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Ärztliche Ethik

Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing

/ 8 Minuten zu lesen

Reicht es, wenn ein Arzt die moralischen Ansprüche erfüllt, die von jedem Bürger gefordert werden können? Oder bedarf es einer eigenen ärztlichen Ethik?

Fast jede ärztliche Intervention bedarf des "informed consent", des informierten Einverständnisses des Patienten. (© picture-alliance/dpa)

Die Medizin hat sich – soweit wir sie kennen – stets auch zum Verhalten ihrer Berufsmitglieder geäußert. Sie kann mit dem über 2000 Jahre alten Hippokratischen Eid auf eine eindrucksvolle Geschichte zurückblicken. Doch trotz dieser Geschichte bleibt die Frage, warum es eine ärztliche Ethik geben sollte oder ob es nicht reicht, von einem Arzt in moralischer Hinsicht zu fordern, was ohnehin von jedem Bürger zu fordern ist. Die Sachgegebenheiten und spezifischen Bedingungen ärztlichen Handelns sprechen jedoch dafür, das Verhalten eines Arztes mit Normen zu regulieren, die an Personen außerhalb des Berufstandes heranzutragen unangemessen wäre. Die Frage nach besonderen Normen für einen bestimmten Berufsstand ist nicht von vorneherein sinnlos.

Bedarf es zu einer ärztlichen Ethik besonderer moralischer Prinzipien? Dies ist nicht der Fall. Die allgemeine Moral und ein Berufsethos beruhen auf den gleichen moralischen Prinzipien; sie können den Betroffenen jedoch durchaus unterschiedliches Verhalten vorschreiben. Dies lässt sich mit der weithin akzeptierten Formel erklären, "ärztliche Ethik ist keine besondere Ethik, sondern die Ethik für ein Handeln in besonderen Situationen" (u. a. Birnbacher 1993).

Die ärztliche Handlung

Zu einer ärztlichen Ethik muss man sich vorab einige Merkmale der ärztlichen Handlung vor Augen führen, denn diese ist in mehrfacher Hinsicht mit Ungewissheit behaftet. Ein Arzt kann selbst bei optimalen äußeren Bedingungen und einem Handeln nach den Regeln der Kunst den Erfolg seines Handelns nicht garan­tieren. Umgekehrt kann ein Arzt das Eintreten un­erwünschter Wirkungen nicht sicher ausschlie­ßen. (Toellner 1983)

Zudem kann ein Arzt die Heilung seines Patienten im Nachhinein nicht immer sei­ner Einflussnahme zugute schreiben, denn viele Er­krankungen heilen auch ohne Zutun. Will der Arzt jedoch aus einer Heilung auf sein Vorgehen bei zukünftigen Pati­enten schließen, dann muss er klären, welchen Anteil die ärztliche Therapie hatte. Dies zu beantworten, gelingt jedoch nur durch den kontrollierten klinischen Versuch. Hier hat die Notwendigkeit der klinischen Forschung ihren Ursprung. Ferner trägt Nutzen und Schaden der ärztlichen Handlung nicht der Arzt, sondern der Patient. Anders als ein Pilot oder ein Busfahrer, die bei einem Feh­ler auch um sich fürchten müssen, wird einzig der Patient die Ergebnisse ärztlicher Tätigkeit spüren.

Überdies sind ärztliche Tätigkeiten häufig hoch komplex und müssen zahlreiche situative Faktoren berücksichtigen. Ärztliche Entscheidungen lassen sich nicht mit mathematischer Präzision fällen. Allein deswegen hat der Computer im ärztlichen Handeln nur bedingt Einzug gehalten. Er kann den Arzt bei Verwaltungsvorgängen, Routinemaßnahmen und bei der Optimierung finanzieller Erlöse unterstützten. Die eigentliche ärztliche Tätigkeit können Computer jedoch nur unzureichend simulieren.

Diese Eigenschaften ärztlichen Handelns sind lange bekannt. Sie haben sich unter dem Einfluss der modernen Wissenschaften allenfalls graduell, nicht jedoch prinzipiell geändert. Die ärztliche Handlung ist so, wie es der erste Hippokratische Aphorismus trotz seines Alters von etwa 2500 Jah­ren prägnant zu formulieren weiß: "Das Leben ist kurz, die Kunst weit, der günstige Augenblick flüchtig, der Versuch trügerisch, die Entscheidung schwierig." (Müri 1986, S. 11)

Die Medizin: schwer zu kontrollieren

Aufgrund ihrer Eigenschaften sind ärztliche Handlungen wie auch der ärztliche Berufsstand in mindestens dreierlei Hinsicht schwer zu kontrollieren. Schluchter (1980) spricht von drei Asymmetrien zwischen der Macht des ärztlichen Berufes und der Kontrolle über den ärztlichen Beruf:

  1. Der Bedeu­tung des einzelnen Experten für den Patienten steht keine entsprechende Kontrolle des Patienten gegenüber. Sie können die Ärzte und ihre komplexe und ungewisse ärztliche Tätigkeit nur in geringem Maße überwachen, denn sie ist letztlich nur vom Fachmann zu durchschauen.

  2. Auch die Organisationen dieses Berufes, z. B. die Ärztekammern, können die einzelnen Ärzte nur begrenzt kontrollieren. Ärztliches Handeln behält stets einen nur jeweilig auszufüllenden Entscheidungsspielraum und ist nur bedingt von außen zu steuern.

  3. Nicht zuletzt steht der funktionalen Bedeutung der Medizin für die Gesellschaft keine entsprechende Kontrolle der Gesellschaft gegenüber. Die Medizin hat sich zu einem derart komplexen und schwierig zu lenkenden Gebilde entwickelt, dass es faktisch unmöglich ist, dieses durch staatliche Bürokratie in effizientem Maße einzuholen.

Trotz des dreifachen Ungleichgewichts von funktionaler Bedeutung und Kontrollmöglichkeiten wird der Profession eine weitgehende Autonomie und Selbstverwaltung bis hin zum Standesrecht gebilligt. Wie kann das funktionieren? Die Antwort: durch eine ganz bestimme ärztliche Ethik.

Die Legitimation: moralische Selbstverpflichtung und fachliche Qualität

Nur wenn die Patienten bestimmte Verhaltensweisen berufsbedingt erwarten dürfen, gelingt die Akzeptanz der Medizin in der Gesellschaft und bei den Patienten. Der Berufsstand muss bestimmte Verhaltensweisen für seine Mitglieder kodifizieren, überwachen und sanktionieren: fachliche Qualität und eine Moral, die Willen und Wohl des Patienten in den Vordergrund stellt. Ärzte sind verpflichtet, ihren Patienten zu nutzen, Schaden zu vermeiden, die Patienten aufzuklären und deren Selbstbestimmung zu respektieren sowie die Verschwiegenheit zu wahren.

Es muss allein durch die Mitgliedschaft im Beruf gewährleistet sein, dass der Arzt ein bestimmtes Ethos für sich akzeptiert und realisiert. Wenn der Bürger, also jeder potentielle Patient, einem Mitglied dieses Berufsstandes begegnet, muss er, ohne es kontrollieren zu können, allein über die Berufszugehörigkeit eine bestimmte moralische Ausrichtung und fachliche Qualität des Mitglieds erwarten dürfen.

Welche Elemente muss eine ärztliche Ethik angesichts der Strukturen der zu regelnden Tätigkeit enthalten? Zunächst einmal muss sie das Ziel ärztlichen Handelns benennen: eine Verbesserung der Gesundheit. Zudem müssen die Bedingungen für eine gesundheitsbezogene Intervention geregelt werden, insbesondere die informierte Zustimmung des Patienten. Jede ärztliche Intervention – mit wenigen Ausnahmen – bedarf des informed consent (informierten Einverständnisses) des Patienten.

Doch das Ziel der ärztlichen Intervention zu erreichen, kann – wie erwähnt – nicht mit Gewissheit garantiert werden. Diese Ungewissheit ärztlichen Handelns lässt sich allenfalls verringern, indem ein Arzt nach den Regeln der Kunst, also fachlich korrekt handelt. Insofern muss eine ärztliche Berufsmoral fordern, dass der Arzt über fachliche Fähigkeiten verfügt und gewillt ist, sie aufrecht zu halten. Durch die Regeln der Kunst lässt sich das Problem der Ungewissheit verringern, aber nicht vollständig eliminieren. Also bleibt auch die Frage, wie darauf zu reagieren ist. Diese Überlegungen führen zur ärzt­lichen Haltung.

Der Arzt kann zwar nicht für den Er­folg seiner Handlung garantieren, wohl aber "für die Sorgfalt und die Gewissen­haf­tigkeit, mit der er seine Hand­lungen plant und aus­führt, für sein Engagement, kurz für seine eigene Per­son. Dafür zu garantieren ist er frei­lich verpflich­tet" (Wieland 1986, S. 48). Nur mit einer Haltung seiner Person kann der Arzt auf die unvermeidliche Unsicherheit seines Tuns reagieren. Haltungen sind immer an eine distinkte Person gebunden und sollen eine angemessene Reakti­on wahrscheinlicher werden lassen. Sie sind nur durch fort­gesetzte praktische Übung zu erlernen und anzueignen.

Die Berufsordnung

Die ärztliche Ethik muss kodifiziert und gegenüber der Gesellschaft vertreten werden, und genau dies versucht die Berufsordnung. Sie soll – so die Präambel – "das Vertrauen zwischen Arzt und Patient" (Bundesärztekammer 2011) erhalten und fördern. Sie demonstriert beispielhaft, dass man sich auch in einer wertepluralen Gesellschaft über die allgemeinen Ziele ärztlichen Handelns einigen kann. Sie enthält die wichtigsten moralischen Normen der ärztlichen Ethik und ist in diesen Fragen weitgehend unumstritten. Damit sind keineswegs alle ethischen Probleme der Medizin gelöst, denn die in der Berufsordnung genannten Normen ärztlichen Handelns können durchaus untereinander in Konflikt geraten. Auch verbleibt stets eine erhebliche Detailarbeit, wenn man bestimmen will, was die Normen ärztlichen Handelns beispielsweise bei neuen Technologien konkret bedeuten. Insofern kann die Berufsordnung zwar die grundlegenden Normen ärztlichen Handelns liefern, die ethischen Fragen und Schwierigkeiten des ärztlichen Alltags bleiben jedoch auch weiterhin bestehen.

Ärztliche Ethik: Konstanz und Pluralität?

Die moralische Konstruktion der Arztrolle hat sich zumindest als Norm erstaunlicherweise lange Zeit bewährt. Die normativen Grundzüge der gegenwärtigen Arztrolle, sieht man vom informierten Einverständnis einmal ab, sind bereits weitgehend im Hippokratischen Eid zu finden. Angesichts der Pluralisierung der Gesellschaft bleibt zu klären, in welchen Bereichen sich die ärztliche Ethik inhaltlich auf bestimmte Handlungen festlegen muss. Oder aber, wo auf eine inhaltliche Festlegung verzichtet werden sollte zugunsten einer formalen Festlegung auf den Respekt des (durchaus unterschiedlichen) Willens der Patienten. Man kann dieses Problem am Beispiel des ärztlich assistierten Suizids erläutern: Gehört es zur ärztlichen Ethik, dass Ärzte unter allen Umständen Beihilfe zu einem Suizid unterlassen müssen? Oder müssen Ärzte die unterschiedlichen Vorstellungen der Bürger respektieren und dürfen in bestimmten Situationen bei ausdrücklichem Willen des Patienten Beihilfe zum Suizid leisten?

Die kontroverse Problematik (Wenker 2013,Wiesing 2013) lässt sich nur über die Auswirkungen auf das Vertrauen beantworten. Wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine Erlaubnis des ärztlich assistierten Suizids unter bestimmten, streng zu fassenden Rahmenbedingungen das Vertrauen in die Medizin gefährdet, wäre ein berufsrechtliches Verbot zu rechtfertigen. Wenn nicht, dann müsste die Berufsordnung die Bedingungen für einen ärztlich assistierten Suizid so fassen, dass Missbrauch unterbleibt, der das Vertrauen gefährden könnte.

Eine weitere Herausforderung für die ärztliche Ethik ergibt sich durch die zunehmende Ausweitung medizinischer Tätigkeiten jenseits von Krankheit. Bekanntes Beispiel ist die kosmetische Chirurgie: Ein entscheidendes Kriterium ärztlichen Handelns, die medizinische Indikation, ist bei rein kosmetischen Interventionen nicht mehr gegeben. Gilt damit noch die ärztliche Ethik?

Auch in der kosmetischen Chirurgie sind Ärzte aufgrund ihrer Berufsmoral verpflichtet, Interventionen zu unterlassen, die nicht nutzen und/oder Schaden verursachen. Zudem müssen weitere ärztliche Verhaltensweisen gewährleistet sein: eine hohe Qualität der Durchführung um Schäden zu vermeiden, eine umfassende Aufklärung des Patienten, um ihn in die Lage zu versetzen, ein informiertes Einverständnis zu geben, ein Unterlassen von unnötig aufwendigen, wenn auch finanziell lukrativen Maßnahmen (detailliert dazu ZEKO 2013). Zumindest diese Elemente der ärztlichen Ethik müssen gewahrt bleiben, weil anderenfalls das Vertrauen in die Ärzteschaft in seiner Gesamtheit gefährdet wäre.

Literatur

Birnbacher, D. (1993) Welche Ethik ist als Bioethik taug­lich? In: Ach J. S., Gaidt A. (Hgg.) Herausforderung der Bioethik. Stuttgart, S. 45-67.

Externer Link: Bundesärztekammer (2011) (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte.

Müri, W. (1986) Der Arzt im Altertum. Griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen mit der Übertragung ins Deut­sche. Darmstadt.

Schluchter, W. (1980) Legitimationsprobleme der Medizin. In: ders. (Hg.) Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Frankfurt a.M., S. 185-205.

Toellner, R. (1983) Der Patient als Entscheidungssubjekt. In: ders. und K. Sadegh-Zadeh (Hgg.) Anamnese, Diagnose, Therapie. Tecklenburg, S. 237-248.

Wenker, M. (2013) Durfte der Kieler Ärztetag den ärztlich assistierten Suizid verbieten? Ja! Zeitschrift für Ethik in der Medizin 25, S. 72-77.

Wieland, W. (1986) Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik. Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer praktischen Wissenschaft. Heidel­berg.

Wiesing, U. (2013) Durfte der Kieler Ärztetag den ärztlich assistierten Suizid verbieten? Nein! Zeitschrift für Ethik in der Medizin 25, S. 67-71.

Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) (2012) Ärztliche Behandlungen ohne Krankheitsbezug unter besonderer Berücksichtigung der ästhetischen Chirurgie. Dt. Ärzteblatt 109, S. 2000-2004.

ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. ärztliche Ethik, Verantwortung des Arztes, wissenschaftstheoretisches und geschichtliches Selbstverständnis der Medizin, ethische Implikationen des Genetischen Screening, Reproduktionsmedizin und genetische Diagnostik, Sterbehilfe und ärztliches Selbstverständnis.