Mitten im Sommerloch 2013 begann ein Gerichtsprozess, dessen hitzige Folgedebatten die Dringlichkeit seines Gegenstands unterstrichen: Nachdem Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Organallokation (Organzuteilung) festgestellt worden waren, mussten die betroffenen Ärzte sich nun vor Gericht rechtfertigen. Dass es im Kontext des juristischen Verfahrens um mehr ging als um die Einflussnahme auf die Vergabepraxis, deutet auch die öffentlich artikulierte Sorge an, das Vergehen wirke sich allgemein negativ auf die Spendebereitschaft aus.
Der bereits vor den Skandalen bestehenden Kluft zwischen vorhandenen und benötigten Organen musste insbesondere vor diesem Hintergrund mit neuer Dringlichkeit entgegengewirkt werden. Zumindest dann, wenn man einen Ausgleich zwischen benötigten und vorhandenen Organen anstrebt. Doch mit welchen Strategien geschah dies seither? Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und das Bundesministerium für Gesundheit lancierten im Mai 2013 eine Kampagne mit dem Titel "Das trägt man heute: Organspendeausweis" (Internet 1, 16.8.2013), für die Prominente wie der Schauspieler Klaus J. Behrendt ihr Gesicht liehen. Ein Ausweis, so die Botschaft, sei ein Accessoire, das seinen Träger zur modebewussten Ingroup befördere. Geworben wird hier vorderhand um eine Entscheidung, nicht um die Spendebereitschaft. Schließlich impliziert das Tragen eines Ausweises nicht automatisch das Einverständnis zur Spende. Derlei Werbemaßnahmen sind allerdings nicht neu: Wer sich etwa im Jahr 2009 in Berlin aufhielt, dem begegnete hier ein Bekannter aus alten Zeiten: Großflächig prangte Superman auf Fassaden und vorbeifahrenden Bussen (Internet 2, 13.8.2013). Was auf den ersten Blick wie eine publikumswirksame Werbeaktion der Spielzeugindustrie erschien, zeigte bei genauerer Betrachtung einen Retter ganz anderer Natur: Nicht zur Wahrung des Weltfriedens war der Held hier angetreten, seine Mission bezog sich auf die Rettung von Leben. Sein Einsatz zielte konkreter auf die Gewinnung von Organen. Aber nicht nur das: Superman war auf der Suche nach Mitstreitern. Schließlich können wir alle – wie Clark Kent – zu einem Superhelden werden, so die Botschaft, die insbesondere junge Menschen umwarb: "Das kannst Du auch – Organspenden heißt Leben retten". Held zu sein ist also kein Status durch Geburt, sondern eine zu erwerbende Eigenschaft, die im Fall einer Spendebereitschaft eine zeitliche Lücke öffnet, zwischen Heldenstatus und Heldentat. Schließlich wird eine Organentnahme, wenn überhaupt, erst nach der Feststellung des Hirntods möglich. Damit unterscheidet sie sich von der auf Entscheidung ausgerichteten Mode-Kampagne. Freilich, die Kampagne ging den Skandalen um die Organallokation zeitlich voraus. Seither bemühen sich viele Prominente wie Til Schweiger um Spendebereitschaft. Der stellt in Aussicht: "Du bekommst alles von mir. Ich auch von Dir?" (Internet 3, 12.8.2013).
Das hier angesprochene Thema "Organspende" ist allgemein sehr diskutabel. Alle drei Beispiele bieten zunächst allerdings eine Erzählung, die anschlussfähig ist zur Alltagswirklichkeit der Betrachter und die auf den ersten Blick nichts mit einem ethischen Minenfeld zu tun hat. Hier geht es um Heldengeschichten genauso wie um Mode. Sie schaffen darüber hinaus aber auf der biologischen Grundlage des Menschen einen Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft, indem sie die Möglichkeit aufzeigen, den eigenen Körper für ein abstraktes Anderes verfügbar zu machen bzw. machen zu lassen. So erscheint die Spendebereitschaft als Dienst an der Gesellschaft. Auf die "Gabe" folgt zwar keine direkte, keine materielle Gegen-Gabe. Kampagnen, wie die hier skizzierten, bieten aber Kompensation an: Sie dienen als Identifikationsangebote für die Lebenden (als gemeinschaftlicher Dienst an der guten Sache) und als gesellschaftliche Sinnstiftung. Vor allem diese Verschränkung zwischen unterschiedlichen Bezugsebenen, meinem Leben (altgr.: bios) und dem der anderen, macht den Umgang mit Organspenden in besonderer Weise für geschichtliche, politische Prozesse zugänglich: Hier werden körperliche Funktionen zu den bevorzugten Zielscheiben des Interesses, das ein Netz spannt zwischen Wohlergehen, Verteilungsgerechtigkeit und (intergenerationeller) Verantwortung. Aufgrund dessen lassen sich die Beispiele lesen als ein Indiz für einen Zusammenhang zwischen Bioethik, Öffentlichkeit und Biomacht. Eine solche Verbindung ist allerdings weiter erklärungswürdig.
Bioethik: mehr als eine philosophische Disziplin
Bioethik ist zunächst eine recht junge (philosophische) Disziplin. Sie koordiniert, kommentiert und kontrolliert die Forschung und Anwendung der Biowissenschaften und ist auf doppelte Weise mit den Biowissenschaften verbunden: Sie umfasst zum einen die ethische Dimension der Forschung sowie der Anwendung der Biowissenschaften. Zum anderen wägt sie das moralisch richtige Handeln unter Berücksichtigung biologischen Wissens ab. Aussagekompetenz macht sie deshalb in sämtlichen Fragen, die sich relational zur Kategorie des Lebens und des Todes stellen, geltend. Das schließt Fragen in Bezug auf die Entstehung von Leben und die hieran gebundenen Interventionen durch die Reproduktionsmedizin und Genetik ein, bezieht sich aber genauso auf die Transplantationsmedizin wie auf die Definition des Hirntods. Zumeist sind es also Grenzsituationen
Bioethik allerdings ausschließlich auf die philosophischen Disziplinen zu beziehen, greift wesentlich zu kurz. Schließlich löst der mögliche Einsatz von Biomedizin Unsicherheiten aus, die weit über den bloß akademischen Diskurs hinausgehen. Diese Unsicherheiten sind dem Umstand geschuldet, dass durch die potenzielle Anwendung von Biomedizin Handlungs- und damit Entscheidungsoptionen auftreten, die uns nicht nur alle betreffen können, sondern die auch mit Glaubensgrundsätzen verbunden sind und die einer (juristischen) Regelung bedürfen. Auf die Unsicherheit folgt ein öffentlichkeitswirksames Reden, bei dem es um die Verfügung über das Leben geht; und aufgrund der Vielschichtigkeit dieses Lebensbegriffs lässt sich hier eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wirkungs- und Steuerungsmechanismen beobachten. Diese zielen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse darauf ab, das Leben selbst als produktives und damit gestaltbares Element in Bezug auf die Bevölkerung zu kontrollieren. Denn das durch Wissenschaft freigesetzte Wissen ermöglicht eine Einflussnahme auf die Grundkonstitution des Menschen, die mehr betrifft als einzelne Individuen: Solche Optionen müssen sich gesellschaftlich bewähren. Sie müssen den jeweiligen Wahrheitsansprüchen einer Zeit genügen. Und sie entstehen eben nicht (ausschließlich) in Studierstuben. Es ist also sinnvoll, das öffentliche normative Sprechen über Biomedizin insgesamt als Bioethik zu begreifen und nicht nur die "institutionelle Bioethik" der Räte, Kommissionen, Plenardebatten und der Bioethiker (all jene, die sich selbst zu dieser Disziplin rechnen bzw. von Experten zu ihr gezählt werden) darunter zu verstehen.
Diese Ausweitung der "Kampfzone" ist für das Verständnis des Umgangs mit Biomedizin deshalb wichtig, weil dadurch brisante Themen an die Lebenswirklichkeit anschließen: Das Verhältnis der Menschen zum Technologieeinsatz fußt z. B. auf auszuhandelnden gesellschaftlichen Konventionen, die an allgemein zugänglichen Orten wie Zeitungen, auf Plakaten etc. verhandelt werden. Schon dadurch wird der enge Rahmen von Spezialdisziplinen überschritten. Schließlich werden auch in der Öffentlichkeit – das machen die erwähnten Kampagnen deutlich – Themen aufgegriffen bzw. diskutiert, werden Wertungen und (explizite wie implizite) Empfehlungen ins Spiel gebracht, über deren Wahrheitsanspruch in der Folge gerungen wird. Insbesondere die Freiwilligkeit der Organspende zeigt ja deutlich, dass Akzeptanz ein unabdingbarer Motor für die Anwendung von Verfahren ist oder sein kann. Und dass die oben erwähnten Werbekampagnen normativ sind, ergibt sich schon allein aus der "Alternativlosigkeit" guten Handelns, die sie suggerieren: Entscheide Dich! Werde ein Held! Durch die so wirksam werdende Stoßrichtung üben sie Macht aus. Diese Macht heißt genauer: Biomacht. In diesem Sinn ist Bioethik eine Plattform, auf der über Biomedizin gesprochen und damit eine auf den ersten Blick nicht sichtbare Macht ausgeübt wird. Denn hier werden Normen aufgerufen, wiederholt, erstritten und verworfen, die sich nicht im Raum der Wissenschaft finden, sondern die sich vielmehr an eine "qualifizierte Öffentlichkeit"
Es ist also entscheidend, die Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang ernst zu nehmen und ihren Platz in der Auseinandersetzung mit Biomedizin zu bestimmen. Denn in dem, was öffentlich sagbar, aber auch unsagbar ist, lassen sich Normen ablesen, die sowohl das Individuum als auch die Bevölkerung betreffen. Daher ist es in einem zweiten Schritt sinnvoll, Bioethik als Biomacht und als strategisches Machtmodell der Regulation zu begreifen. "Zu diesem Übergriff der Bio-Macht kommt es, wenn dem Menschen technisch und politisch die Möglichkeit gegeben ist, nicht allein das Leben zu meistern, sondern es zu vermehren, Lebendiges herzustellen und Monströses und – nicht zuletzt – unkontrollierbare und universell zerstörerische Viren zu fabrizieren."
Die Kampagnen sind ein Indiz dafür, dass im Kontext der Organspende nicht diejenige Eindeutigkeit herrscht, die die Bilder vorzugeben scheinen. Das Thema Organspende gerät vielmehr immer wieder ins Gespräch, sei es, wegen der erwähnten Unregelmäßigkeit bei der Organverteilung, sei es wegen des diskutablen Kriteriums des Hirntods, sei es wegen der Diskrepanz der Gruppe, die prinzipiell zu spenden bereit ist, und denjenigen, die wirklich einen Organspendeausweis bei sich tragen. Befeuert werden die Auseinandersetzungen um das Thema Organspende auch durch deren implizite und explizite Bezugnahme auf Risiken. Diese sind genau an der eben erörterten Schnittstelle zwischen individuellem und gesellschaftlichem Körper angesiedelt. Thomas Lemke weist zu Recht darauf hin, dass insbesondere der gängige Rekurs auf Risiken die Grenzen zwischen disziplinärer Führung (auf der Ebene des individuellen Körpers – Welche Verantwortung trage ich für meinen Körper?) und Sicherheitsführungen (Bevölkerungsprozesse – Wie lässt sich ein Höchstmaß an gesundheitlicher Fürsorge herstellen? ) durchbricht.
Biomedizin: Wie wollen wir leben?
Im Kontext der Spendebereitschaft geht es darum, handelnd Verantwortung zu übernehmen – wie bei vielen anderen Themen, die in Folge der Biomedizin diskutabel werden. Beim Thema Organspende verschiebt sich die Verantwortung des einzelnen über den eigenen Körper durch eine diagnostizierte gesellschaftliche Mangelsituation an Organen auf die betreffende Gesamtbevölkerung: Die Diskrepanz zwischen benötigten und gespendeten Organen spricht dabei scheinbar für sich. Um der neuen Verantwortung gerecht zu werden, die durch die medizinischen Möglichkeiten entsteht, müssen entsprechende Informationen über die Spender- und Empfänger zentralisiert werden. So kann Wissen statistisch ausgewertet und normalisiert werden, dass es als allgemeines Wissen über die Bevölkerung auch allen zur Verfügung steht.
Ein Organspendeausweis fungiert damit als Eintrittskarte zu einer anerkannten Gruppe der doppelt verantwortlichen Akteure: verantwortlich für die Gesundheit potenzieller Empfänger und verantwortlich gegenüber der möglichen psychischen Überforderung der Angehörigen; und das mit einer sehr überschaubaren Weise des Engagements. Den Organspendekontext kennzeichnet ein Dilemma, das man am Hirntodkriterium veranschaulichen kann: Während man früher davon ausging, dass im Falle eines diagnostizierten Hirntodes eine "postmortaler Organentnahme" stattfinden kann, ist heute in Folge neuer neurologischer Erkenntnisse und medizinischer Möglichkeiten (z. B. im Falle ausgetragener Schwangerschaften von hirntoten Patientinnen) durchaus eine Position nachvollziehbar, die in der Entnahme einen schwerwiegenden Eingriff in den Sterbeprozess sieht.
Das hier aufscheinende Dilemma fußt auf einer kulturellen Setzung. Bei den erwähnten Kampagnen geht es allerdings um weniger abstrakte Fragen: Hier steht nicht zur Disposition, ab wann ein Mensch als tot gilt, sondern es geht darum: Will ich dazugehören oder nicht? Solche Botschaften treffen uns unvermittelter als die geführten Normendebatten der disziplinären Bioethik oder die Aufklärungsverpflichtung der Krankenkassen. Sie können uns überall erreichen. Dazu muss man etwa nur das mobil-Heft der Deutschen Bahn inspizieren, in dem entsprechende Anzeigen geschaltet sind. Genau diese Omnipräsenz rechtfertigt eben die Lesart solcher öffentlichen Erscheinungen als Ethik und Biomacht.
Die Fragen, die die Anwendungsmöglichkeiten der Biomedizin stellt, betreffen jeden, weil es um die Frage geht, wie wir leben (wollen). Entscheidungen über den Einsatz der Biomedizin und ihre gesellschaftliche Akzeptanz werden eben nicht am runden Tisch der Politik oder im Lehnstuhl der Philosophie getroffen. Vielmehr sind sie abhängig von der gesellschaftlichen Akzeptanz der Verfahren. Und dieser geht ein Abwägen, ein Aushandeln voraus, das notwendigerweise öffentlich geschieht. Die erwähnten Plakate sind Teil dieses Prozesses. Sie machen deutlich, dass sie Entscheidungsenthaltsamkeit keinen Raum bieten. Sie zeigen stattdessen beispielhaft, welche Werte und Normen aktuell als gesellschaftlich vertretbar gelten. Diese Werte sind ernst zu nehmen, und zwar vor allem dann, wenn sie vordergründig wenig mit dem ethisch hoch aufgeladenen Thema Organspende zu tun haben. Indem Kampagnen nämlich Geschichten erzählen, die dechiffrierbar sind, weil sie aus einem Fundus kollektiver Bilder stammen, stiften sie eine Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie berichten vom guten Leben und das hat ganz offensichtlich nichts mit der aktuellen Bereitschaft zur Spende zu tun. Die Kampagnen sind aber damit selbst ein Seismograph gesellschaftlicher Mentalitätszustände.
Literatur
Düwell, Marcus (2008): Begründung in der (Bio-) Ethik und der moralische Pluralismus, in: Cordula Brand/Eve-Marie Engels/Arianna Ferrari/Läszlö Kovacs (Hrsg.): Wie funktioniert Bioethik, Mentis, Paderborn.
Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (1994): Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Athenäum Verlag, Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Campus, Frankfurt a.M.
Lemke, Thomas (2007): Gouvernementalität und Biopolitik, VS Verlag , Wiesbaden.
Liebsch, Katharina/ Manz, Ulrike (2007): Jenseits der Expertenkultur: zur Aneignung und Transformation biopolitischen Wissens in der Schule, VS Verlag, Wiesbaden.
Motakef, Mona (2011): Körper Gabe. Ambivalente Ökonomien der Organspende, transcript, Bielefeld.
Internetquellen:
Externer Link: http://www.dhzb.de/fileadmin/user_upload/deutsche_Seite/aktuell/presse/CLP.pdf (13.08.2013)
Externer Link: http://www.proorganspende.de/kampagnenfotos.htm (12.08.2013)
Externer Link: http://www.organspende-info.de/ (22.08.2013)
Externer Link: http://www.organpaten.de/ (24.08.2013)