Als städtebauliches Konzept ist die Altstadt eine ziemlich neue Erfindung. Die Idee, dass eine lebenswerte Stadt einen historischen Kern aufweisen soll, an dem sich historische Entwicklungen anschaulich und für jeden verständlich ablesen lassen, ist in Europa in den 1970er Jahren aufgekommen. Erst seit dieser Zeit werden historische Stadtkerne nicht einfach als Ansammlung älterer und oft auch als veraltet angesehener Wohn- und Geschäftsgebäude betrachtet, sondern als Lehr- und Schauprojekt für die Bewohner, als Attraktion für Besucher und als Grundpfeiler lokaler Identität. Das beinhaltet sowohl die Altstädte im engeren Sinn, also die vormodernen Stadtkerne, als auch die „historischen Viertel“ aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert.
Das Gegenmodell zur funktionalen Stadt
Um diese Entwicklung zu veranschaulichen, muss man sich in die Situation der 1960er Jahre zurückversetzen. Damals lief in Deutschland, wie in den meisten Nachbarländern, das Projekt einer grundlegenden baulichen Erneuerung der Städte auf vollen Touren. Die Kriegsschäden waren größtenteils behoben, die Wirtschaft wuchs. Der Traum einer Stadt ohne Außentoiletten, Kohleöfen und unterernährte Kinder war zum Greifen nahe. Westdeutschland erlebte das Wirtschaftswunder, Frankreich die trente glorieuses („glorreichen 30 Jahre“), Skandinavien die Hoch-Zeit des Wohlfahrtsstaates – aber auch die DDR durchlebte um 1970 die wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre ihrer Geschichte.
Auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs wurde der Aufschwung von einer Ideologie des Fortschrittes begleitet, von einem scheinbar grenzenlosen Vertrauen in die Macht der Wissenschaft und in die Zukunft der Autogesellschaft. Dieses Weltbild wurde je nach herrschender Ideologie entweder marktwirtschaftlich oder realsozialistisch begründet. Die historische Stadt dagegen bedeutete das Rückständige und Überholte. Sie war der Wohnort jener, die noch nicht vom Fortschritt profitieren konnten und mit den Emblemen der alten Gesellschaft leben mussten: In den für den Autoverkehr ungeeigneten Gassen der Stadtkerne oder in den mit dem Makel des Arbeiterelends behafteten Mietskasernen der Gründerzeitviertel.
Die herrschenden städtebaulichen Modelle jener Zeit stammten aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts:
Einerseits die funktionalistische Stadt: Ein von Hochhäusern in einer Parklandschaft gekennzeichnetes, nach den Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkauf getrenntes und größtenteils durch Autos erschlossenes Gemeinwesen, wie es etwa von dem Architekten und Stadtplaner Le Corbusier in seiner Charta von Athen von 1944 vertreten wurde.
Andererseits die Gartenstadt, jene von Ebenezer Howard 1898 erstmals formulierte Idee einer Verbindung von Stadt und Land. Sie hatte einen starken Einfluss auf die Pläne „durchgrünter“ Stadtviertel, etwa auf die Einfamilienhaus-Vororte in Westeuropa, aber auch auf die „komplexen Wohnviertel“ der DDR oder die mikrorayony („Kleinst-Stadtviertel“) der Sowjetunion. Sie alle sollten – zumindest in der Theorie – eine harmonische und visuell ansprechende Parklandschaft aus Plattenbauten, Grünflächen und sozialen Einrichtungen bilden.
Die Neuentdeckung der Altstadt
Je mehr jedoch diese moderne Stadt zum Normalzustand wurde, je mehr fließend warmes Wasser, Zentralheizungen und Innentoiletten zur Standarderfahrung wurden, desto mehr wurde man sich bewusst, was auf dem Weg der Modernisierung verloren gegangen war. In den frühen 1960er Jahren meldeten sich die ersten Kritiker der Modernisierungspolitik. In den USA verfasste Jane Jacobs die wohl einflussreichste Schrift in der Geschichte der modernen Stadtplanung. „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ erschien erstmals 1961 und wurde innerhalb weniger Jahre zum internationalen Bestseller.
Das Buch war eine schonungslose Anklage gegen die Eliten jener Zeit, die „zum Wohle der Allgemeinheit“ die einfacheren Stadtviertel des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrer Lebendigkeit und ihrem Straßenleben zu „Slums“ deklarierten, mit staatlichen Geldern abrissen und durch standardisierte Wohnblöcke ersetzten. Seine Schlagkraft erhielt das Werk durch die Verbindung mit den großen Kampfthemen jener Zeit, nämlich der Kritik an hierarchischen Entscheidungsstrukturen, an allgemeiner Entmündigung und an der Benachteiligung von Frauen und Minderheiten. Denn es waren in erster Linie universitär ausgebildete „Experten“, die im Rahmen der Stadtplanung über das Schicksal der vermeintlich Ungebildeten entschieden und fast alle von ihnen waren Männer. Die in Folge aus ihren Stadtvierteln Vertriebenen waren, vor allem in den USA, in erster Linie Minderheiten wie Schwarze oder italienische Einwanderer.
Die alte Stadt – also die vormodernen Stadtzentren und die Gründerzeitquartiere mit ihren Plätzen und Boulevards – erhielt in diesen neuen Debatten eine doppelte Bedeutung. Einerseits beschreibt man sie als Ort einer bewahrenswerten Volkskultur. Das konnten die pulsierenden Italienerbezirke in Boston und New York sein, die liebenswerten Berliner Arbeiterkieze mit Eckkneipen und Currywurstbuden oder auch die charmanten Fachwerkviertel in Rothenburg, Straßburg oder Chester mit ihren alteingesessenen Handwerksbetrieben. Andererseits wird die alte Stadt nun mit genau jenem Versprechen einer besseren Gesellschaft in Verbindung gebracht, das bislang mit Hochhäusern in Parklandschaft verbunden war. Die notwendigen Faktoren für mehr Gerechtigkeit und Mitbestimmung waren jetzt nicht mehr in erster Linie fließendes Wasser, frische Luft und ausreichender Platz für Arbeiter und kleine Angestellte, sondern ihr Verbleiben im angestammten Wohnviertel und ihr Recht auf eine eigene Entscheidung.
Ähnliche Ansätze wie Jane Jacobs verfolgten auch deutsche Theoretiker. „Die gemordete Stadt“ des Journalisten Wolf-Jobst Siedler erschien 1964, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ des Psychologen Alexander Mitscherlich 1965. Beide Bücher wurden zu Bestsellern. Sie waren erbitterte Anklagen gegen eine Generation von Stadtplanern, die das Beste wollte und das Gegenteil erreichte: Abweisende Betonburgen, dem Autoverkehr geopferte Sozialräume und die Zerstörung ästhetischer Erfahrungen im Stadtraum. Gleichzeitig betonten sie die Qualitäten der alten Stadtviertel. Das waren etwa die Blockrandbebauung mit Wohnzimmerfenstern zur Straße, aus denen der öffentliche Raum überblickt werden kann und dadurch sicherer wird, die Funktionsmischung, die es Nicht-Autobesitzern ermöglicht, Einkäufe an der Straßenecke zu erledigen und ganz allgemein die inspirierende städtische Vielfalt, die aus dem engen Nebeneinander unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen entsteht.
In Europa stand das Schlimmste jedoch trotz der in den 1960er Jahren anhebenden Kritik noch bevor. In West-Berlin etwa wurde 1963 das „Erste Stadterneuerungsprogramm“ verabschiedet, das die Kahlschlagsanierung von über 10 Prozent aller Gebäude vorsah. Die große Abrisswelle rollte in den darauf folgenden Jahren über Europa hinweg. Ihr fielen zahllose historische Stadtviertel zum Opfer, unter anderem Bethnal Green in London, Gorbals in Glasgow, das Brunnenstraßen-Viertel in West-Berlin und große Teile von Nørrebro in Kopenhagen.
Jahrelang geschah das nahezu ohne Widerstand der Betroffenen – also jener, die ihr angestammtes Stadtviertel verlassen mussten und in einen Neubau umgesiedelt wurden. Vereinzelte Proteste formierten sich lediglich, wenn sich die Zerstörung auf Baudenkmäler ausdehnte, wie etwa die St.-Florians-Kirche in Wien (abgerissen 1965), die Paulinerkirche in Leipzig (abgerissen 1968) oder die zentralen Markthallen in Paris (abgerissen 1971).
Erst in der Folge der Proteste von 1968 wehrte man sich in Europa zunehmend auch gegen die Zerstörung historischer Wohnhäuser – also fast ein Jahrzehnt nach den vernichtenden Diagnosen von Jacobs, Mitscherlich oder Siedler. Das geschah zu einer Zeit, als der Bedarf nach mehr Wohnraum gerade durch die zahlreichen modernen Wohnblöcke mehr und mehr erfüllt worden war. Jetzt waren es Pioniere wie Architekt Hardt-Waltherr Hämer in West-Berlin oder Bürgermeister Renato Zangheri in Bologna, die das Konzept „modernisierter Altbau“ erprobten. Man konnte jetzt also erstmals modernen Komfort mit dem Verbleib im angestammten Viertel verbinden. Man musste nicht mehr, wie zuvor, Zentralheizung und fließendes Wasser mit einem Umzug an den Stadtrand bezahlen. Zu einer Zeit, als Gentrifizierung noch kein Thema war, die innerstädtischen Altbauviertel noch in erster Linie Arbeiterquartiere waren und die meisten westeuropäischen Länder eine linksliberale, sozialstaatliche Wohnungspolitik verfolgten, profitierten vor allem ärmere Schichten von solchen Pionierprojekten. Das sollte sich in den darauf folgenden Jahrzehnten ändern.
Widersprüchliche Frontlinien
Bemerkenswert sind die Frontlinien in der Debatte um Abriss oder Renovierung. Die Kahlschlagsanierung war fast überall in Westeuropa ein Projekt der Sozialdemokratie, die für Fortschritt und Moderne stand und das Versprechen akzeptabler Wohnbedingungen für die arbeitenden Schichten einlösen wollte. Ihre Gegner waren sowohl gemäßigte Rechte als auch radikale Linke: Einerseits waren es konservative Denkmalpfleger und bürgerliche Intellektuelle wie Siedler oder Mitscherlich, die den Verlust von Heimat, Ästhetik und stadtbürgerlicher Kultur beklagten. Andererseits waren es marxistische Studenten, protestierende 1968er oder – wie in Bologna – kommunistische Bürgermeister, die sich mit den von Vertreibung bedrohten Altstadtbewohnern solidarisierten.
Die widersprüchlichen Wurzeln erklären die Überzeugungskraft der Altstadtidee für Vertreter unterschiedlicher politischer Ansichten. Für Traditionalisten war sie mit ästhetischem Genuss und Heimatgefühl verbunden, für bürgerliche Intellektuelle mit Toleranz und demokratischem Austausch, für marxistische Arbeiter mit dem „Recht auf Stadt“, für radikale Hausbesetzer mit dem Kampf gegen den Kapitalismus und der Utopie eines selbstbestimmten Lebens.
Zunächst jedoch war die Bewahrung der Altstadt eine Forderung an den Wohlfahrtsstaat, die teilweise auch eingelöst wurde. Bröckelnde Fachwerkhäuser und Mietskasernen wurden mit staatlichen Geldern saniert und großzügige Förderprogramme widmeten sich dem „Quartiersmanagement“, also solchen Strategien, die auf Verbesserungen für die existierenden Bewohner abzielen. In Bologna wurde erstmals ab 1973 eine Sanierung von Altstadtbezirken auf partizipative Weise und für ihre Bewohner praktiziert. Rotterdam verfügte 1974 die erste Sanierung mit Bewohnerbeteiligung im Stadtviertel Oude Westen. Wien entwickelte ab Mitte der 1970er Jahren die „sanfte Stadterneuerung“. Glasgow vergab zur gleichen Zeit die ersten Fördergelder zur Altbausanierung durch „Community Based Housing Associations“ – kleine, von Anwohnern betriebene Wohnungsbaugesellschaften. Und in Kopenhagen, wie in ganz Dänemark, wurden schließlich 1983 „sanfte“ Strategien unter dem Begriff byfornyelse (Stadterneuerung) gesetzlich verankert.
In Deutschland dagegen erfolgten vergleichbare Entwicklungen eher spät. Nachdem 1975 das Europäische Denkmalschutzjahr unter dem Motto „eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ begangen worden war, dauerte es noch Jahre, bis sanfte Sanierungen ohne Abrisse und Vertreibung gesetzliche Wirklichkeit wurden. In West-Berlin wurde die „behutsame Stadterneuerung“ 1983 zur rechtlich verbindlichen Leitlinie. In der DDR verfügte man bereits 1978 einen generellen Abrissstopp für Altbauten. Er wurde zwar im Gegensatz zu den West-Berliner Bestimmungen oft nicht eingehalten, besaß aber immerhin symbolische Bedeutung.