Es kommt nicht häufig vor, dass ein lokales Ereignis bundesweit Schlagzeilen schreibt. Als aber am 13. August 2010 zwanzigtausend Bürger/innen gegen den beginnenden Abriss des Kopfbahnhofs in Stuttgart demonstrierten, war ein solcher Moment. Zuvor waren lokale Konflikte vor allem in der jeweiligen Stadt verhandelt worden: Bereits 2008 führten die Proteste der Initiative „Mediaspree versenken“ in Berlin zu einem Bürgerentscheid, in Hamburg bildete sich 2009 das Bündnis „Recht auf Stadt“ aus verschiedenen Protestinitiativen, und in Stuttgart selbst war das Projekt „S21“ von Beginn an kritisch begleitet worden.
Inzwischen haben weitere lokale Proteste bundesweite Wahrnehmung erzielt: Ende 2010 der Widerstand gegen die Münchener Olympiabewerbung, aber auch Initiativen gegen Stromtrassen und Windparks sowie für die Rekommunalisierung städtischer Netze. Spätestens mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ traten vielerorts auch Konflikte über die Unterbringung von Geflüchteten auf.
Lokaler politischer Protest
Protest lebt von medienwirksamen Ereignissen, weil durch ihn gesellschaftliche Konflikte, Zumutungen und Alternativen in der Öffentlichkeit inszeniert werden. Dies verdeckt zuweilen dessen Kontinuität jenseits des Einzelfalls. Protest ist schon lange Bestandteil der lokalen politischen Kultur. Sei es im Wiederaufbau, der Bürgerinitiativbewegung, der friedlichen Revolution: Aktive Bürger/innen haben wesentlich Anteil an der Kommunalpolitik, so etwa durch Vorschläge, Diskussionsbeiträge, unternehmerisches und ehrenamtliches Handeln – oder eben durch Protest.
In der Forschung wurde Protest bis in die 1970er Jahre ganz überwiegend als apolitisches, emotional begründetes Verhalten verstanden, sozialpsychologisch erklärt und damit Massenphänomenen wie Hysterie oder Panik gleichgestellt. Bis heute sind emotionale und irrationale Aspekte in der politischen und medialen Auseinandersetzung mit Protestereignissen präsent: Der Begriff des „Wutbürgers“ bringt dies auf den Punkt. In der sozialwissenschaftlichen Theorie hat sich hingegen eine Erklärung von Protest als eine Form rationalen Handelns etabliert.
Mitte der 1970er Jahre rückte erstmals der strategische Aspekt gesellschaftlichen Protests in den Vordergrund – ein Paradigmenwechsel. So unterscheidet sich die wissenschaftliche Vorstellung von Protest inzwischen deutlich von der umgangssprachlichen Wortbedeutung – bzw. von konkurrierenden Bedeutungen, da auch die Frage, was unter Protest zu verstehen ist, umstritten ist und ein Politikum darstellt: Ist Protest politisches Handeln und demokratisches Korrektiv oder störendes „Querulantentum“ und eine Bedrohung des ohnehin durch Beteiligungsverfahren erweiterten repräsentativ-demokratischen Entscheidungsprozesses?
Die damaligen Befunde legen beides nahe: Protestierende werden häufig zu einem Teil der herrschenden Elite und stellen also tatsächlich eine manifeste Bedrohung dar, wenngleich ganz anders als meist beschrieben. Auf lokaler Ebene, wo aus Protestnetzwerken (ggf. erfolgreiche) Wählergemeinschaften erwachsen, zeigt sich so ein strategischer, zielgerichteter und politischer Charakter von Protest. Wenn Protestierende aber strategische Ziele verfolgen, so verhalten sie sich nicht affektiv und irrational. Vielmehr handeln und entscheiden sie vernünftig auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Überlegungen in einem weiteren Sinne: Besteht eine Chance, die eigenen Interessen oder Ziele durch Protest durchzusetzen? Welche Ressourcen müssen eingesetzt werden? Mit welchen Risiken ist das Protesthandeln verbunden? Gibt es alternative, weniger risikoträchtige Mittel?
Betrachtet man Protest rational, so entsteht ein Paradox: Viele Menschen beschweren sich über unterschiedlichste Dinge, aber nur vergleichsweise wenige protestieren. Von besonderem Interesse für die Forschung ist daher einerseits die Organisation von Protest als kollektives Handeln. Rationales Protesthandelns mobilisiert Ressourcen, nutzt Netzwerke und mobilisiert Unterstützer. Zugleich ist Protest nicht in jeder Situation gleichermaßen erfolgversprechend, sondern bedarf einer politischen Gelegenheitsstruktur, die weder zu repressiv ist, noch zu viele alternative Partizipationschancen eröffnet. Diese Vorstellung von Protest unterscheidet sich auch stark von weiterhin verbreiteten Ansätzen, die nicht konkrete Anlässe und Forderungen, sondern gesellschaftliche Krisen und die Deprivation der Protestierenden als Grund für den Protest heranziehen.
In den vergangenen Jahren werden die Mobilisierungschancen durch das Internet hervorgehoben. Bürger/innen sind fachlich und organisatorisch zunehmend kompetenter und überdies häufig besonders sachkundig hinsichtlich örtlicher Begebenheiten, Anforderungen und Möglichkeiten. Eine Besonderheit lokaler Proteste ist zudem, dass hier häufig für den konkreten Anlass eine Ad-hoc-Organisation entsteht: die Bürgerinitiative. Wer aber solche partizipativen Anstrengungen unternimmt, der möchte nicht nur „aufbegehren“ oder es „denen da oben zeigen“, sondern etwas ändern. Dies wird als „doppelte Signatur“ des Protests bezeichnet:
QuellentextÜber Protest
Wer protestiert, stellt sich gegen etwas. Protest […] ist ein Ausdruck des Widerspruchs […]. Wer protestiert, ist aber zugleich für etwas. […] Protest bringt zumindest indirekt Maßstäbe von Gerechtigkeit, Fairness, Zumutbarkeit oder Würde zur Geltung. Er ist somit nie blanke Abwehr, sondern verweist zumindest implizit auf die Möglichkeit und Wünschbarkeit anderer und besserer Zustände.
Quelle: Rucht 2001
Protest als politische Partizipation
Die Vorstellung von Protest als politischer Strategie zur Durchsetzung von Forderungen und Zielen führt im Weiteren dazu, dass Protest heute als Form politischer Partizipation angesehen und von den Bürger/inne/n ganz selbstverständlich genutzt wird.
Dies wiederum wird erst durch die „partizipatorische Revolution“ möglich: Insbesondere im kommunalen Rahmen reichen allein die Beteiligungsangebote von Bürgerforen, Planungsworkshops, Agendaprozessen und plebiszitären Elementen bis hin zur wirtschaftlichen Beteiligung an kommunalen Unternehmen. Diese Veränderungen passen nur noch bedingt in das so genannte „realistische“ Modell der repräsentativen Massendemokratie, das politische Beteiligung auf den Wahlakt reduziert. Die vorgenannten Beispiele zeigen, dass die demokratische Realität heute weit vielfältiger ist. Mehr noch: Viele Behörden und Mandatsträger erhoffen sich von ihr transparentere, effizientere, passgenauere und besser akzeptierte Ergebnisse. Konstruktive Beteiligung auch jenseits von Wahlen ist erwünscht und wird als legitimer Ausdruck politischer Mündigkeit angesehen.
Stadtpolitische Bewegungen?
In den 1970er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Forschung auf soziale Bewegungen. Sie werden – je nach Definition – als langfristiger, in Zahl und Handlungen umfangreicher, von ihren inhaltlichen Zielsetzungen weitreichender, impliziter oder wirkmächtiger angesehen. Durch den begrenzten lokalen Umfang sind all diese Merkmale durch stadtpolitischen Protest allerdings kaum erreichbar.
Wenn dennoch der Begriff „städtische soziale Bewegung“ gebraucht wird, ist damit in der Regel ein „Kampf in den Städten“ gemeint, der über die Stadt hinaus gesamtgesellschaftlich wirkt, etwa als Teil des „Klassenkampfes“ oder im Widerstand gegen den globalen Kapitalismus. Auch die „Recht auf Stadt“-Bewegungen, die sowohl in mehreren deutschen Städten als auch weltweit innerhalb des vergangenen Jahrzehnts entstanden sind, tendieren in diese Richtung oder stellen eine (Re-)Lokalisierung globaler Bewegungen dar. Sie greifen allerdings auch lokale Anlässe auf und verbinden nebeneinander existierende Proteste vor Ort miteinander. Sie stellen damit am ehesten (auch) stadtpolitische Bewegungen dar.
Städtische Proteste sind also häufig nicht stadtpolitisch, sondern werden innerhalb von Städten inszeniert und nutzen diese als Bühne für nationale oder globale Kämpfe. Stadtpolitische Proteste im engeren Sinne bearbeiten hingegen genau jene gesamtgesellschaftlich als „marginal“ aufgefassten und lokal begrenzten Kämpfe um die Stadt, um ihre Entwicklung, Gestalt oder auch Führung. Der Begriff der sozialen Bewegung ermöglicht allerdings auch eine Verknüpfung von Protesten mit anderen attraktiven Formen des Engagements „über Bürgerbeteiligung hinaus“, etwa mit Selbsthilfeprojekten, Bürgergenossenschaften, Formen des urban und guerilla gardenings oder mit Aktivitäten von Raumpionieren.
Fluch oder Segen für die lokale Demokratie?
Die Demokratisierungstendenz der vergangenen Jahrzehnte hat viele Bürger/innen soweit emanzipiert, dass es nicht länger „realistisch“ erscheint, politische Partizipation auf ihre „konventionellen“ Formen zu beschränken. Zur Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen, zur Willensbekundung und Konfliktbearbeitung entscheiden sich Bürger/innen heute je nach Kompetenzen, Netzwerken, Interessen und Alternativen sowie nach den Gelegenheiten für eine passende Partizipationsstrategie.
Dennoch stellt sich die Frage, ob Protest als Partizipationsform grundsätzlich positiv bewertet werden muss, ob also mehr Partizipation mit mehr Demokratie gleichgesetzt werden kann. Ein solcher Automatismus dürfte nicht zuletzt von vielen Protestakteuren abgelehnt werden: Nicht jede, die gegen Gentrifizierung und Wohnungsnot demonstriert, mag sich über Proteste gegen eine Flüchtlingsunterkunft freuen. Für den Castorgegner aus dem Wendland ist der Widerstand gegen Windkraftanlagen nicht unbedingt legitim.
Um politischen Protest als Partizipationsstrategie zu bewerten, sind jedoch jenseits der durch den jeweiligen Protest vertretenen Anliegen möglicherweise andere Kriterien entscheidend. Umstritten ist dabei vor allem, ob Protest und weitere selbstständige Partizipationsformen das Funktionieren demokratischer Entscheidungen hemmen oder begünstigen. Ergänzen die Bürger/innen das kommunale Beteiligungsangebot durch Protest, wo und wann immer von ihnen ein Mangel demokratischer Teilhabe erkannt wird? Oder werden unliebsame repräsentativ-demokratische Entscheidungen ausgehebelt? Inwiefern sind auch stadtpolitische Auseinandersetzungen trotz der vermeintlich geringeren Distanz zwischen Regierung und Regierten häufig nicht emanzipatorisch, sondern durch Ressentiments und Populismus geprägt? Wo behindern Schwarz-Weiß-Denken und Misstrauen in Politik und Verwaltung das Demokratisierungspotenzial von Protest?
Das entscheidendere Kriterium aber ist, ob Protest in der Lage ist, demokratische Teilhabe zu verbreitern. Auch nach dem Paradigmenwechsel der Protestforschung galt Protest als Instrument derer, die innerhalb einer „ungleichen Demokratie“ nicht gleichberechtigt am System partizipieren können. Gerade die zuvor beschriebene „Politisierung“ des Protests führt jedoch in ein bislang nicht gelöstes Dilemma: Protest wird durch Organisationsaufwand noch voraussetzungsvoller, also unwahrscheinlicher. Nicht umsonst werden mittlerweile häufig gut gebildete und nicht selten auch in anderer Form politisch aktive Mittelschichten als Träger des „kompetenten“ Protests ausgemacht. Führt dies gar zum Ausschluss marginalisierter Bevölkerungsgruppen vom politischen Protest, die bislang als dessen wesentliche Träger galten?
Auch wenn bislang Protest tendenziell Machtlosigkeit voraussetzt: Im Gegensatz zu staatlichen Beteiligungsangeboten, die „Bürgermacht“ in dosierter Form gewähren, ermächtigt sich die „neue Macht der Bürger“ selbst zum Protest. Wo dies allein im Eigeninteresse geschieht und mit erfolgreichen Bürgerbegehren sowie rechtlichen Instrumenten zur Verhinderung ungeliebter Veränderungen nach dem St.-Florians-Prinzip gepaart wird, kann dies eine gemeinwohlorientierte Stadtpolitik vor große Herausforderungen stellen. Gerade weil stadtpolitischer Protest offenbar inzwischen eine „normale“ Partizipationsstrategie ist, benötigt er Spielregeln, damit die von ihm im Sinne der oben zitierten „doppelten Signatur“ eingeforderten „Maßstäbe von Gerechtigkeit, Fairness, Zumutbarkeit oder Würde“ auch für ihn selbst gelten.