Historikern zufolge wies Köln im Mittelalter die gleiche Rate an Gewaltkriminalität auf wie die New Yorker South Bronx Ende der 1980er Jahre. Galt Köln seinerzeit jedoch als Ort des Friedens, so war die Bronx der Inbegriff des gefährlichen Underclass-Ghettos. Erklären lässt sich diese vermeintliche Paradoxie zum einen durch den Vergleichsmaßstab: Im Mittelalter waren die befestigten Städte im Vergleich zum Land, auf dem neben marodierenden Raubrittern gar der Teufel vermutet wurde, sicherere Orte. Zum anderen durch eine zunehmende Sensibilität: Der "Prozeß der Zivilisation" (Elias) hat nicht nur eine langfristige Abnahme interpersoneller Gewalt mit sich gebracht, sondern auch eine entsprechende Sensibilität. Gesellschaften scheinen heute immer weniger bereit zu sein, Handlungen, die Individualität einschränken, zu akzeptieren.
Die anonyme Großstadt
Die objektivierbaren Merkmale anhand derer Großstädte definiert werden – Größe, Dichte, Heterogenität, Arbeitsteilung – deuten bereits ihr grundlegendes Dilemma und ihre Ambivalenz an. Sie sind durch strukturelle Fremdheit und Anonymität gekennzeichnet sowie gleichzeitig durch ein enormes Maß an wechselseitiger Abhängigkeit einander fremder Menschen. Die Stadt ist dadurch ein Ort der Produktivität, der Innovation, der Chance auf sozialen Fortschritt und der Befreiung der Individuen von den engen Zwängen dörflicher Gemeinschaften. Sie schafft die Freiheit zur Abweichung vom Handeln- und "Denken-wie-üblich" (Schütz 1972). Die anonyme Großstadt stellt die Nischen bereit, um sich von der dominanten moralischen Ordnung zu emanzipieren. Es ist eine "Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist" (Simmel 1992: 458). Die sozialen Bezugssysteme sind nicht mehr vordefiniert, und dies erlaubt es erst, dass sich Individuen als Individualitäten begegnen. Die Konfrontation mit sozial ungleichen und kulturell unterschiedlichen Menschen bedeutet aber auch eine permanente Krise. Fremdheit und Anonymität verunsichern: Der Fremde als Prototyp des Städters, weil er durch seine Position als außenstehender Beobachter die scheinbar selbstverständlichen Zivilisationsmuster hinterfragt und die Konfrontation mit anderen symbolischen Welten eine ontologische Verunsicherung mit sich bringt; die Anonymität, weil sie nicht nur eine negative Voraussetzung für Individualisierung ist, sondern auch mit Vereinzelung und einem Kontrolldefizit assoziiert wird. Die Ausdifferenzierung sozialer Milieus, Migration und Individualisierung überhöhen nun sowohl die produktiven und reizvollen, als auch die verunsichernden Elemente von Großstädten. "Die Stadt ist der Ort von Lust und Gefahr, von Chance und Bedrohung. Sie zieht an und stößt ab und kann das eine nicht ohne das andere" (Bauman 1997: 223).
Kontrolle in der Großstadt bedeutet damit in erster Linie Selbstkontrolle, die sich in einem wechselseitig distanzierten, von Gleichgültigkeit und Toleranz geprägten Umgang mit Fremden auszeichnet. "Der urbane Mensch setzt in jedem Falle voraus, dass der andere – mag dessen Verhalten noch so sonderbar sein – eine Individualität ist, von der her sein Verhalten sinnvoll sein kann. (...) Das Verhalten ist geprägt durch resignierende Humanität, die die Individualität des anderen auch dann respektiert, wenn keine Hoffnung besteht, sie zu verstehen" (Bahrdt 1998: 164). Voraussetzung für die auf Differenz beruhende Kultur der Stadt und damit ihr freiheitliches, produktives und emanzipatorisches Potential ist eine prekäre Balance sozialer Kontrolle: Sie tritt nur dann in Erscheinung, wenn die Individualität des einen die des anderen einzuschränken droht.
Bedrohte Urbanität
Diese Balance wird derzeit von zwei Seiten als gefährdet angesehen: Durch zunehmende Kriminalität und eine Informalisierung von Verhaltenstandards einerseits sowie durch neue Formen der Überwachung, die disziplinierende und räumlich exkludierende Effekte zeitigen sollen, andererseits.
Neue Formen von Kontrolle werden mit neuen Bedrohungen begründet. Kriminalität in Städten ist so eine Bedrohung, die sich zudem eignet, aus politischem Kalkül (Wahlkämpfe), aus ökonomischen Überlegungen (Sicherheit als Wachstumsmarkt und Sicherheitsgefühle als Standortfaktor) oder aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen (Arbeitsplätze bei Polizei, Sicherheitsgewerbe etc.) instrumentalisiert zu werden. Betrachtet man jedoch die in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Häufigkeitsziffern, so zeigt sich, dass die registrierte Straßenkriminalität zwischen 1993 (erstes Jahr, für das Daten für ganz Deutschland vorliegen) und 2005 nahezu kontinuierlich abgenommen hat: von 2.944 Fälle pro 100.000 Einwohner auf 1.966. Gestiegen sind allerdings die darunter subsummierten Fälle schwerer und gefährlicher Körperverletzungen im öffentlichen Raum, wobei nur knapp 40% aller so definierten Taten auf öffentlichen Straßen und Plätzen verortet sind. Zu bedenken ist gleichermaßen, dass die besonders beunruhigenden Handlungen, sexualisierte Gewalt sowie Tötungsdelikte, Delikte sind, die ganz überwiegend im privaten Nahbereich stattfinden – Opfer und Täter kennen sich meist gut. Es sind also Bedrohungen, die gerade nicht mit der Anonymität der Großstadt in Zusammenhang stehen. Der Fremde im öffentlichen Raum als sozialer Typus ist verunsichernd, aber relativ selten Quelle von Gefahren für Leib und Leben.
Soziales Handeln erhält zudem seine Qualität erst durch intersubjektiv hergestellte Bedeutungen. Kriminalität ist nichts Dingliches. Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt insofern das wieder, was die Polizei als Kriminalität bedeutet und registriert. Der Zweite Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung von 2006 verweist etwa darauf, dass Kriminalitätsbelastungsziffern mit Veränderungen in der Anzeigebereitschaft variieren – diese habe zugenommen. Die Thematisierung von Kriminalität in Großstädten ist mithin Ausdruck der erwähnten Sensibilisierung und davon, dass rigidere Ordnungsvorstellungen aus kriminalpolitischen und ökonomischen Erwägungen wieder an Gewicht gewinnen. Dies zeigt sich bei so genannten "social and physical disorder", unter die etwa Graffiti, Müll auf der Straße, öffentliches Urinieren oder auch Betteln, das noch in den 1970er Jahren explizit als "gemeinverträglich" aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, subsummiert werden. Mit der "Broken Windows Theorie" (Wilson/Kelling) wird angenommen, "disorder" verstärke Unsicherheitsgefühle und zöge "echte" Kriminalität nach sich. Nicht zuletzt Sampson (2004) verweist jedoch darauf , dass Zusammenhänge zwischen Unordnung und Kriminalität "largely spurious" sind, und daran anknüpfende Kriminalpolitiken gerade in so genannten Brennpunkten kontraproduktiv erscheinen. Mit neuen kommunalen Sicherheits- und Ordnungsgesetzen wird aber der definitorische Übergang fließend: "Any activity or behaviour containing an element of the unknown, a dimension of uncertainty, can be translated as being anti-social" (Bannister et al. 2006: 929). Dies gilt gerade auch für eigentumsrechtlich privatisierte Räume, wenn etwa sozial bedeutungsvolle Shopping-Center in Hausordnungen "angemessene Kleidung" vorschreiben oder Musikhören und das Verteilen von Flugblättern verbieten: Das von der lokalen Normalität abweichende Fremde wird als konsumstörend definiert und Ausschluss aus Raum ist die übliche Sanktion.
Vier Dimensionen sozialer Kontrolle
Damit ist die erste Dimension neuer Formen sozialer Kontrolle in Städten angesprochen: eine zunehmende Verrechtlichung von urbanen Verhaltensweisen und Räumen – denn viele Bestimmungen gelten lediglich an bestimmten Orten: Fußgängerzonen, Parks, Bahnhöfen ... Unmittelbar im Zusammenhang damit stehen Neuerungen auf der organisatorischen Ebene. Hierzu gehört der vermehrte Einsatz kommerzieller Sicherheitsdienste. Bewachten sie früher als Werkschutz die privaten Areale der Industriebetriebe, so schützen sie heute die Partikularnormen der Eigentümer de jure privater, aber überwiegend allgemein zugänglicher Räume der Dienstleistungsstadt: Einkaufszentren mit und ohne Gleisanschluss, Passagen etc. Zunehmend sind sie aber auch im eigentumsrechtlich öffentlichen Raum und im Auftrag der Kommunen oder von Nachbarschaftsorganisationen tätig. Gerade letzteres deutet darauf hin, dass Sicherheit zu einer Dimension sozialer Ungleichheit in Städten wird: Sie wird zu einem Gut für diejenigen, die es sich leisten können.
Des Weiteren verfügt auch die Polizei über neue Handlungsspielräume, Platzverweise und teilweise Monate andauernde Aufenthaltsverbote auszusprechen sowie an von ihr selbst definierten "gefährlichen Orten" verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen. Gleichermaßen räumlich ausgerichtet sind jüngere Konzepte polizeilichen Handelns. Die Strategie der Null-Toleranz widerspricht bereits in ihrer Begrifflichkeit Vorstellungen von Urbanität, ebenso die weniger repressiv ausgerichteten Ansätze des "Community Policings" oder die Aktionen "wachsamer Nachbar". Nachbarn und lokale Institutionen sollen Probleme artikulieren, selbst als Kontrolleure agieren und Sicherheit soll als Vehikel der Vergemeinschaftung fungieren. Vergemeinschaftung steht jedoch Vergesellschaftung als Merkmal und Prinzip des Städtischen entgegen, und entsprechende Programme unterliegen der Gefahr, alles (Orts-)Fremde als Problem zu definieren. Abgrenzende sowie 'problemverlagernde' Praktiken überhöhen Segregation und unterminieren zudem produktiven Austausch zwischen urbanen Dörfern.
Ein solche Orientierung zeigt sich auch in einer dritten Dimension der Kontrolle: bauliche und gestalterische Änderungen. "Crime Prevention Through Environmental Design" setzt neben situativer Kriminalprävention ebenfalls bei Vergemeinschaftung an. Territoriale Verantwortungen sollen durch bauliche Eingrenzungen gestärkt werden und Gemeinschaften definieren sich vor allem durch Abgrenzung nach Außen. Die symbolische Schließung oder eine Ästhetisierung von Raum soll eine selektive Zugangsbereitschaft bewirken. Sie können Exklusion bedeuten, ohne dass Polizei oder Sicherheitsdienste Platzverweise oder Hausverbote aussprechen. Öffentliche Räume verlieren dadurch ihren Charakter allgemeiner Zugänglichkeit: Der Einsatz von Luxus suggerierendem Marmor oder Granit kann in Innenstädten genauso als 'sozialer Filter' wirken wie Graffiti, die in den USA Gangterritorien anzeigen sollen, oder wie symbolische Zufahrtsbeschränkungen in Nachbarschaften – lediglich die Adressaten der Symbole variieren. Baulich-gestalterische Änderungen sind oft auch Voraussetzungen für den Einsatz von Kameras, denn Raum muss dafür einsehbar sein.
Überwachte Stadt
Insbesondere die vierte Dimension von Kontrolle – Technik – rechtfertigt es, von Überwachung zu sprechen. Auch wenn der Einfluss von Beobachtungssatelliten, eine Digitalisierung von Stadt sowie die Verwendung von RFID-Chips neue Qualitäten erwarten lassen, derzeit sind Videokameras noch die entscheidende Ausprägung. Sie sind das Symbol der überwachten Stadt. Allein für London wird deren Zahl auf vier Millionen geschätzt, und jeder Einwohner wird durchschnittlich etwa 300mal am Tag von Kameras erfasst. Auch wenn in Großbritannien, im Unterschied zu deutschen Städten, eine Vielzahl der Kameras durch die Polizei betrieben wird, so erscheint die Metapher des Big Brothers dennoch auch dort nicht angemessen. Die Masse wird von privaten Akteuren in U-Bahn-Stationen oder Supermärkten betrieben, sodass eher von vielen kleinen Brüdern und Schwestern gesprochen werden muss. Eine Nähe zu George Orwells "1984" lässt jedoch die Terminologie erahnen: "Neusprech" hätte er es genannt, wenn immer öfter statt von Videoüberwachung von Videoschutz die Rede ist, um ein negatives Image zu vermeiden. Auch wenn sie in Umfragen regelmäßig Zustimmung ernten, so sind Kameras keineswegs eindeutig in ihrer Wirkung: Sie evozieren nicht nur Sicherheitsgefühle, sondern auch solche, überwacht zu werden.
Videoüberwachung ruft oft auch erst Assoziationen von Gefahren hervor. Außerdem erscheint ihre präventive Wirkung auf strafrechtlich relevantes Verhalten gering. Methodisch aufwendigen Studien im Auftrag des Britischen Innenministeriums aus den Jahren 2002 und 2005 zufolge wirken sie bei Diebstählen von und aus Kraftfahrzeugen präventiv. Andere Diebstahlsdelikte reduzieren sie nur minimal, und auf die erwähnten ansteigenden und bedrohlich wirkenden Formen körperlicher Gewalt im öffentlichen Raum haben sie gar keinen Einfluss. Kameras als Disziplinarinstrumente können nur auf rationales, nicht auf emotionales Handeln zielen. Die Idee des Benthamschen Panopticons greift in der Stadt nicht, auch weil die Überwachungssituationen in der Reizüberflutung der Großstadt kaum wahrgenommen werden (können).
Die Technik hat jedoch ein repressives Potential, das allerdings vom Einsatz von Personal und entsprechender Software abhängt. Versuche, in Datenbanken gespeicherte Personen automatisch zu identifizieren, wie 2006 im Mainzer Hauptbahnhof, verweisen darauf. Datenbanken mit digitalisierten Passfotos bieten die Basis dafür, alle Menschen oder selektiv bestimmte Gruppen permanent zu überwachen. Ob dabei der Besuch einer Schwulenbar, einer Synagoge, einer Moschee oder die Haut- oder Haarfarbe verdachtleitend ist oder vielleicht das längere Stehen an einer bestimmten Stelle, ist immer eine Frage von sich historisch verändernden Zuschreibungen und Machtverhältnissen. Die Anonymität und die unvollständige Integration der Großstadt, die es einem erlaubt, nur einen Ausschnitt seiner Persönlichkeit zur Schau zu stellen, Rollen zu wechseln, Stigmatisierungen zu umgehen, und damit die Freiheit der Großstadt, sich unerkannt für politisch marginale Positionen zu engagieren, Sexshops oder soziale Beratungsstellen aufzusuchen, würde unterminiert. Ein Ende hätte die Anonymität aber erst, wenn auch die Anwohner eines Quartiers auf die Bilder von Überwachungskameras mit dem eigenen Fernseher zugreifen können. Wenn sie also ihre Nachbarn etwa dabei beobachten können, wann oder mit wem sie nach Hause kommen. Insbesondere solche formalisierten Kontrollen durch Anwohner, wie sie bereits in einigen englischen und us-amerikanischen Städten praktiziert werden, lassen großstädtische Nachbarschaften zu Dörfern werden, ohne gleichsam deren positiven Effekte zu reproduzieren: Hilfsbereitschaft und soziale Netzwerke entstehen durch heimliche Beobachtung nicht.
Umfassende Sicherheit kann es gerade in Großstädten nie geben, und bereits Emilé Durkheim (1974) wies mit seiner Klostermetapher darauf hin, dass es ebenso wenig eine Gesellschaft ohne Kriminalität geben kann. Aber selbst hinsichtlich Sicherheitsgefühlen gelten neuere Kontrollansätze als ambivalent: Kameras und Mauern erinnern permanent an Gefahren, und seien sie nur auf der anderen Seite der Mauer vermutet wie im mittelalterlichen Köln.
Literatur
Bahrdt, Hans-Paul (1998) [1961]: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Opladen.
Bannister, Jon/Fyfe, Nick/Kearns, Ade (2006): Respectable or Respectful? (In)civility and the City, in: Urban Studies 43, 5/6, 919-937.
Bauman, Zygmunt (1997): Flaneure, Spieler und Touristen, Hamburg.
Durkheim, Émile (1974) [1895]: Kriminalität als normales Phänomen, in: Sack, Fritz/König, René (Hg.): Kriminalsoziologie, Frankfurt/Main.
Sampson, Robert J. (2004): Neighbourhood and Community. Collective Efficacy and Community Safety, in: New Economy 11, 106-113.
Schütz, Alfred (1972): Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze II, Den Haag, 53-69.
Simmel, Georg (1992) [1908]: Die Kreuzung sozialer Kreise, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/Main, 456-511.