Durch die fortlaufende Weiterentwicklung der biotechnologischen und medizinischen Wissenschaften werden sowohl säkulare Gesellschaften als auch religiöse Gemeinschaften mit Themen konfrontiert, deren ethische Brisanz immer wieder Anlass zu heftigen Debatten geben. Auch jüdische Denker aller Richtungen befassen sich aus ihrer jeweiligen normativen Perspektive mit der bioethischen Problemanalyse. Innerhalb des zeitgenössischen Judentums haben sich diesbezüglich unterschiedliche Expertentraditionen ausgebildet, die entlang der prominentesten religiösen Richtungen verlaufen: dem orthodoxen, konservativen und liberalen Judentum. Aufgrund dieser sozialen und religiösen Vielfalt des Judentums ist es nicht möglich, "die jüdische Antwort" auf eine bestimmte ethische Frage zu geben. Zudem decken sich die Erkenntnisse religiös motivierter Bioethik, ob sie nun orthodox oder liberal ist, nicht zwingend mit den Ansichten säkular lebender Juden, deren Lebensentwürfe und Grundeinstellungen nicht religiös konnotiert sind.
Jüdische Zugangsweisen bioethischer Problemlösung
Methodisch wird Bioethik in den einzelnen Gruppen (orthodox, konservativ, liberal) betrieben, indem traditionelle Texte interpretiert und auf moderne medizinische und ethische Situationen angewendet werden. Aufgrund ihrer je eigenen religiösen und sozialen Strukturierung haben das orthodoxe, konservative und liberale Judentum aber unterschiedliche Hermeneutiken und Auslegungstraditionen hervorgebracht.
Grundlegende Differenzen ergeben sich bereits bei der Frage, welche Textgattungen der jüdischen Traditionsliteratur für die bioethische Auswertung verwendet werden sollen. Im Allgemeinen wird in der Orthodoxie nur eine religionsgesetzliche (halachische) Vorgehensweise als legitimes Analyseinstrument erachtet. Dabei steht der Einzelfall im Vordergrund. Das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, gilt auch bei bioethischen Fragen als Referenzrahmen, innerhalb dessen bioethische Probleme diskutiert und Entscheidungen getroffen werden. Jüdische Bioethik bedeutet diesem Verständnis zufolge die halachische Auswertung moralischer Handlungsoptionen und unterscheidet sich methodisch nicht von der religionsrechtlichen Beurteilung anderer Bereiche jüdischer Religionspraxis wie beispielsweise der Speise- oder Schabbatgesetze. Diese Zugangsweise bioethischer Problemlösung wird im englischsprachigen Raum und in Israel deshalb auch medical halacha bzw. halacha refu’it genannt.
Zusätzlich zu den bioethischen Problemstellungen, die etwa nach der Zulässigkeit embryonaler Stammzellforschung, den diversen Behandlungsmethoden der Reproduktionsmedizin oder der Sterbehilfe fragen, setzt sich medizinische Halacha auch mit religionsgesetzlichen Konfliktsituationen auseinander, die außerhalb des orthodoxen Judentums irrelevant sind. Hierzu gehören etwa Abklärungen, ob der Gesundheitszustand eines Patienten diesem das Fasten an Jom Kippur erlaubt oder in welchen Fällen ein Arzt die Schabbatgesetze übertreten darf bzw. muss, um seine ärztliche Pflicht gegenüber seinen Patienten wahrzunehmen. Generell besteht die Aufgabe halachischer Autoritäten darin, ausgehend von rechtlichen Texten der Traditionsliteratur (v. a. Talmud und dessen Kommentare) möglichst einen Analogieschluss mit der vorliegenden bioethischen Problemsituation herbeizuführen. Bei besonders komplexen bioethischen Fragestellungen bieten Analogieschlüsse jedoch nicht immer eindeutig eine befriedigende Lösung. Dies führt deshalb auch innerhalb des orthodoxen Judentums des Öfteren zur Herausbildung unterschiedlicher Positionen.
In jüdischen Religionskulturen, für die die Halacha keine verbindliche Handlungsanweisung darstellt, wird hingegen in verstärktem Maße auch aggadisches, d. h. narratives Textmaterial herangezogen. Die Erzähltexte, denen manche ethischen Richtlinien entnommen werden können, sind jedoch keine rechtlichen Texte. Diese werden in der orthodoxen Auswertung nur dann berücksichtigt, wenn sie zusätzlich auch von halachischen Textstellen gestützt werden. Das Reformjudentum, für das die Entscheidungsfreiheit des Individuums ein zentraler religiöser Aspekt darstellt, sieht deshalb in der Halacha eine durchaus naheliegende und richtungsweisende Quelle bei der Beantwortung moralischer Fragen, nutzt diese aber lediglich optional. Dies bedeutet folglich auch, dass reformierte Juden bei der bioethischen Fallbesprechung von ihrem Rabbiner keine religionsgesetzlich verbindlichen Abklärungen benötigen.
Auch wenn sich die jüdische Reform und die Orthodoxie in ihren strukturellen und methodischen Auswertungsverfahren voneinander unterscheiden, erörtern beide Richtungen die bioethischen und -medizinischen Neuerungen und Problemstellungen in der Form von sogenannten Responsen (hebr. sche’elot u’tschuvot – Fragen und Antworten). Für das orthodoxe Judentum, welches stärker dezentralisiert organisiert ist als das reformierte und konservative Judentum, existiert eine Vielzahl von Responsen verschiedener rabbinischer Autoritäten. Wenn ein Fragesteller mit einem bioethisch relevanten Problem zu einer religiösen Autorität gelangt, so hängt die Annahme seiner Antwort mit der Akzeptanz der Interpretationsgemeinschaft zusammen, innerhalb derer die Frage gestellt und die Antwort gegeben wird.
Lebensanfang und biomedizinische Forschung
Im Allgemeinen lassen die bioethischen Diskussionen jüdischer Gelehrter bei Themen rund um medizinische Forschung und den Lebensanfang mehr Konsens bemerken als diejenigen, die das Lebensende zum Gegenstand haben.
Eine der wichtigsten Problemstellungen der aktuellen Biomedizin in Bezug auf den Lebensanfang betrifft den Beginn des menschlichen Lebens. Der Beantwortung der Fragen, wann genau menschliches Leben beginnt, ab welchem Zeitpunkt dieses als schützenswert erachtet wird, oder ab wann ein Mensch Personenrechte besitzt, wird auch im Judentum eine hohe Wichtigkeit zugemessen. Das Ergebnis dieser ethischen Beurteilung hat direkten Einfluss auf die Positionierung in der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch, die Embryonen- bzw. die Stammzellforschung und die diversen Anwendungsbereiche der medizinisch assistierten Reproduktion. Obwohl jüdische Gelehrte stets die Betrachtung des Einzelfalls einfordern, lassen sich dennoch einige richtungsweisende Grundwerte benennen, die für das Verständnis jüdischer Bioethik zentral sind. Das biblische Gebot "Seid fruchtbar und mehret Euch" (hebr. p’ru u’rvu) aus Genesis 9.7 ist die erste Mizwa (Gebot/Pflicht), die die Menschen von Gott erhalten haben. Dieser Auftrag zur Fortpflanzung, so die rabbinische Auslegung, bezieht sich jedoch nur auf den Mann, der mit der Zeugung je eines Jungen und eines Mädchens diese Pflicht erfüllt. Für die Frauen gilt dieses Gebot nicht. Ein Grund hierfür besteht in der vormaligen Überzeugung, dass eine religiöse Pflicht kein Anlass sein dürfe, sich in eine potentiell lebensbedrohliche Situation zu begeben. Denn im Kontext vormoderner Medizin war die Schwangerschaft und der Geburtsprozess für Frauen mit größeren Risiken verbunden als heute. Anders das Reformjudentum: Aufgrund der grundlegenden egalitären Prinzipien überträgt das Reformjudentum das Fortpflanzungsgebot auch auf Frauen. Der hohe Wert, den diese religiöse Richtung auf die persönliche Entscheidungsfreiheit legt, bedeutet gleichzeitig die Relativierung der "religiösen Pflicht" für beide Geschlechter. Die Wahl, in welcher Form und ob überhaupt Kinder gezeugt werden sollen, liegt alleine bei denjenigen, die diese Entscheidung zu treffen haben.
Der hohe Stellenwert des Fortpflanzungsgebots ist mitunter auch ein Grund, warum jüdische Gelehrte über das religiöse Spektrum hinweg moderne Reproduktionstechnologien akzeptieren und fördern. So verfügt Israel beispielsweise über die weltweit höchste Dichte an In-Vitro-Fertilisationskliniken. Obwohl es bei der Einführung dieser neuartigen Verfahren speziell im orthodoxen Judentum heftige Debatten bezüglich der Anwendbarkeit und praktischen Umsetzbarkeit gab, werden diese medizinischen Behandlungen zur Überwindung von Unfruchtbarkeit bei Mann und Frau von fast allen religiösen Autoritäten befürwortet. Denn Unfruchtbarkeit wird, wie diverse biblische Erzählungen vermitteln, als Zustand betrachtet, der dem einer Krankheit gleichgesetzt werden oder doch wenigstens mit großem emotionalem Schmerz verbunden sein kann, der heutzutage mittels diverser Möglichkeiten moderner Medizintechnologie überwindbar geworden ist.
Im Gegensatz etwa zum römisch-katholischen Lehramt, welches jegliche Form der medizinisch assistierten Reproduktion als ein nicht mit der katholischen Lehre vereinbarer Eingriff in die natürliche Erzeugung eines Kindes ablehnt, wird dieses Ideal der natürlichen Fortpflanzung im Judentum nicht als die einzig mögliche und legitime Art der Reproduktion verstanden. Künstlichkeit und Natürlichkeit schliessen sich nicht prinzipiell aus und das Argument, eine Handlung aufgrund seines künstlichen Aspektes alleine zu verbieten, greift in der jüdischen Diskussion nicht. Somit wird "Künstlichkeit" nicht a priori mit Illegitimität (einer bestimmten Handlung) gleichgesetzt.
Dieses Verständnis beruht auch auf der jüdischen Vorstellung von Imitatio Dei (hebr. ve-halachta bi-derachav; "und du sollst auf seinen Wegen gehen"), der Nachahmung Gottes durch den Menschen. Die Schöpfung Gottes wird nicht als abgeschlossener Akt verstanden, sondern als Werk, welches die Menschen in Zusammenarbeit mit Gott weiterführen. Die jüdische Vorstellung von Imitatio Dei, Gott nachzutun und nachzuahmen, entspricht somit gar nicht dem Trend vieler Kritiker der neuen Reproduktionstechnologie, die warnend mit dem Argument des "Gott-Spielens" auf die Hochmut des modernen Menschen verweisen. Der jüdische Bioethiker und Rabbiner Abraham Steinberg stellt fest, dass die Technologien der medizinisch assistierten Reproduktion schon alleine deshalb erlaubt seien, weil der Mensch durch sie keine creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts) vollziehe, zu der nur Gott fähig sei, sondern einer schöpferischen Tätigkeit mit bereits vorliegendem Material nachgehe.
So sind auch medizintechnologische Neuerungen prinzipiell nicht verboten, solange sie nicht mit anderen religiösen Pflichten und Geboten in Konflikt geraten. Ob solch ein Konflikt besteht, wird von Gelehrten und Autoritäten aller jüdischen Denominationen (Untergruppen innerhalb einer Religion) auf der Basis ihrer jeweiligen Ausrichtung ausgewertet.
Als Beispiel für eine ethische Beurteilung mit Konfliktpotenzial soll nachfolgend die Problematik bzgl. der embryonalen Stammzellforschung angeführt werden. Embryonale Stammzellen sind undifferenzierte Vorläuferzellen und besitzen noch die Möglichkeit, sich in alle Zellen des Körpers auszubilden. Nebst der Grundlagenforschung soll die Stammzellforschung therapeutisch der Bildung z. B. von Herz-, Nerven- oder Muskelzellen dienen und beschädigte Zellen im Körper eines Patienten ersetzen. Die ethische Debatte um die Forschung an embryonalen Stammzellen dreht sich primär um die Frage, ob die Zerstörung der Blastozyste für die Gewinnung der Stammzellen moralisch vertretbar ist oder nicht.
Bei der Beantwortung dieser Frage haben sich die rabbinischen Gelehrten auf mehrere Textstellen im Babylonischen Talmud gestützt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Personenstatus bzw. die vollen Rechte der Person erst mit der Geburt erworben werden. Diese Feststellung beruht auf einer Textstelle (Mischna Ohalot 7.6), die die Situation einer schweren Geburt beschreibt, bei der das Leben der Mutter in Gefahr gerät. Im Zweifelsfall geht das Leben der Gebärenden immer vor, auch wenn dies die Tötung des Kindes während des Geburtsvorgangs zur Folge haben sollte. Ein Kind hat bis zu dem Zeitpunkt, da es größtenteils geboren ist, keine Personenrechte, weil es bis dahin als Teil seiner Mutter betrachtet wird.
Für die jüdische Beurteilung der embryonalen Stammzellforschung ist zweitens zu beachten, dass der Embryo bis zum 40. Tag nach der Befruchtung als bloßes Wasser (maja dealma) gilt. Der Talmud (Nidda 30b/Jebamot 69b) billigt dem Embryo bis zum 40. Tag einen geringeren Status zu als nachher. In der Halacha (Religionsgesetz) wird zudem zwischen einem Embryo in vitro und einem Embryo in utero unterschieden. Derjenige in utero wird, obwohl er noch keine Personenrechte hat und als Teil seiner Mutter gilt, als potentielle Person angesehen. Für den Embryo in vitro gilt dies nicht.
Generell wird der embryonalen Stammzellforschung aus jüdischer Sicht zugestimmt, weil die Zerstörung der Blastozyste im Zuge der Extraktion der Stammzellen aus dem Embryo nicht als Vernichtung menschlichen Lebens betrachtet wird.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die orthodoxen, konservativen und reformierten Autoritäten Stammzellforschung uneingeschränkt erlauben würden. Die Frage, in welchen Fällen Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt ist, hängt von der Art ihrer Gewinnung ab. Die Gewinnung von Embryonen im Zuge von IVF-Behandlungen führt sehr oft zu einer Anzahl von Embryonen, die kryokonserviert (tiefgefroren) für eine mögliche spätere Behandlung aufbewahrt werden. In vielen Fällen werden diese jedoch nicht mehr verwendet, und es stellt sich die Frage, was mit ihnen geschehen soll. Mit der Zustimmung der Spender können solche Embryonen sowohl für den Transfer in die Gebärmutter einer anderen Frau als auch für die Stammzellforschung freigegeben werden. Die Mehrheit der jüdischen Autoritäten befürwortet beide Verwendungzwecke kryokonservierter Embryonen.
Hingegen wird das Vorgehen, Embryonen für die Stammzellforschung zu verwenden, die einzig für diesen Zweck erzeugt wurden, nicht gutgeheißen. Innerhalb des orthodoxen Judentums bedeutete dies die Übertretung des Verbots des unerlaubten männlichen Samenergusses, da er nicht mit der Absicht zur Reproduktion gewonnen würde. Die Bedenken, die Reformjudentum und konservatives Judentum gegenüber dieser Art der Embryonenerzeugung hegen – sie aber auch nicht ausdrücklich verbieten –, basieren andererseits nicht auf dieser Argumentation. Die Conservatives um Bioethiker Elliot Dorff geben in ihrem Responsum als einzige jüdische Denomination zu bedenken, dass die Entnahme der Eizellen für die Frau mit Risiken verbunden ist (z. B. hormonelle Überstimulation), und deshalb für den Zweck der Erforschung von Stammzellen nicht in Kauf genommen werden sollte.
Lebensende
Da die Positionierungen innerhalb des jüdisch-religiösen Spektrums bei ethischen Fragen am Lebensende bzw. bei lebensbedrohlichen Situationen in manchen Bereichen sehr unterschiedlich ausfallen, soll im Folgenden lediglich die Diskussion um die Organspende veranschaulicht werden. Eine Lebendspende, das heißt die Organentnahme bei einem lebenden, gesunden Spender, gilt als Mizwa (Pflicht/Gebot/gute Tat). Lebendspenden betreffen Blut, Knochenmark, Teile der Leber und Nieren. Eine Rettungsaktion, die für den Spender keine oder nur geringe Risiken birgt, erfüllt die von der Tora geforderte Pflicht: "Du sollst nicht über dem Blut deines Freundes stehen." (Lev. 19.16) Nach der Halacha ist sie geboten, wenn die Risiken für den Spender gering sind und für ihn durch die Organentnahme keine relevante Lebensgefahr besteht. Dieses als pikuach nefesch (Rettung aus Lebensgefahr) bekannte Prinzip ist allen anderen Geboten und Verboten der Tora übergeordnet, es sei denn, es handle sich um Mord, Unzucht oder Götzendienst. Problematischer verhält es sich bei Spenden von vitalen Organen wie dem Herzen, der Lunge oder der Leber, die einem potentiellen Spender nur dann entnommen werden können, wenn bei diesem der irreversible Ausfall (aller) Funktionen des Gehirns festgestellt wurde. Dieser gemeinhin als Hirntod bezeichnete Zustand gilt als Voraussetzung für die Organentnahme. Vor allem in der orthodoxen Gemeinschaft werden im Umgang mit dem Körper einer verstorbenen Person folgende Handlungen als verboten bzw. als zwingend notwendig erachtet:
Das Verbot, eine Leiche zu verstümmeln und zu entweihen.
Das Verbot, Nutzen oder Profit aus einer Leiche zu ziehen.
Die Verpflichtung, eine Leiche möglichst rasch zu beerdigen.
Die Verpflichtung, einen Körper in seiner Integrität zu beerdigen.
Diese Gebote für den richtigen und respektvollen Umgang mit dem Körper eines Verstorbenen wären kaum mit der Entnahme von Organen zu Transplantationszwecken vereinbar, wären sie nicht dem Gebot von pikuach nefesch (Rettung aus Lebensgefahr) untergeordnet. Somit besteht beispielsweise keine Verpflichtung, die Leiche eines eben Verstorbenen innerhalb der sonst vorgeschriebenen 24 Stunden nach der Feststellung des Todes zu beerdigen.
Sowohl das Reformjudentum als auch die konservative Strömung haben Responsen veröffentlicht, in denen die betreffenden Komitees ihre positive und befürwortende Haltung in Bezug auf Organtransplantationen ausdrücken. Diese beruht nicht zuletzt auf der uneingeschränkten Akzeptanz des Hirntodkriteriums. Ein klinisch korrekt festgestellter Hirnstammtod und somit der irreversible Ausfall der Spontanatmung ist für jüdische Transplantationsbefürworter identisch mit dem traditionell jüdischen Todeskriterium. Das Reformjudentum in den USA verleiht dieser Überzeugung durch sein umfangreiches Engagement Ausdruck, indem es mit seinem Programm Matan Chaim, das Geschenk des Lebens, auf die Notwendigkeit von Spenderorganen aufmerksam macht.
Die Debatte um die Zulässigkeit von Organtransplantationen innerhalb der Orthodoxie hingegen ist stark gekennzeichnet durch den Dissens darüber, ob der Hirntod ein legitimes halachisches Todeskriterium darstellt oder nicht. Ein hirntoter Patient bleibt bis zur Explantation seiner Organe an medizinischen Apparaten angeschlossen, die der Aufrechterhaltung der zentralen Funktionen Atmung und Kreislauf dienen. Ohne diese Maßnahmen würden die Organe aufgrund des Sauerstoffmangels für eine Transplantation zu schnell unbrauchbar. Für die jüdischen Gegner des Hirntodkriteriums muss jedoch auch die Herzfunktion komplett erloschen sein, um einen Menschen für tot erklären zu können. Solange ein Mensch, auch wenn der Effekt künstlich erzeugt wird, einen Herzschlag aufweist, gilt er als lebende Person. Ein hirntoter Patient gilt nach der Auffassung von Rav Schlomo Zalman Auerbach (1910 - 1995), einer israelischen halachischen Autorität, als Sterbender (gosses), bestenfalls als "zweifelhaft" Sterbender (safek gosses) und nicht als Toter. Die Entnahme der Organe bedeutete folglich Mord, und Mord ist eines der Ausschlusskriterien für die Anwendung des Prinzips von pikuach nefesch (Rettung aus Lebensgefahr).
Trotz des Widerstandes zahlreicher orthodoxer Autoritäten gegen das/die Hirntodkonzept/e, hat das Oberrabbinat in Israel 1986 entschieden, unter strikten Bedingungen und bei gewissen Patienten Herztransplantationen zu erlauben. Als potentielle Organspender kommen nur Unfallopfer, bei denen der irreversible Atemausfall (Hirnstammtod) festgestellt wurde, in Frage. Da die permanente Abwesenheit der Spontanatmung als einziges halachisches Hirntodkriterium auch heute noch von den meisten orthodoxen Autoritäten abgelehnt wird, erstaunt es nicht, dass sich nach dieser Verlautbarung des israelischen Oberrabbinats viele Rabbiner und Rechtsgelehrte gegen die Akzeptanz eines halachisch begründeten Hirntodkonzepts (in welcher Form auch immer) ausgesprochen haben. Trotz der Entscheidung des Oberrabbinats und der Israel Medical Association (IMA) ist bei der jüdischen Bevölkerung in Israel eine weitverbreitete Resistenz gegen Organspenden zu bemerken, obwohl die meisten jüdischen Israelis säkular leben. Gemessen an den Bevölkerungszahlen verzeichnet Israel immer noch eine weit hinter den westeuropäischen Staaten zurückliegende Prozentzahl von Besitzern von Organspendeausweisen. Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen Empfänger- und Spenderzahlen, wurde Israel bereits vor Jahren aus dem European Union Organ Donor Network ausgeschlossen.
"Die jüdische Antwort" auf eine bestimmte bioethische Problemstellung gibt es genauso wenig wie "das Judentum" als homogene Religionsgemeinschaft. Des Weiteren lassen sich die verschiedenen denominationellen Erkenntnisse als Varianten einer Bioethik des Judentums auch nicht stillschweigend im Sinne einer Bioethik der Juden auf nichtpraktizierende oder säkular lebende Jüdinnen und Juden übertragen. Wie anhand der Fallbeispiele um die Stammzellforschung und die Organtransplantation ersichtlich wurde, sind die Adjektive wie "konservativ", "traditionell" oder "orthodox" als Teil der Selbstbezeichnung religiöser Ausrichtung nicht automatisch deckungsgleich mit den gängigen Kategorien, wie sie bei der Positionierung um bioethische oder allgemein gesellschaftspolitische Fragen zur Anwendung kommen.
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