Gefährdete Integration
Bund, Länder und Gemeinden legten 1999 ein gemeinsames Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt" auf. Sein Titel signalisiert, dass die Integrationsfähigkeit der Stadtgesellschaften gefährdet ist und diese Gefährdung vor allem in den Armuts- und Zuwanderungs-
quartieren der Städte verortet wird. Stadtviertel der Armen gab es immer schon - so wie die Quartiere der Mittel- und Oberschichten. Sie bilden die sozialstrukturellen Ungleichheiten der Gesellschaft ab, die bereits Friedrich Engels vor über 150 Jahren in den Elendsquartieren Englands in der Frühphase der Industrialisierung beschrieb. Dennoch galt die moderne deutsche Stadt der Nachkriegszeit lange als sozial, weil die Arbeitsmärkte einen Aufstieg ermöglichten und der Sozialstaat regulativ und umverteilend eingriff. Die Vision einer sozial gerechten Stadt schien daher realisierbar und zukunftsfest. Kommunale Daseinsfürsorge und Stadtplanung, sozialer Wohnungsbau und öffentliche Infrastruktur wurden von einträglicheren Bereichen quersubventioniert. Heute stoßen die hochverschuldeten Gemeinden die Sozialwohnungen ab und veräußern notgedrungen manches Tafelsilber der kommunalen Infrastruktur an private Träger. Die Arbeitsmärkte versperren vor allem Jüngeren, Migranten und Langzeitarbeitslosen langfristig den Einstieg. Diese sammeln sich in wenigen Quartieren.
Die Quartiere: Abwärtsspiralen
Armut konzentriert und verfestigt sich in einigen Stadtvierteln, während in anderen der Wohlstand zunimmt – auf diese Formel lassen sich die aktuellen Beschreibungen von Problemquartieren zusammenfassen. Die Stichworte Polarisierung und Spaltung der Stadt beschreiben, wie sich aus dem Mosaik der Stadtteile und Nachbarschaften einige herauslösen, weil sie den Weg eines sozialen wie wirtschaftlichen Niedergangs gehen. Jahrzehnte hoher Arbeitslosigkeit haben aus manchen Arbeiter- und Zuwanderungsvierteln längst Viertel der Arbeitslosen gemacht. Auf- und abgewertete Wohngebiete existieren wie Inseln der Armut und des Reichtums nebeneinander. Die einen sind auf dem Weg nach unten, die anderen auf dem Weg nach oben.
Der Grundgedanke des Programms
Die räumlich verfestigten Milieus der Ausgrenzung drohen, ganze Stadtquartiere ins gesellschaftliche Abseits zu ziehen, wenn nicht eine sozialverantwortliche Stadtentwicklung gegensteuert. Die Viertel wieder aufzuwerten, ist der Grundgedanke des Programms "Soziale Stadt". Er wurde im Rahmen der Stadtsanierung umgesetzt und wird über deren Fördermechanismus, die Städtebauförderung, finanziert.
Ein Programm in der Tradition der Stadtsanierung
Das Programm "Soziale Stadt" ist eine Weiterentwicklung der Städtebauförderung seit dem Städtebauförderungsgesetz von 1971, das der Bevölkerung in den sanierungsbetroffenen Quartieren Informations-, Schutz- und Mitwirkungsrechte bei großen Eingriffen der Stadtsanierung verschaffte. Während das Gesetz noch ein doppeltes Instrument einer wachstumsorientierten Innenstadtentwicklung und sozialstaatlichen Abfederung war, soll nun das Programm "Soziale Stadt" die Lebenssituation in den problembehafteten Stadtquartieren ohne solche externen Potenziale von innen heraus verbessern und bürgerschaftliche Ressourcen für kleine und kleinste Verbesserungen in allen Bereichen mobilisieren helfen.
Damit werden die sozialen Verhältnisse in den Städten nun selbst zum Gegenstand von Maßnahmen – nicht nur von Investitionen in bessere Straßen, Freiräume und Gebäude, sondern in Menschen. Nicht Beteiligung als Mobilisierung gegen, sondern Beteiligung als Aktivierung für Projekte, die sonst gar nicht erst entstehen würden, bilden das Zentrum der Bemühungen. Die Bürger sollen ihr Verhalten und Erwartungen an den Staat praktisch ändern. Die Standards des lokalen Sozialstaates sollen nicht als Leistungen abgerufen, sondern vor Ort selbst praktisch hergestellt werden – im Sinne eines aktivierenden oder kooperierenden, gewährleistenden statt versorgenden Staates. Dem entspricht die doppelte Zielsetzung des Programms.
Das Doppelziel des Programms: Erneuerung der Stadterneuerung
Das Programm verbindet materielle und politikbezogene Ziele. Das primär materielle Ziel, benachteiligte Quartiere zu stabilisieren, soll nun auf neuen Wegen mit einem integrierten Instrumentarium erreicht werden. Dieses zweite, politikbezogene Ziel ("Erneuerung der Stadterneuerung") meint die "innovative, nachhaltige Stadtentwicklung" durch integriertes Handeln aller beteiligten Ressorts und Akteure: die Aufgaben sollen auf viele Schultern verteilt und dazu neue Konstellationen von Akteuren und Finanzierungen mobilisiert werden.
Vorläufer und Vorbilder in Europa
Vergleichbare europäische Programme, die schon früher auf Armut und Ausgrenzung in den Städten reagierten, gibt es in Frankreich, Großbritannien, Dänemark und in den Niederlanden. Auch in Deutschland ist der Ansatz des Programms nicht völlig neu. Pioniere unter den deutschen Bundesländern waren die Landesprogramme Nordrhein-Westfalens (1993) und Hamburgs (1994). Ebenso zu nennen sind Hessen (1995), Bremen (1998) und Berlin (1999).
Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern
Es handelt sich nicht um ein eigenes Gesetz, sondern um eine zwischen Bund und Ländern jährlich zu schließende "Verwaltungsvereinbarung über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes an die Länder nach Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen" (VV). Der neue Programmansatz wurde erstmals 1999 in die Städtebauförderung integriert.
Die Kritik am Programm
Die Kritik ist so alt wie das Programm. Grundlegende Kritik richtet sich auf die Ziele. Statt Armut würden allenfalls die Symptome und Erscheinungsformen in den Quartieren, nicht aber deren Ursachen bekämpft. Aus dieser Sicht erscheint das Programm als "zweitbeste Lösung"; als soziales Feigenblatt legitimiere es lediglich eine neoliberale, auf ökonomisches Wachstum orientierte Stadtpolitik. Andere Kritiker erkennen an, dass die Quartiere nicht bloß Armut und Ausgrenzung widerspiegeln, deren Ursachen ökonomisch verursacht sind, sondern viele Ursachen haben. Benachteiligenden Effekte, die sich aus der Konzentration in benachteiligenden Quartieren ergeben ("Kontexteffekte"), könnten deswegen durchaus mit Mitteln von Stadtplanung und –politik bearbeitet werden. Damit rückt die Kritik an den Mitteln in den Vordergrund. Ist ein investives "Leitprogramm" des Städtebaus geeignet, soziale Ziele mit baulich- investiven Mitteln zu erreichen? Denn Investitionen in neue Straßen und Gebäude allein schaffen kein anderes soziales Klima, sondern vielmehr Investitionen in Menschen – also z. B. soziale Programme. Kann aber die bauliche Förderung dafür zielführend sein? Als Fachprogramm der Städtebauforderung droht die Soziale Stadt integrierte Ansätze eher strukturell zu unterminieren und ihrer Verbreitung Hürden in den Weg zu stellen. Auch ein Tunnelblick, der nur auf die Elendsquartiere gerichtet ist statt auf die unteilbare Gesamtentwicklung der Stadt, begrenze die Wirksamkeit des Programms ebenso wie die mangelnde Theorie der Verursachung im Sinne von Kontexteffekten.
Die Bausteine – ein lernendes Programm?
Während in den ersten Jahren noch der experimentelle Charakter vorherrschte, gibt es inzwischen relativ stabile Verfahren und Bausteine. Die Grundlage dafür legten Modellvorhaben, Programmbegleitung durch Erfahrungsaustausch, Monitoring und Evaluation. Typische Elemente des Programms sind Quartiersmanagement, integrierte Handlungskonzepte und quartiersbezogene Projekte. Die Zwischenevaluation des Bundes 2004 knüpft daran die Erwartung, dass es sich um ein lernendes Programm handelt: Kann es seine reflexiven, d.h. selbststeuernden, lernenden Züge dazu nutzen, um die Kritikpunkte produktiv in die Weiterentwicklung aufzunehmen und das Programm zu verstetigen?