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Standpunkt: Die pathozentrische Position in der Tierethik

Dr. Heiner Michel

/ 9 Minuten zu lesen

Darf man nichtmenschliche Tiere aufziehen und töten, um sie zu essen? Heiner Michel meint, dass wir auf das Leid empfindungsfähiger Tiere Rücksicht nehmen sollten. Aus dieser Rücksicht allein erfolge aber noch kein direktes Tötungsverbot.

Industrielle Fleischproduktion, hier auf einem Geflügelschlachthof im Mai 2017: Schon vor sechs Jahren wurden laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage in der industriellen Schlachtung pro Stunde bis zu 80 Rinder, 750 Schweine und mehr als 10.000 Hühner geschlachtet. (© picture-alliance/dpa)

Darf man nichtmenschliche Tiere aufziehen und töten, um sie zu essen? Das ist aufgrund der enormen Zahl der betroffenen Tiere eine der Kernfragen der Tierethik. Generell untersucht die Tierethik, ob und in welchen Hinsichten wir moralische Rücksicht auf Tiere nehmen sollten. Dieser Standpunkt zur Tierethik vertritt eine pathozentrische Position, nach der wir auf das Leid empfindungsfähiger Tiere Rücksicht nehmen sollten, diskutiert ihre Relevanz für den Fleischverzehr und skizziert abschließend neuere Entwicklungen in der tierethischen Forschung.

Die anthropozentrische Position

Das grundsätzliche Vorgehen in der Tierethik besteht in der Untersuchung, ob moralische Kriterien und Prinzipien, die für den Umgang mit Menschen gelten, auch auf Tiere Anwendung finden müssen. Anthropozentrische Positionen in der Tier- und Naturethik gehen davon aus, dass moralische Kriterien und Prinzipien nur auf Menschen Anwendung fänden, und wir folglich nur auf Menschen um ihrer selbst willen moralische Rücksicht nehmen müssten. Nachbars Katze dürften wir demnach nur deshalb nicht quälen, weil dies gegen die Interessen des Nachbarn verstieße.

Begründet wird die anthropozentrische Position in der Regel mit der Rücksicht auf Vernunft. Dieses Kriterium schließt auch einige nichtmenschliche Tiere in die Moral ein, nämlich alle, die ebenfalls über die Fähigkeit zur Vernunft verfügen. Das Vernunftkriterium ist allerdings problematisch: Es schließt nicht alle Menschen in die Moral ein. Menschen, die noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht über die Fähigkeit zur Vernunft verfügen, hätten keinen Anspruch auf moralische Rücksicht: Säuglinge, Menschen mit Demenz und Menschen mit schwerster geistiger Behinderung. Möchte man auch sie in die Moral mit einschließen, muss man die anthropozentrische Position ergänzen.

Die pathozentrische Position

Im moralischen Umgang mit anderen Menschen nehmen wir nicht nur Rücksicht auf ihre Autonomie, sondern auch auf ihre Empfindungen. Wir berücksichtigen, dass andere ein Interesse daran haben, negative Empfindungen wie Schmerzen zu vermeiden und positive Empfindungen wie Freude zu haben. Auch viele Tiere sind empfindungsfähig und dementsprechend moralisch zu berücksichtigen. Empfindungsfähige Tiere nur deshalb von moralischer Rücksicht auszunehmen, weil sie Tiere sind und nicht der Spezies Mensch angehören, wäre unbegründet und speziesistisch.

Für die Zuschreibung von Schmerzempfindungen an Tiere gelten, abgesehen vom sprachlichen Ausdruck, grundsätzlich die gleichen Kriterien wie für Menschen: ein spezifisches Ausdrucksverhalten und Vokalisation, die Änderung von Verhaltensroutinen, physiologische Veränderungen wie die Beschleunigung der Herz- und Atemfrequenz sowie das Vorhandensein von morphologischen und neurophysiologischen Bedingungen wie Nozirezeptoren und Hirnarealen, die schädigende Reize verarbeiten können.

Die Zuschreibungsfrage ist von der ‚Anfühl‘-Frage zu unterscheiden. Wir können empfindungsfähigen Tieren zuschreiben, dass sie Schmerzen empfinden, aber wir können nicht genau wissen, wie sich Schmerzen für die Mitglieder anderer Arten anfühlen, etwa für eine Maus oder eine Meise. Daraus folgt aber nicht, dass das Schmerzempfinden von Menschen grundsätzlich gravierender sei und ihm deshalb mehr moralische Relevanz zukäme als dem von Tieren. Um dem Speziesismusvorwurf zu entgehen, müsste man ergänzen, warum menschlicher Schmerz grundsätzlich moralisch gravierender sein sollte. Ein mögliches Argument wäre, dass reflektierter Schmerz gravierender sei. Gegen das Reflexionsargument lässt sich allerdings einwenden, dass Reflexion auch die Distanzierung von der eigenen Schmerzempfindung erlaubt und reflektierter Schmerz deshalb nicht grundsätzlich gravierender sein muss als nicht reflektierter.

Darf man Tiere töten?

Aus der pathozentrischen Position folgt kein direktes Tötungsverbot. Sofern das Töten ohne die Zufügung von Leid geschieht, ist es erlaubt. Für die Begründung eines Tötungsverbots bedarf es eines zusätzlichen Arguments, etwa der Rücksicht auf Überlebensinteresse, also auf das unmittelbare Interesse am Überleben und auf zukunftsgerichtete Interessen.

Was aber ist mit der Intuition, dass das Töten von empfindungsfähigen Tieren moralisch problematisch ist, auch wenn diese über kein Überlebensinteresse verfügen? Eine Ausbuchstabierung dieser Intuition bietet das so genannte Beraubungsargument. Nach ihm beraubt man empfindungsfähige Wesen zukünftiger, positiv erfahrener Lebenszeit. Man denke beispielsweise an Jungtiere, deren Herumtollen pure Lebenslust zu versprühen scheint. Ihr Tod würde sie dieser positiven Erfahrung berauben. Das Beraubungsargument ist allerdings defekt. Zwar ist es richtig, dass getötete Tiere um eine positiv erfahrene Lebensspanne beraubt werden; sofern sie kein zukunftsgerichtetes Interesse daran haben, kann dieses Interesse aber nicht missachtet werden.

Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen: Das pathozentrische Argument verlangt, Rücksicht auf die Empfindungen von Tieren zu nehmen. Es gründet in dem Interesse von Tieren, keine Schmerzen und kein Leid zu empfinden. Es begründet aber kein Tötungsverbot, das in der Rücksicht auf Überlebensinteresse gründet. Wenn man empfindungsfähige Tiere ohne Zufügung von Leid oder gar mit positiver Lebensqualität halten und schmerzfrei töten kann, spricht tierethisch grundsätzlich nichts dagegen, Tiere aufzuziehen und zu töten, um ihr Fleisch zu verzehren.

Industrielle Fleischerzeugung

Betrachten wir allerdings die Realität der gegenwärtigen industriellen Fleischerzeugung, ist sie aus pathozentrischer Sicht problematisch, weil empfindungsfähigen Tieren auf allen Ebenen der Fleischerzeugung erhebliches Leid zugefügt wird, von der Zucht von Hühner-, Puten- und Schweinerassen mit hoher, Leid verursachender Gewichtszunahme, der Haltung in zu engen Gehegen, auf Spaltenböden und ohne Beschäftigungsmöglichkeiten, aus Kostengründen eingesparter tierärztlicher Behandlung, langen Transporten, Misshandlung durch das Personal bis zu problematischen Betäubungsmethoden und Betäubungsfehlern bei der Schlachtung.

Zu Betäubungsfehlern kommt es unter anderem durch die wenige Zeit, die in der industriellen Schlachtung für das einzelne Tier bleibt. 0,1 bis 1 Prozent der Schweine geraten aufgrund unzureichender Betäubung und Entblutung mit Anzeichen der Empfindungsfähigkeit in die Brühanlage. In der industriellen Rinderschlachtung liegt die Fehlbetäubungsrate aufgrund fehlerhafter oder falsch angesetzter Bolzenschussgeräte bei 4 bis 9 Prozent. Zudem ist die Betäubung durch Kohlendioxid, die etwa bei Schweinen zugelassen ist, problematisch. Selbst unter ideal hoher Kohlendioxidkonzentration wird den Schweinen in der Einleitungsphase der Betäubung durch Atemnot und Erstickungsgefühl über 15 Sekunden erhebliches Leid zugefügt.

Obwohl die pathozentrische Position Fleischverzehr prinzipiell erlaubt, verstößt die Realität der gegenwärtigen Fleischerzeugung vielfach massiv gegen das Gebot der Rücksichtnahme auf das Leid von Tieren. Ethische Konsumentinnen sollten sich deshalb über die Aufzucht-, Transport- und Schlachtbedingungen informieren. Und da ethische Appelle an Konsumentinnen faktisch wenig bewirken, muss eine wirkungsvolle Rücksicht auf das Empfindungswohl von Tieren politisch über geeignete gesetzliche Bestimmungen und behördliche Kontrollen durchgesetzt werden.

Verbot jeglicher ‚Tiernutzung‘?

Veganerinnen geht die pathozentrische Position nicht weit genug. Sie plädieren für ein Ende der Tötung von Tieren und der Verwendung aller Tierprodukte. Von der Vielzahl von Argumenten, die sie dazu vorgebracht haben, seien zwei herausgegriffen. Gegen die Tötung von Tieren und gegen die Milcherzeugung bringen Veganerinnen unter anderem vor, dass Tiere individuelle emotionale Bindungen aufbauten und sie unter Verlustgefühlen litten, wenn man ihnen nahestehende Tiere töten oder separieren würde. Aus analytischer Perspektive ist zunächst festzuhalten, dass dieser Einwand mit dem psychischen Leid von Tieren argumentiert und sich deshalb im Rahmen des pathozentrischen Arguments bewegt. Aus tierethischer Sicht ist hier empirisch zu klären, wie gravierend das psychische Leid der betroffenen Tiere ist und ab welchem Schweregrad es nicht mehr zugefügt werden sollte. Bei Tieren mit starken sozialen Bindungen müsste man vermeiden, einzelne Tiere aus der Gruppe herauszunehmen oder Tiere zu separieren.

Ein zweites Argument wendet sich gegen jegliche Nutzung von Tieren. Hält man jegliche Nutzung von Tieren und Tierprodukten für verwerflich, muss man begründen, warum dies jeweils problematisch sein soll. Ist es beispielsweise verwerflich, wenn man Pferde reitet oder wenn man Honig aus Bienenstöcken erntet? Dazu müsste gezeigt werden, dass Pferde darunter leiden, geritten zu werden. Im Falle von Bienen müsste nachgewiesen werden, ob sie überhaupt empfindungsfähig sind, und damit, ob sie überhaupt Interessen haben. Kurz, man müsste zeigen, dass die jeweilige Nutzung gegen das Empfindungswohl und die Interessen der betroffenen Tiere verstößt.

Neuere Entwicklungen in der Tierethik

Abschließend möchte ich auf drei aus meiner Sicht besonders interessante Entwicklungen innerhalb der tierethischen Forschung hinweisen.

(a) Welche Tiere empfinden Schmerzen?

Die Frage, welche Tiere Schmerzen empfinden, betrifft die Reichweite der moralischen Rücksicht. Sie ist insbesondere bei Tieren, deren Ausdrucksverhalten und Morphologie sich stark vom Menschen unterscheiden, nicht ohne Weiteres zu beantworten, etwa bei Fischen oder Krebstieren. Bei der Zuschreibung von Schmerzempfinden ist es wichtig zu unterscheiden, ob Tiere bloß über nozizeptive Systeme verfügen, die ihnen erlauben, reflexartig und ohne mentale Repräsentation auf schädigende (‚noxische‘) Reize zu reagieren, oder ob sie tatsächlich Schmerzen empfinden können. Neuere Forschungen an Forellen deuten darauf hin, dass sie Schmerz empfinden können. Indikatoren für ihre Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, sind die Zeitspanne, über die sie ihre Verhaltensroutinen ändern, die Beeinträchtigung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und die Wirksamkeit von Schmerzmitteln. Sollten sich die Ergebnisse für Forellen und andere Fischarten verifizieren lassen, hätte dies weitreichende Folgen für den Fischfang, die Fischzucht und für Tierversuche an Fischen.

(b) Können Tiere denken?

Die Antwort auf die Frage, ob Tiere denken können, hängt davon ab, was man unter Denken versteht. Geht man von der Prämisse aus, dass Kognition notwendig sprachgebunden ist, besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen der Kognition von Menschen und der Kognition der meisten Tiere und man gelangt zu einer negativen Antwort. Andererseits sind einige Tiere in der Lage, (a) Gedanken zu haben – ein Hund kann beispielsweise von einer Katze die Überzeugung haben, dass sie auf einem Baum ist, (b) Denkprozesse vorzunehmen – wie zum Beispiel Schlüsse zu ziehen sowie (c) ihre Aufmerksamkeit auf eigene oder fremd Gedanken zu richten. Neben der schon aus epistemologischen Gründen interessanten Frage, inwieweit Tieren welche geistigen Fähigkeiten zugeschrieben werden können, stellt sich aus tierethischer Sicht die Frage, welche geistigen Fähigkeiten unsere moralische Rücksichtnahme fordern.

(c) Freundschaft mit Tieren

Viele Menschen bauen zu Tieren und insbesondere zu ihren Haustieren eine intensive gegenseitige Beziehung auf. Aus eudaimonistischer Perspektive ist es interessant, diese Beziehungen auf ihr spezifisches Potential für ein gutes, menschliches Leben hin zu untersuchen. Aus tierethischer Perspektive ist die Frage interessant, ob und inwieweit die mit Tieren eingegangenen Beziehungen spezifische moralische Verpflichtungen gegenüber ihnen begründen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In Deutschland werden jährlich etwa 3,5 Millionen Rinder, 58 Millionen Schweine und über 700 Millionen Hühner, Puten, Gänse und Enten geschlachtet, Quelle: Statistisches Bundesamt, Fleischerzeugung geht im Jahr 2017 deutlich zurück, URL: Externer Link: https://www.destatis.de, Zugriff am: 6.4.2018

  2. Weitere zentrale Fragen der Tierethik, die in diesem kurzen Standpunkt nicht behandelt werden, sind die Verwendung von Tieren für Leid verursachende Tierversuche und mögliche Verpflichtungen gegenüber wild lebenden Tieren.

  3. Anm. d. Red.: Lebewesen soll der umfassende Begriff sein, zu den Lebewesen gehören Tiere, Pflanzen und Pilze. Menschen sind eine Untergruppierung der Tiere. Spricht man von Tieren mit Ausnahme der Menschen, nimmt man den Begriff nicht-menschliche Tiere (eben: die Tiere, die übrig bleiben, wenn ich Menschen herausnehme).

  4. Jeremy Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Oxford 1789, Kap. 17; Peter Singer, Alle Tiere sind gleich, in Angelika Krebs (Hrsg.) 1997, Naturethik – Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Debatte, Frankfurt am Main, 13-32, hier. S. 21.

  5. Anm. d. Red.: Speziesismus meint die moralische Diskriminierung von Individuen allein wegen der Zugehörigkeit zu einer Art. Für eine seriöse Ethik wird eine unparteiische Überlegung/Abwägung verlangt, bei der alle "Betroffenen" berücksichtigt werden. Nimmt man bei ethischen Entscheidungen nur Menschen als Kriterium an oder bewertet deren Interessen ohne Grund höher, nur weil es sich um Menschen handelt, dann spricht man von Speziesismus.

  6. Markus Wild, Fische, Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Perspektive, Bern 2012, S. 68.

  7. Wild, Fische, a.a.O., S. 85f.

  8. Angelika Krebs, Haben wir moralische Pflichten gegenüber Tieren? Das pathozentrische Argument in der Naturethik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41 (6), 1993, S. 995-1008, hier: S. 1000f.

  9. Norbert Hoerster, Wann beginnt das Recht auf Leben?, Bundeszentrale für politische Bildung 2008, URL: Interner Link: http://www.bpb.de, Zugriff am: 6.4.2018.

  10. Dieter Birnbacher, Lässt sich die Tötung von Tieren rechtfertigen?, in: Ursula Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 212-231, hier: S. 221f.

  11. In der industriellen Schlachtung werden pro Stunde bis zu 80 Rinder, 750 Schweine und mehr als 10.000 Hühner geschlachtet, Quelle: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Bärbel Höhn, Friedrich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 17/9824, Tierschutz bei der Tötung von Schlachttieren, 15.6.2012, S. 12, URL: Externer Link: http://dipbt.bundestag.de, Zugriff am: 6.4.2018.

  12. Ebd, S. 5/6.

  13. Wild, Fische, a.a.O., S. 63f.

  14. Markus Wild, Tierphilosophie, Erwägen Wissen Ethik 23 (1) 2012, S. 21-33.

  15. Anm. d. Red.: Aus einer Perspektive heraus, die fragt, was für ein glückliches und gelungenes Leben wichtig ist.

  16. Anca Gheaus, The Role of Love in Animal Ethics, Hypatia 27 (3) 2012, S. 583-600.

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Dr. Heiner Michel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Philosophie der Universität Koblenz-Landau.