erzeugte Medikament in einem "no profit – no loss" Modell angeboten wird, das niedrige Preise und feste Verfügbarkeit sicherstellen soll. Zudem fielen die Ernten des Einjährigen Beifuß in den letzten Jahren sehr reichhaltig aus, sodass die synthetische Herstellung nicht wesentlich günstiger war und den regulären Anbau nicht in einem Preiskampf verdrängte (Peplow, 2016). Für zukünftige kommerzielle Anwendungen wird jedoch weiterhin zu fragen sein, ob durch neue Synthetische Produkte neue Ungleichgewichte oder Abhängigkeiten entstehen, gerade wenn nicht nur Wirkstoffe mit philanthropischer Motivation produziert werden, sondern auch Gewebe, personalisierte "smart medicine", "smart bio-chips" etc.
Der Wert des natürlichen und der Wert des künstlichen Lebens
Eine weitere Bruchlinie zieht sich zwischen einem einerseits technischen Verständnis von "Leben", das von einer "Software des Lebens" (Venter, 2009, p. 538) ausgeht, die auf beliebig programmierbarer biologischer Hardware (bzw. Wetware) läuft, und andererseits sozialen Kontexten, in denen "Leben" als irreduzibler Begriff für das Ganze des (gelingenden oder misslingenden) empfindungsfähigen Daseins steht. Erstens impliziert die metaphorische Redeweise von einer "Software des Lebens", dass Prozess und Funktionsweise der Phänomene des Lebendigen schon im Wesentlichen bekannt sind. Eine vorschnelle Bestimmung des Lebens als nun beliebig (re-)produzierbar birgt die Gefahr der menschlichen Selbstüberschätzung in sich. Es impliziert, dass z.B. auf Biodiversität und Erhaltung von Arten weniger Rücksicht genommen werden müsse, da in naher Zukunft über Erfolge der Synthetischen Biologie eine De-Extinction (Cohen, 2014; Robert, Thévenin, Princé, Sarrazin, & Clavel, 2017) möglich wird, d.h. ausgestorbene Lebewesen wieder zum Leben erweckt werden können. In Bezug auf derlei Zukunftsaussichten sei daran erinnert, dass die Frage "Wohin mit dem strahlenden Abfall von Atomkraftwerken?" auch einmal zukünftigen Erfolgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts überlassen wurde. Seither wird das Problem der Atommülllagerung an jede kommende Generation ungelöst weitergereicht. Eine verkürzte Sichtweise auf in Aussicht stehende und tatsächlich durchführbare Handlungsoptionen unhinterfragt zum Ausgangspunkt von Entscheidungen für zukünftige Generationen zu machen, kommt einer Auslagerung der eigenen Verantwortung auf zukünftige Generationen gleich. Zweitens: Unabhängig davon, in welcher nahen oder fernen Zukunft Organismen beliebig produzierbar und reproduzierbar sein könnten – die Frage danach, was "Leben" ist, wird bei einem funktionalen Verständnis von "Leben" nur mit einer Aufzählung bekannter Funktionen beantwortet werden können. "Leben" wird damit, wie es Boldt, Müller und Maio ausdrücken, "verdinglicht" (Boldt, Müller, & Maio, 2009, p. 56) und mit seiner maschinellen Verwendbarkeit gleichgesetzt. In der biotechnischen Verwendung und Gestaltung von Organismen sind sie jedoch nicht mehr als Naturgegenstände, sondern bereits als technisch überformte Biofakte (Karafyllis, 2006) auf dem Labortisch und damit werden ihre weiteren Eigenheiten ausgeblendet. Außerhalb wissenschaftlich-technischer Bedeutungszusammenhänge ist der Begriff des Lebens ein semantisch reichhaltiger Bezugspunkt, der Leben auch und gerade in seinen unbekannten Facetten anspricht, die im "Recht auf Leben", dem "Wunder des Lebens" oder dem "Wert des Lebens" mitklingen. So wird zugleich die Unbestimmtheit wie auch die Sonderstellung von sich entwickelnden Entitäten benannt, die über eine gemeinsame Abstammungsgeschichte verbunden sind. Damit ist nicht gesagt, dass eine Verwendungsweise "richtig" und die andere "falsch" ist, sondern, dass sie verschiedenen Kontexten, verschiedenen Sprachspielen angehören, nebeneinander bestehen und dass sich diese Bedeutungsunterschiede nicht auf eine Verwendungsweise in nur einem Kontext reduzieren lassen.
Die anfangs verhandelte Frage nach dem Eigenwert von Mikroorganismen taucht hier in veränderter Gestalt wieder auf, denn auf der Beschreibungsebene der "Software des Lebens" werden Organismen natürlicher Abkunft mit den (noch in der frühen Forschungsphase befindlichen) vollständig künstlich erzeugten Organismen, sogenannten Protozellen (Bedau & Parke, 2009; Rasmussen et al., 2009), gleichgesetzt. Spätestens hier wird Technisches und Natürliches, Gemachtes und Gewordenes miteinander vermengt. In der technischen Umgestaltung von Lebensformen, die menschlichen Zwecken gehorchen, wird jedoch, um einen Gedanken von Hans Jonas aufzugreifen, die belebte Natur um ihre Eigenständigkeit gebracht, die erstens Menschen als moralische Wesen hervorgebracht hat und zweitens, gerade in ihrer Ferne von menschlichen Zwecken und Wünschen, auch als Anschauungsraum für spätere Generationen erhalten bleiben sollte (Jonas, 1987, p. 47). An welcher Schwelle ein solcher Anschauungsraum erhalten bleiben soll, steht bei jeder Technologie mit Fernwirkung zur Diskussion und wird, wenn sich im Forschungsfeld der Synthetischen Biologie auch nur ein Bruchteil der "proof-of-concept"-Anwendungen umsetzten lässt, noch oft zu führen sein. Um die ethischen Bruchlinien zusammenzufassen: Synthetische Biologie, obwohl sie zum Feld der Lebenswissenschaften zu zählen ist, wirft erstens technikethische Fragen nach verantwortbaren Folgen des Einsatzes neuer Biotechnologien auf. Zweitens spielen sozialethische Fragen nach einer gerechten Verteilung der Vor- und Nachteile von Anwendungen Synthetischer Biologie eine zentrale Rolle. Drittens stellen sich anthropologische Fragen, ob sich der Mensch mit Mitteln der Synthetischen Biologie zum Schöpfer aufschwingt und viertens, damit verbunden, entsteht eine auch forschungsethische Frage, was es für das Verständnis von "Leben" in seinen wissenschaftlichen, wie auch (normativ aufgeladenen) alltagsweltlichen Kontexten bedeutet, wenn tatsächlich versucht wird, gänzlich neue Lebewesen zu schaffen .
Literatur
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