Städtische Vielfalt und soziale Ungleichheit
Ein Leben in großen Städten ermöglicht Selbstentfaltung, bedeutet die Begegnung mit Vielfalt und beinhaltet auch das Erleben und das Aushalten von Unterschieden. So jedenfalls lautet eine häufig anzutreffende Zusammenfassung dessen, was seit den Anfängen einer Auseinandersetzung mit der Großstadt bis hinein in die Gegenwart von Seiten der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung, aber auch von Kunst und Literatur an Auskunft über das Charakteristische des urbanen Lebens gegeben werden kann.
Eine andere Zusammenfassung hingegen betont nicht die Unterschiedlichkeit der Lebensentwürfe, sondern die Ungleichheit in den Lebens- und Handlungsbedingungen als kennzeichnend für die sozialen Lebensverhältnisse in den Städten. In dieser Perspektive wird die Wirklichkeit der Städte vor allem durch eine gesellschaftlich bedingte, ungleiche Verteilung von knappen, aber lebensrelevanten wie begehrten Ressourcen bestimmt. Diese Ungleichverteilung bedingt ungleiche soziale (Klassen-)Lagen und positioniert somit die Einzelnen in der hierarchisch gegliederten Sozialstruktur einer Gesellschaft.
Die Positionierung in der gesellschaftlichen Sozialstruktur wiederum erlaubt es einigen besser, anderen weniger gut und manchen gar nicht, ihr Leben auf dem Niveau eines allgemein anerkannten Lebensstandards und in Hinblick auf allgemein anerkannte Lebensziele zu führen, politisch Einfluss zu nehmen, an Bildungsprozessen teilzuhaben sowie sich persönlich zu entfalten. Die Ungleichverteilung lebensrelevanter Ressourcen ist deshalb auch selbst Gegenstand des sozialen Konflikts. Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung und die Legitimität der Verteilungsmechanismen und -muster formen eine zentrale, auch die Stadtpolitik und -planung prägende Konfliktlinie.
Insofern das „Mehr oder Weniger an gesellschaftlichen Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten“ seinerseits divergierende (unterschiedliche) Lebensstile bedingt und in unterschiedlichen sozialen Milieus seine lebenspraktische Bewältigung findet, produziert es zugleich die erfahrbare „Vielfalt der Stadt“. Was der ersten Zusammenfassung nach das Charakteristische des urbanen Lebens ausmacht, ist der zweiten Zusammenfassung nach deshalb vor allem ein Symptom gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse:
QuellentextGesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse
Vieles von dem, was als Diversität der Stadt erfahrbar ist, beruht auf sozialer Ungleichheit.
Quelle: Siebel 2015: 312
Sozialstruktur der Gesellschaft und sozial-räumliche Stadtstruktur
In der Problematisierung der sozialen Lebensverhältnisse in den Städten als Verhältnissen sozialer Ungleichheit spiegelt sich zum einen wider, dass seit Beginn des Doppelprozesses aus Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert die als soziale Probleme diskutierten Krisensymptome der modernen, bürgerlichen Gesellschaft zunächst als städtische Probleme erscheinen. Zugleich aber waren und sind es die Großstädte, an denen sowohl der allgemeine materielle Reichtum der Gesellschaft als auch ihr Reichtum an technologischen, politischen und sozialen Innovationen und Optionen offensichtlich wird. Die Städte wurden und werden deshalb als „Katalysator, Filter oder Kompressor gesellschaftlicher Entwicklungen“ erlebt und beschrieben. In Städten kommen die Kennzeichen der modernen Gesellschaft verdichtet zum Ausdruck und treten deren soziale Gegensätze besonders deutlich hervor.
Ein Erklärungsmoment für dieses Erleben der großen Stadt als das „Brennglas“ der Gesellschaft ist die Einschreibung der gesellschaftlichen Sozialstruktur in den physischen Raum der Städte. Die ungleichen sozialen Lagen der verschiedenen sozialen Gruppen der Stadtbevölkerung bringen sich in ungleichen Wohnverhältnissen und differierenden (verschiedenen) sozial-räumlichen Lebensbedingungen zur Geltung: Sie manifestieren sich über Prozesse der sozialen Segregation, also der ungleichen räumlichen Verteilung von Bevölkerungsgruppen im Stadtraum, in einer räumlichen Konzentration von sozial schlechtergestellten, armen Bevölkerungsteilen in den Stadtgebieten mit schlechten Wohn- und Wohnumfeldbedingungen einerseits und von sozial bessergestellten, reichen Bevölkerungsteilen in den Stadtgebieten mit guten Wohn- und Wohnumfeldbedingungen andererseits.
Prozesse der sozialen Segregation wirken deshalb „wie eine Art spontane Symbolisierung“ der Verhältnisse sozialer Ungleichheit als Stadtraum bzw. im Stadtraum. Soziale Ungleichheit wird augenscheinlich sichtbar in den Kontrasten zwischen den Villenvierteln und den Vierteln der Mietskasernen oder in den spürbaren räumlichen Distanzen zwischen den innerstädtischen Mittelschichtsenklaven und den Hochhaussiedlungen am Stadtrand. Die konkrete Erlebbarkeit dieser Gegensätze wiederum kann dazu verleiten, die ungleiche Lokalisierung sozialer Bevölkerungsgruppen im Stadtraum selbst als ursächlich für ihre ungleichen Lebensverhältnisse auszugeben.
Demgegenüber ist es eine der Aufgaben sozialwissenschaftlicher Stadtforschung, Prozesse sozialer Segregation aus dem Zusammenhang von sozialer (Klassen-)Lage, einer marktvermittelten Wohnungsversorgung und daraus resultierenden Wohnverhältnissen heraus erklärbar zu machen. Zudem wird auf Wechselbeziehungen zwischen einem ungleichen sozio-ökonomischen Status, der sozialen Segregation und weiteren, damit korrespondierenden Benachteiligungen aufmerksam gemacht, etwa im Hinblick auf Bildungschancen oder Gesundheit. So lassen sich zum Beispiel deutliche Zusammenhänge zwischen sozialer Segregation und der sozialräumlichen Verteilung von Umweltbelastungen bzw. einem ungleichen Zugang zu Umweltressourcen nachweisen.
An solchen Zusammenhängen wird zum einen deutlich, dass eine Thematisierung sozialer Segregation auch Bestandteil einer Auseinandersetzung mit vermeintlich stadtfernen Themen wie etwa der Umweltgerechtigkeit sein kann. Zum anderen geht es mit der Verfolgung solcher Zusammenhänge auch darum, Rückkoppelungs- und Verstärkereffekte der sozialen Segregation auf soziale Ungleichheit zu untersuchen.
Empirische Aussagen zum Ausmaß sozialer Segregation werden vor allem über die einzelnen Armuts- und Sozialberichte getroffen, die im Rahmen des in vielen Großstädten in den letzten zwei Jahrzehnten etablierten „Sozialmonitorings“ der Stadtverwaltungen entstehen. Sie geben einen detaillierten Überblick über die sozial-räumliche Sortierung von Bevölkerungsteilen im Stadtraum der einzelnen Städte. Vergleichend über die 15 bevölkerungsreichsten Großstädte der Bundesrepublik hinweg hingegen ist soziale Segregation in einer materialreichen Studie Ende der 2000er Jahre untersucht worden. Ausgangspunkt der Studie ist eine steigende soziale Ungleichheit in der vorausgegangen Dekade: Beobachtet werden eine Zunahme der (Einkommens-)Armut und, damit vermittelt, eine wachsende Einkommensungleichheit. Von da aus wird die Übersetzung sozialer in sozial-räumliche Ungleichheit in den Blick genommen.
Die Beobachtungen und Befunde zum Aspekt soziale Segregation verweisen für einen Zeitraum von 1990 bis 2005 auf drei Entwicklungen:
Befunde zu sozialer Segregation
Erstens nimmt in der Mehrzahl der Städte die Zahl der Armutsgebiete […] zu; ebenso ist in vielen Städten zu erkennen, dass die armen Gebiete weiter verarmen. […] […]
Zweitens gibt es eine Reihe von Städten, in denen in zahlreichen Stadtteilen die Armutsquoten gesunken sind, sich zumindest nicht erhöht haben. […] [...]
Drittens gibt es in allen Städten Stadtteile, in denen über den gesamten hier betrachteten Zeitraum […] die Armut nicht geringer wird.
Quelle: Friedrichs/Triemer 2008: 34
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kommt die Untersuchung zu einem differenzierenden Ergebnis.
Zum einen diagnostiziert sie mit Hilfe einer Berechnung des sogenannten Segregationsindexes über die Stadtteile aller Städte hinweg eine Zunahme sozialer Segregation in den ausgewählten Großstädten zwischen 1990 und 2005.
Zum anderen betont sie, dass dieser allgemeine Befund das Resultat unterschiedlicher, durchaus gegensätzlicher Entwicklungen ist: Neben Städten mit Tendenzen zu einer zunehmenden sozialen und sozial-räumlichen Spaltung stehen solche mit weitgehend stabilen Mustern sozialer und sozialräumlicher Ungleichheit sowie solche mit sinkenden Armutsquoten.
Mit diesen Beobachtungen stützt die genannte Studie auf einer breiten Datengrundlage das, was vielleicht als der gemeinsame Nenner sozialwissenschaftlicher Forschung zur sozialen und sozialräumlichen Ungleichheit in und zwischen den Städten gelten kann. Demnach vervielfältigen sich innerhalb der großstädtischen Agglomerationen die Muster sozialer Differenzierungen und nimmt die soziale Ungleichheit zu. Diese Entwicklungen schlagen sich vermittelt über Segregationsprozesse auch räumlich nieder. Die städtische Entwicklung der letzten Dekaden, so die vielfach geteilte Diagnose, ist daher gekennzeichnet durch eine zunehmende „Fragmentierung der Städte“. Daneben und zugleich lassen sich erhebliche Differenzen zwischen Städten etwa in Hinblick auf ihre wirtschaftliche Dynamik, die Beschäftigungsstruktur und auf das Gefälle zwischen Wohlstand und Armut festhalten.
Sozio-ökonomischer Wandel und Stadtentwicklung
Als Hauptursache für diese Entwicklung gilt der ökonomische Strukturwandel der letzten Jahrzehnte. Er transformierte den Arbeitsmarkt und restrukturierte somit eine, wenn nicht die zentrale gesellschaftliche Institution in der Verteilung von Ressourcen und damit in der Zuweisung von sozialen Lebenslagen.
Die Beobachtungen zu einem ökonomischen Strukturwandel und zu dessen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse in den Städten sind umfangreich. Die Städte unterliegen demnach zum einen dem anhaltenden Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie, der vorwiegend „altindustriell“ geprägte Städte unter erheblichen Problemdruck setzt. Zum anderen sind sie konfrontiert mit der Globalisierung, also der Liberalisierung und Deregulierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Darüber hinaus begünstigen technologische Innovationsschübe auf den Gebieten der Mikroelektronik, der elektronischen Datenverarbeitung und der Telekommunikation den Aufbau und die fortwährende Neustrukturierung transnationaler Produktions- und Transportketten sowie eine fortlaufende Automatisierung von Arbeitstätigkeiten. Diese sich gegenseitig verstärkenden Prozesse der Tertiärisierung, Globalisierung und Automatisierung der städtischen Ökonomien bewirkten nicht nur eine gesteigerte (Standort-)Konkurrenz der Städte um Funktionen der Produktion, Konsumtion und Kontrolle. Sie haben auch neue Formen der Arbeit, der Arbeitsteilung und -organisation hervorgerufen. Das wiederum hat sich in veränderten Nachfragemustern nach Arbeitskraft auf den Arbeitsmärkten niedergeschlagen.
Weil ein Großteil der Stadtbevölkerungen ihren Lebensunterhalt aus Erwerbsarbeit erzielt, ihre soziale Lage also von den Möglichkeiten des Verkaufs ihrer Arbeitskraft auf den städtischen Arbeitsmärkten bestimmt wird, hat sich die Diskussion um den Zusammenhang von ökonomischem Wandel und wachsenden sozialen Ungleichheiten in den Städten zunächst vor allem auf den Prozess der Deindustrialisierung, dem damit verbundenen Einbruch in der Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeitskraft sowie auf die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit konzentriert.
Der Wegbruch traditioneller, beschäftigungsintensiver Branchen der Textil-, Werft- und Montanindustrie hatte die Arbeitslosigkeit in westdeutschen Städten spätestens seit Anfang der 1980er Jahre, in west- und ostdeutschen Städten in den 1990er Jahren stark ansteigen lassen und konnte nicht durch im Dienstleistungsbereich entstehende neue Arbeitsplätze reduziert werden. Mit diesem Ansteigen der Arbeitslosigkeit ging deshalb ein erneuter Anstieg der Armut einher. Zugleich wurde am Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit eine Verfestigung von Arbeitslosigkeit und Armut konstatiert. An diesen Entwicklungen setzte (und setzt) wiederum die Beobachtung einer dauerhaften sozialen Ausgrenzung an: Der Ausschluss von Teilen einer Stadtbevölkerung nicht nur aus der Erwerbssphäre, sondern – über die fehlenden ökonomischen Ressourcen vermittelt und regelmäßig mit Diskriminierungserfahrungen verschränkt – auch von der Teilhabe an den politischen, kulturellen und sozialen Aspekten des städtischen Lebens.
Neben die Thematisierung des Zusammenhangs von Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung ist in den letzten Jahren zudem die Thematisierung von sozialen und sozialräumlichen Folgewirkungen der Tertiärisierung der städtischen Ökonomien selbst getreten. Hervorgehoben wird unter anderem der polare Charakter der Dienstleistungsökonomie: Einfache, gering entlohnte Dienstleistungsarbeitsplätze im Gesundheitssektor, der Gastronomie etc. stehen dort hoch entlohnten Dienstleistungsarbeitsplätzen etwa im Finanzsektor gegenüber. Diese Spaltung in einen ausgeprägten Hochlohn- und einen Niedriglohnsektor findet über Prozesse der sozialen Segregation seine Entsprechung in der sozialräumlichen Spaltung der Städte und Spaltung zwischen Stadtregionen.
Armut und Arbeit in den Städten
Zu Beginn dieses Jahrtausends hielt der der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann fest, dass zwischen 10 und 20 Prozent der Großstadtbevölkerung von Einkommensarmut betroffen sind. Diese Situation hat sich seither nicht zugunsten einer Reduzierung der Einkommensarmut in den Städten verändert, jedenfalls nicht hinsichtlich der relativen Armut von Teilen der Stadtbevölkerung. Im Gegenteil geht in vielen Städten ein Sinken der Arbeitslosenquote mit einem Anstieg der Armutsgefährdungsquote einher.
Armut
Das Konzept der relativen Armut definiert Armut in Beziehung zum mittleren Einkommen einer Bezugsgruppe, etwa der Bevölkerung einer Stadt, einer Region oder eines Staates. Als arm bzw. armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens dieser Bezugsgruppe erzielt. Das mittlere Einkommen wird dabei am Median der Einkommen bemessen (die eine Hälfte der Bevölkerung erzielt ein höheres, die andere Hälfte ein geringeres Einkommen). Wie hoch der Anteil der von Armut Betroffenen eingeschätzt wird, hängt damit auch davon ab, entlang welcher Bezugsgruppe und ihres mittleren Einkommens die Aussagen zu Armut getroffen werden.
In Tabelle 1 sind die städtischen Armutsgefährdungsquoten der 15 bevölkerungsreichsten deutschen Großstädte für die Jahre 2005 und 2014 im Vergleich am Median der Einkommen auf Bundesebene bemessen. Die Tabelle verdeutlicht für einen Großteil der Städte mehr oder weniger konstante (Berlin, Hamburg, Leipzig) oder steigende (Bremen, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a.M., Köln, Nürnberg, Stuttgart) Bevölkerungsanteile, die, gemessen an ihrem Einkommen, arm sind. Insbesondere in Städten des Ruhrgebiets (Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen) sowie in Stuttgart steigt die Armutsgefährdungsquote sehr deutlich an. Lediglich in drei Städten (Dresden, Hannover, München) ist dagegen in der letzten Dekade eine deutliche Reduzierung der Armutsgefährdungsquote gelungen. Orientiert am Bundesmedian der Einkommen müssen für das Jahr 2014 Armutsanteile in den Städten zwischen 15 und 25 Prozent konstatiert werden, ausgenommen die Stadt München.
Arbeitslosigkeit
Für eine Erklärung der hohen Armutsgefährdungsquoten in den Städten konnte bis in die 2000er Jahre hinein auf die hohe bis sehr hohe Arbeitslosigkeit verwiesen werden, die die sozialen Lebensverhältnisse in den Städten prägte. Demgegenüber kann für die letzte Dekade ein starkes Absinken der städtischen Arbeitslosenzahlen festgehalten werden. Das gilt zumindest für die Arbeitslosenquoten der 15 ausgewählten Großstädte. Tabelle 2 zeigt an, dass in all diesen Städten der Anteil der Arbeitslosen im Jahr 2014 deutlich geringer ausfällt als 10 Jahre zuvor.
Allerdings hat das Sinken der Arbeitslosenquoten offensichtlich wenig Einfluss auf eine allgemeine Reduzierung der Armut in den Städten. Zwar scheint der Rückgang der Armutsanteile in den oben genannten drei Städten Dresden, Hannover und München in sinkenden Arbeitslosenquoten ihre Erklärung zu finden. Doch manifestiert sich keine allgemeine Tendenz, nach der regelmäßig in solchen Städten ein sehr deutliches Sinken des Armenanteils zu beobachten ist, für die ein überdurchschnittlicher Rückgang der Arbeitslosenquote verzeichnet werden kann. Noch geht in allen Städten mit einem schwächeren Absinken der Arbeitslosigkeit dieses auch mit stärker steigenden Armutsquoten einher. Vielmehr muss zum einen konstatiert werden, dass dem Rückgang der Arbeitslosigkeit keine deutliche Wirkung auf die Armutsentwicklung zugesprochen kann. Zum anderen kann festgehalten werden, dass für einen Großteil der Städte trotz eines Rückgangs der Arbeitslosenzahlen weitgehend stabil bleibende oder gar steigende Armutsanteile zu verzeichnen sind.
Niedriges Lohnniveau und prekäre Arbeitsverhältnisse
Die von diesen Befunden ausgehende Irritation lässt sich in mindestens zwei Richtungen auflösen.
Eine erste Erklärung kann auf die unterschiedlich hohen Medianeinkommen in den jeweiligen Städten sowie auf deren Differenz zum Bundesmedian der Einkommen verweisen. Insofern die unterschiedlich hohen städtischen Medianeinkommen auch regional unterschiedliche Lohnniveaus wiederspiegeln, wird ein Rückgang der Arbeitslosenquote bzw. eine erhöhte Beschäftigungsquote in Städten mit einem vergleichsweise niedrigen Lohn- und deshalb Einkommensniveau weitgehend einflusslos auf die Armutsentwicklung bleiben, wenn für deren Bestimmung der vergleichsweise hohe Einkommensmedian auf Bundesebene herangezogen wird.
Eine zweite Erklärungslinie verläuft entlang einer Prekarisierung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse. Mit Tabelle 3 lässt sich entlang der Indikatoren für prekäre Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse, für den Anteil der geringfügig Beschäftigten, darauf hinweisen, dass Erwerbstätigkeit nicht Schutz vor Armut bedeuten muss.Eine Minimierung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse kann aber zur Reduktion von Armut beitragen. Die Tabelle zeigt einen Anstieg geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse zwischen 2005 und 2014 unter anderem für Dortmund, Essen, Köln und Stuttgart und somit gerade für einen Teil jener Städte an, die steigende Armutsgefährdungsquoten (gemessen am Bundesmedian der Einkommen) verzeichnen. Zugleich macht sie sinkende bzw. konstant bleibende Anteile unter anderem für Berlin, Dresden, Hamburg, Hannover und Leipzig und damit für einen Teil jener Städte deutlich, für die ein Rückgang, zumindest aber eine Konstanz der Armutsgefährdungsquote kennzeichnend ist.
Städtische Wohnverhältnisse und Stadtpolitik
Städtische Wohnverhältnisse
„Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit seit Mitte der 1980er Jahre hat auch die Armut zugenommen.“ Das war bis in die 2000er Jahre hinein eine schlüssige Zusammenhangsbehauptung. Für die letzten Jahre dagegen lässt sich ein genereller Rückgang der Arbeitslosigkeit beobachteten, der auch mehr oder weniger stark in den Städten zum Ausdruck kommt. Doch scheint der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut in seiner umgekehrten Wirkungsweise weitgehend außer Kraft gesetzt: Trotz sinkender Arbeitslosenquoten müssen hohe, teilweise steigende Armutsgefährdungsquoten verzeichnet werden. Das wiederum lässt vermuten: Hinsichtlich des Zusammenhangs von ungleichen sozialen Lagen und den Wohnverhältnissen in den Städten ist wenig Veränderung zugunsten einer Entzerrung dieses Zusammenhangs zu erwarten, stattdessen von seiner weiteren Verfestigung auszugehen.
Das geht auch aus einer Untersuchung hervor, die auf Basis der Mikrozensusdaten für das Jahr 2014 die Einkommens- und Wohnverhältnisse in den 77 Städten in Deutschland mit mehr als 100.000 Einwohnern analysiert hat. Die Studie streicht zum einen die Reproduktion sozialer Ungleichheit in den Wohnverhältnissen heraus. Wenig überraschend, ist der Erwerb von Wohneigentum eng mit vergleichsweise hohen Einkommen verbunden. Der Eigentümeranteil der städtischen Haushalte mit einem Einkommen von mehr als 140 Prozent des mittleren Einkommens (gemessen am Median der Einkommen auf Bundesebene) beträgt 41,7 Prozent, der Mieteranteil entsprechend 58,3 Prozent. Der Mieteranteil bei Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens dagegen liegt bei 92,5 Prozent. Ebenso wenig überraschend lässt sich nachweisen, dass Haushalte mit geringen Einkommen in Wohnungen schlechterer Qualität und auf kleinerer Fläche wohnen als solche mit höheren Einkommen.
Zum zweiten verdeutlicht die Untersuchung eine „polarisierte Verteilung der Mietkostenbelastung“. Die Studie ist an einem kritischen Wert von 30 Prozent des Einkommens orientiert, um zwischen einer noch tragbaren und einer das Haushaltseinkommen überbeanspruchenden Mietkostenbelastung unterscheiden zu können. Darauf bezogen lässt sich zunächst einmal eine hohe Mietkostenbelastung für mehr als jeden dritten und eine sehr hohe Mietkostenbelastung für jeden fünften städtischen Haushalt festhalten:
QuellentextAusgaben für Miete
Mit 60 Prozent lebt ein Großteil der Haushalte in leistbaren Wohnungen und gibt weniger als 30 Prozent des Haushaltseinkommens für die Miete aus. [...] […] Entsprechend zahlen etwa 40 Prozent aller Haushalte mehr Miete, als es nach dem Einkommen leistbar wäre. Fast 19 Prozent aller Haushalte zahlen für die Miete sogar mehr als 40 Prozent ihres Einkommens.
Quelle: Lebuhn et al. 2017: 69
Zudem fällt die Verteilung der Mietkostenbelastung selbst sozial selektiv aus: Haushalte mit höheren Einkommen sind geringer von den Mietkosten belastet als solche mit geringerem Einkommen. So liegt der Anteil der Bruttowarmmietkosten für arme bzw. armutsgefährdete Haushalte bei durchschnittlich 39 Prozent und somit erheblich über der durchschnittlichen Mietkostenbelastung für alle Haushalte von 27 Prozent. Vom allgemeinen Durchschnitt abweichend niedrige Mietkostenbelastungen dagegen werden etwa mit durchschnittlich 21 Prozent von Haushalten mit zwei Haushaltseinkommen getragen. Die auf breiter empirischer Basis nachgewiesene soziale Selektivität der Mietkostenbelastung lässt die Untersuchung zu dem Schluss kommen, dass die vorhandenen Einkommensungleichheiten in den Städten „in den Wohnverhältnissen nicht nur reproduziert, sondern sogar noch verstärkt“ werden. Die städtischen Wohnverhältnisse in ihrer gegenwärtigen Form, so die zu ziehende Schlussfolgerung, sind demnach nicht allein als der Ausdruck einer ungleichen Verteilung von Ressourcen, sondern selbst als eine Instanz der Ungleichverteilung einzuschätzen. Die Studie sieht deshalb abschließend in „Instrumenten zur Gewährleistung von einkommensorientierten Mieten“ die Möglichkeit für eine sozial orientierte Wohnungspolitik.
Stadtpolitik
Die gegenwärtige Stadtpolitik und -planung ist durch den Widerspruch geprägt, mit ihren Mitteln die gesellschaftlichen Folgekosten zu minimieren zu versuchen, die die eigene stadtpolitische und -planerische Wettbewerbsorientierung in der Konkurrenz der Städte um „ökonomisches Kapital und initiatives Personal“ evoziert hat. Was seine ordnungspolitische Dimension angeht, ist die Bearbeitung dieses Widerspruchs bislang recht gut gelungen. Für eigentlich jede Großstadt kann gesagt werden: „Bei ständiger Reproduktion der Segregation der Städte in qualitativ verschiedene Quartiere achtet eine soziologisch informierte und polizeilich präsente Gegensteuerung darauf, daß man noch durch alle Quartiere der Stadt unbeschadet durchkommt.“
In sozialpolitischer Hinsicht sind in den letzten Jahren nicht zuletzt auf Druck von Mieterinitiativen hin stadtplanerische Instrumente wie die Soziale Erhaltungssatzung (verankert in § 172 des Baugesetzbuches) wiederentdeckt worden, die eine Umwandlung von Miet- und Eigentumswohnungen sowie Luxusmodernisierungen von Wohnungen in ausgewiesenen Wohngebieten verhindern soll. Darüber hinaus ist mit der 2015 eingeführten „Mietpreisbremse“ vorgesehen worden zu ermöglichen, Mietpreissteigerungen bei Neuvermietungen bestehender Wohnungen auf maximal 10 Prozent der über den Mietspiegel bestimmten ortsüblichen Vergleichsmiete deckeln zu können. Beide Instrumente stehen beispielhaft für den Versuch, einen Anstieg der Mietkosten zu dämpfen und davon ausgelöste Verdrängungs- und Segregationsprozesse zu verlangsamen. Sie sind in ihrer (ihrerseits stark umstrittenen) Funktionsweise allerdings nicht dazu gedacht und geeignet, bestehende Mietkostenbelastungen zu reduzieren und somit zu ermöglichen, die Armut in den Städten zu minimieren. Stadtpolitische Maßnahmen und Instrumente, die das Wohnen (wieder) von der Einkommenssituation entkoppeln und eine Schwächung des Zusammenhangs von Wohnverhältnissen und sozialer Lage erlauben, können dazu einen wichtigen Beitrag leisten.