Biodiversität der Städte
Die Berücksichtigung der Biodiversität in der Stadtplanung
Thomas E. HauckDr. Wolfgang W. Weisser
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Welche Bedeutung hat die Biodiversität der Städte für uns Menschen? Thomas Hauck und Wolfgang W. Weisser erläutern, wie sich das Verhältnis von Natur(-schutz) und Stadt verändert.
Um die Bedeutung der Stadtnatur in der heutigen Stadtplanung in Deutschland verstehen zu können, ist es hilfreich, die historische Entwicklung der Mensch-Natur-Beziehung in Städten zu kennen. Die Entdeckung der Natur in der Stadt ist ein relativ junges Phänomen. Eine urbane tierische und pflanzliche Vielfalt anzunehmen, erscheint nach wie vor vielen als neu und überraschend. Auch wissenschaftlich widmet man sich der Stadtnatur in Deutschland erst seit den 1970er Jahren (in der Disziplin der Stadtökologie) und 1980er Jahren (in den Human-Animal Studies). Angesichts der langen Tradition des Natur-, Arten- und Heimatschutzes sind 30-40 Jahre Forschung ein vergleichsweise kurzer Zeitraum.
Warum haben sich Natur-, Heimatschützer und Naturliebhaber lange Zeit so wenig für die tierischen und pflanzlichen Stadtbewohner interessiert? Ein bemerkenswerter Umstand angesichts der großen Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten, die in Städten vorkommt.
Stadt und Natur werden als Gegensätze verstanden
Ein Grund für den „blinden Fleck“ Stadtnatur ist sicherlich die neuzeitliche Unterscheidung zwischen einer Sphäre des Menschen und einer der Natur, oder – aus räumlicher Perspektive – zwischen Stadt und Landschaft bzw. Wildnis. Diese Sphären wurden sowohl als eigene Territorien als auch als unterschiedliche funktionale Systeme mit jeweils eigenen Regeln verstanden, die sich nur getrennt als funktionsfähig erweisen können. Natur wurde in diesem Zusammenhang als materielle und damit sinnlich erfahrbare Natur gedacht, die sich von der menschgemachten Welt der Artefakte dadurch unterscheidet, dass sie sich selbst verändert und Form gewinnt. Die räumliche Form dieser Natur war (und ist auch heute noch) Landschaft, entweder verstanden als ursprüngliche Naturlandschaft bzw. Wildnis oder als Kulturlandschaft.
Als Landschaft wurde Natur nicht als zufällige Anordnung verschiedener Naturgegenstände verstanden, sondern als das Resultat der Selbsterschaffungskraft der Natur aufgefasst. In Analogie zu einem Organismus wurde sie als ein autopoietisches, also selbsterschaffendes und selbsterhaltendes System begriffen, von dem sich der Mensch durch die ihm eigene Lebensform „Stadt“ emanzipieren konnte. Dieses Denken führte im planerischen wie administrativen Handeln zur Entfernung der „Natur“ – von wilden Pflanzen und Tieren, aber auch von Nutztieren – aus dem Bereich des Städtischen. Auf der anderen Seite entstand die Idee von exklusiven Territorien „für die Natur“ – von Schutzgebieten wie Nationalparks und Wildnisgebiete, in die der Mensch möglichst wenig oder gar nicht eingreifen sollte.
Funktionale Stadtnatur der Grün- und Freiraumplanung
Angesichts der rasanten Urbanisierung in den Industrienationen Ende des 19. Jahrhunderts forderten die bürgerlichen urbanen Eliten einen Ausgleich dieser Entwicklung durch die Errichtung städtischer Grünräume. Diese Natursehnsucht war durch Literatur und Landschaftsmalerei sowie auf Spaziergängen, Wanderungen und Reisen auf das Erleben von Landschaft (scenery) ausgerichtet. Die städtischen Grünräume sollten dieser ästhetischen Konvention entsprechend angelegt werden. Wegweisend dafür war die Grünplanung in den Städten der USA, so etwa die Errichtung des Central Parks in New York. Anders als in Europa, wo Grünräume meist innerstädtische Relikte feudaler Parkanlagen darstellten, sollten in den USA die innerstädtischen Parks und urbanen Parksysteme nicht Herrschaft repräsentieren, sondern Funktionen für alle Bürger der Stadt erfüllen. In Analogie zu stadttechnischen Versorgungssystemen (wie Wasserleitungs- und Kanalnetze) sollten sie die Stadtbewohner mit „Natur“ versorgen und somit die negativen Effekte der rasant wachsenden Metropolen ausgleichen.
Die Beurteilungskriterien für die Leistungsfähigkeit dieser „Natur“ bestanden, abgesehen von der Flächengröße, nicht in bestimmten Kennzahlen, sondern in ihren landschaftlichen Qualitäten. Die Leistungen sollten daher nicht durch einzelne „technische Maßnahmen“ bereitgestellt werden, wie zum Beispiel durch das Pflanzen möglichst vieler Straßenbäume, sondern durch die Schaffung künstlerisch gestalteter Naturräume nach dem Vorbild des englischen Landschaftsgartens. Dabei stand aber nicht die künstlerische Schöpfung von „Natur“ im Vordergrund, sondern die Erhaltung, gestalterische Optimierung (Improvement), Verknüpfung und Erschließung von bereits vorhandener und ästhetisch wertvoller „Natur“ (vom pittoresken Einzelbaum bis zur schönen Landschaft) zu netzförmigen Parksystemen, die von der baulichen Entwicklung der wachsenden Metropolen ausgespart bleiben sollten.
Ökologische Stadtnatur der Biotopverbundplanung
Fast 100 Jahre später, in den 1970er und 1980er Jahren, wurde dieser funktionalistische Netzwerkansatz um spezifische Konzepte für einen urbanen Artenschutz ergänzt. Anknüpfend an die Idee der vorindustriellen kleinteiligen Heckenlandschaft – als ökologisch wertvolles Element in ansonsten ausgeräumten „Agrarsteppen“ –, entstand in Europa und hier vor allem in Deutschland das Konzept des Biotopverbundsystems. Nach diesem Konzept werden nicht Parks, sondern Biotope zu einem netzförmigen System verbunden.
Biotope sind geografisch definierte Räume, die von einer Gemeinschaft von Organismen bewohnt werden. Ökologisch ist die Abgrenzung von Biotopen oft nicht einfach, da unterschiedliche Organismen unterschiedlich große Räume beanspruchen. Um die Vielfalt an geografisch bestimmbaren Lebensgemeinschaften jedoch planerisch handhaben zu können, werden Typologien entwickelt. Jeder Biotoptyp wird durch ein für ihn typisches Arteninventar und seine typische Form bestimmt, meist basierend auf den „typischen“ Pflanzenarten. Im Biotopkonzept ist somit dieselbe traditionelle Grundstruktur des malerischen Kompositionsprinzips erkennbar wie bei Landschaft oder scenery. Biotoptypen bzw. Biotope sind also „rationalisierte“ Landschaftsbilder, die nun nicht mehr ästhetische, sondern „ökologische“ Qualitäten haben.
Im aktuellen planerischen Konzept von Grüner Infrastruktur (green infrastructure), die auch auf der Ebene der EU gefördert wird, werden die Konzepte Parksystem und Biotopverbund miteinander verknüpft. Grünflächen erfüllen nun Funktionen auf mehreren Ebenen: Sie sind funktional für den Menschen durch die Bereitstellung von Leistungen (frische Luft, Klimaregulierung, Regenwasserfilterung, ästhetische Wirkung etc.), sogenannten ecosystem services, aber auch funktional für Populationen verschiedener Tier- und Pflanzenarten als Habitate. Unter quantifizierbaren Leistungen verborgen, wird in der grundlegenden Bewertungsstruktur von Grüner Infrastruktur allerdings weiterhin der Zusammenhang zwischen Funktionalität und der Schönheit von Flächen hergestellt. Es wird davon ausgegangen, dass sich mit der entsprechenden Leistungsfähigkeit von Grünflächen und der dafür notwendigen Ausstattung an Pflanzen, Biomasse und Tierarten auch wie von selbst eine hohe ästhetische Qualität einstellt. Das zeigt sich schon daran, dass im Konzept der ecosystem services, das inzwischen für viele übergeordnete städtische Grünplanungen als Bewertungsraster herangezogen wird, Schönheit als Leistung und damit als Eigenschaft von Ökosystemen verstanden wird – leistungsfähige Natur ist somit auch schöne Natur.
Aber genauso gilt umgekehrt, dass nur schöne Natur intakt und leistungsfähig ist. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Wert von Biotopen nach ihrer Intaktheit bestimmt wird, also danach beurteilt wird, ob alles „Typische“ an einem bestimmten Biotoptyp in ausreichender Weise vorhanden ist. Diese Intaktheit, die im Grundsatz dem malerischen Prinzip des harmonischen Bildganzen folgt, steht für die Ungestörtheit des Funktionsgefüges der Natur vor Ort. Obwohl argumentativ der Fokus auf die Funktionen der Natur für den Menschen oder für bestimmte Arten gerichtet wird, geht es entsprechend dem dahinterstehenden ästhetischen Programm darum, der Selbstgestaltungskraft der Natur möglichst viel Raum zuzugestehen und das Naturgemachte von Artefakten freizuhalten oder als harmonisches Zusammenspiel zu gestalten. Das hat zur Folge, dass durch den Natur- und Artenschutz auch im urbanen Kontext in erster Linie Raumtypen behandelt werden, die augenfällig der Idee von Landschaft bzw. scenery entsprechen und dass bevorzugt das bewahrt wird, was von selber kommt, also der Idee von sich selbst gestaltender Natur entspricht.
Spontane Stadtnatur der Berliner Stadtökologie
Im Naturverständnis des „urbanophilen“ Arten- und Naturschutzes der Berliner Stadtökologie, der seit den 1970er Jahren maßgeblich von den Biologen Herbert Sukopp und Ingo Kowarik geprägt wurde und der die stadtfeindliche Tradition des Naturschutzes überwinden wollte, findet man „richtige“ Natur nicht mehr nur außerhalb der Stadt. Die Stadtnatur tritt vielmehr als neue Kategorie zum Kanon der schönen und produktiven Natur hinzu. Stadt wird also nicht mehr per se als naturferner Ort betrachtet, sondern in all ihren Teilen (bis hin zur Wohnung) als „Habitat“ zahlreicher nicht-menschlicher Organismen.
In der Arten- und Naturschutzpraxis mit ihrem Schwerpunkt auf den Schutz von ökologisch wertvollen „Flächen“ konnte sich dieser Blick auf die „ganze Stadt als Natur“ nicht durchsetzen. Zwar rückte die Stadt, angeregt durch die Stadtökologie, auch hier weiter in den Fokus. Sie wurde aber eher als komplexes Mosaik aus Natur und Nicht-Natur betrachtet. Das bedeutet aber, dass weiterhin die Menschenwelt der Stadt von der Tier- und Pflanzenwelt der „Natur“ durch eine Grenze getrennt ist, nur dass diese Grenze jetzt – verstreut und vervielfältigt – innerhalb der Stadt gezogen wird.
Die Stadtnatur definiert sich hier aber nicht nur über eine komplexere Grenzziehung zur Nicht-Natur, sondern auch über eine neue, sinnlich erfahrbare Form. In seinem einflussreichen „Vier-Naturen-Modell“ entwickelt Kowarik eine Genealogie der Entstehung von Stadtnatur aus der ursprünglich entstandenen Landschaft und differenziert eine Abfolge von vier Transformationsstadien:
Ursprüngliche Naturlandschaft (bzw. deren Relikte),
landwirtschaftliche Kulturlandschaft,
die gärtnerisch gestaltete Natur und
die urban industrielle Natur.
Mit diesem Modell wird den klassischen symbolischen Kategorien von schöner Natur – also Naturlandschaft, Kulturlandschaft und Garten – die genuin „urbane“ Kategorie der wilden Brachen-Stadtnatur hinzugefügt.
Die Transformation von der Naturlandschaft zur Brachen-Stadtnatur aber wird trotz aller Faszination für dieses Phänomen auch von den Stadtökologen als „Störung“ der Natur durch den Menschen aufgefasst. Zum Beispiel wird die „Naturferne“ von Pflanzengesellschaften mit verschiedenen Graden der Hemerobie klassifiziert. Die Vegetation der Brachen-Stadtnatur wird dabei im Vergleich zur sogenannten potentiellen natürlichen Vegetation als polyhemerob – als vielfach gestört – eingestuft. Richtschnur bleibt auch hier weiterhin eine sich möglichst selbst gestaltende Natur, die sich ohne Eingriffe und Behinderung durch den Menschen entfalten kann.
Naturschutz als Denkmalschutz
Arten- und Naturschutzbestrebungen sind strukturell auf diese selbst entstandene Natur hin ausgerichtet. Sie betreiben analog zum Denkmalschutz, der wertvolle Artefakte konserviert, einen Naturdenkmalschutz, der Naturrelikte vor zu starker Überformung durch den Menschen bewahren will. Die konservierende Disposition des Arten- und Naturschutzes bewirkt allerdings ein defensives Verhältnis zu Prozessen der Stadtentwicklung und gegenüber menschengemachten Veränderungen im Allgemeinen. Auch wenn es im Einzelfall Eingriffe in die Natur gibt, die vom Naturschutz begrüßt werden, handelt es sich potentiell doch immer um eine mögliche Störung der Natur. Das spiegelt sich auch in den staatlichen Planungssystemen wider, in denen Planung von „Stadt“ und Planung von „Natur und Landschaft“ als gegenläufige Prozesse organisiert sind. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die Planungsziele und Umsetzungen des einen Prozesses die Ziele und Maßnahmen des anderen stören oder behindern. Daraus ergibt sich – wiederum ähnlich dem Denkmalschutz – ein Komplex aus defensiven Planungswerkzeugen, mit denen verteidigt wird, was bereits vorhanden ist.
Die defensive Ausrichtung des Natur- und Artenschutzes und die damit verbundenen gegenläufigen Verfahren führen häufig zu Konflikten. Bei der Planung von Gebäuden und Freiflächen etwa spielen Naturschutzaspekte in der Entwurfsplanung kaum eine Rolle, sondern finden erst zu einem späteren Zeitpunkt, im Rahmen behördlicher Genehmigungsverfahren, Berücksichtigung (zum Beispiel durch Auflagen der Naturschutzbehörden). Dies hat den Effekt, dass dem Bauträger dadurch oft höhere Kosten entstehen, der Bauprozess verlängert wird und oft von den Architekten und Landschaftsarchitekten ästhetisch unbefriedigende Änderungen im Entwurf vorgenommen werden müssen. Das Vorkommen von geschützten Tier- und Pflanzenarten wird aus der Perspektive von Stadtplanung und Projektentwicklung daher meistens als ökonomische Belastung und lästiges Hindernis und nicht als besonderes „Standortpotenzial“, das den Entwurf bereichern könnte, wahrgenommen.
Innenentwicklung vor Außenentwicklung
Geprägt von diesen Verständnissen von Stadtnatur (funktional, ökologisch und spontan) verfolgt der urbane Natur- und Artenschutz in Deutschland seine Ziele in erster Linie über den Schutz von bestehenden Biotopen und deren Vernetzung. Urbaner Raum wird in diesen Planungskonzepten (z. B. Biotopverbundkonzepte) als Gefüge verstanden, in dem Grünräume als Lebensräume verschiedener Arten, die als Patches bezeichnet werden, in die Matrix der Stadt, die als bebaute Struktur verstanden wird, mosaikartig eingebettet sind. Diese Patches sind in erster Linie Parks, Gewässer und deren Uferbereiche, ehemalige Bahnlinien, Industriebrachen und Stadtwälder, die durch planerische Maßnahmen zu einem Netzwerk verknüpft werden sollen. Dieses Netzwerk der Patches erfüllt dann verschiedene Funktionen, sowohl für Menschen wie auch für unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten – so zumindest die These des urbanen Naturschutzes.
Das zeitgenössische städtebauliche Leitbild der kompakten Stadt der kurzen Wege greift die Idee der räumlichen Trennung von „Natur“ und „Stadt“ ebenfalls auf, indem es unter der Zielvorgabe „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ den Kontrast eines nach innen verdichteten Stadtraumes zu einer freien, möglichst wenig zersiedelten Landschaft wiederbelebt. Gesetzlich verankert wurde dieses Leitbild im „Gesetz zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts“ vom Juni 2013. Zielvorgabe ist es, die Matrix der Stadt weiter zu verdichten, um das Flächenwachstum nach außen zu bremsen. Das wird auch aus Sicht des Natur- und Artenschutzes als unproblematisch gesehen, da die Matrix der Stadt als „naturferner“ Raum sowieso nur von geringem Wert für die Erreichung von Schutzzielen ist. Im Leitbild der Nachverdichtung treffen sich somit die Zielvorstellungen von Stadtplanern und Naturschützern – wichtig ist es, die Landschaft „draußen“ von Bebauung freizuhalten, das urbane grüne Netz der Patches zu sichern und zu qualifizieren (dies erfolgt unter dem Schlagwort der doppelten Innenentwicklung) und dafür die Matrix der Stadt, die bereits gebaute Struktur, dichter zu bebauen.
Der Wert gebauter Stadtnatur
Die stadtökologische Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass die „naturferne“ Matrix, also die bebaute Struktur der Stadt, über verschiedene Bebauungstypen hinweg zahlreiche Habitate für Pflanzen und Tiere bietet. Innenhöfe der Gründerzeit, die sogenannten „Abstandsflächen“ in Wohnsiedlungen der 1950 und 1960er Jahre, Baulücken und Gärten sind wichtige Voraussetzungen für eine urbane Biodiversität. Städte zeigen heute einen höheren Artenreichtum als viele Flächen außerhalb der Stadt, gerade im Vergleich zur modernen Agrarlandschaft, weil in der Stadt viele unterschiedliche „Nischen“ verfügbar sind, die unterschiedliche Arten nutzen können.
Die bauliche Nachverdichtung und effizientere Nutzung der von den Arten heute genutzten Flächen, oft in Kombination mit der energetischen Optimierung von Gebäuden aus Klimaschutzgründen, und die intensivere Nutzung von Freiflächen in der Stadt aber führen zu einer Beseitigung vieler Nischen für Pflanzen und Tiere im urbanen Raum. Die gestalterische Verbesserung öffentlicher Räume und Freiflächen aus der Perspektive des Stadtmarketings und die gestiegenen Sicherheitsansprüche an diese Räume (etwa Gefahr durch Astbruch bei alten Bäumen) tun ihr Übriges. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die urbane Biodiversität abnimmt – das zeigt sich beispielsweise am Rückgang des synanthropen Vogelbestandes in Deutschland (also der Arten, die an den Siedlungsbereich angepasst sind) oder am Rückgang der Bestände des Haussperlings in Großbritannien.
Wildlebende Tier-und Pflanzenarten sind in Deutschland zwar gesetzlich geschützt (siehe Kapitel 5 Bundesnaturschutzgesetz), insbesondere der Umgang mit „streng“ und „besonders geschützten Arten“ ist restriktiv geregelt. Der gesetzliche Schutz vermag es aber kaum, die „Verdrängung“ von wildlebenden Tieren, aber auch von Pflanzen, durch die bauliche Nachverdichtung und die energetische Gebäudesanierung – vor allem aus den innerstädtischen Bereichen – zu verhindern. Dafür gibt es mehrere Ursachen:
Es ist zwar verboten, „wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören“ oder „Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören“ (siehe BNatSchG §44). Der schleichende Verlust von Habitatfunktionen (wie etwa die Möglichkeit für Tiere Nahrung zu finden) durch Bebauung kann damit aber nicht verhindert werden.
Die Art und Weise, wie Artenschutz im Rahmen der Bauleitplanung eingebunden ist, hat zur Folge, dass kommunale Verwaltungen, die sich um den Schutz von Tier- und Pflanzenarten im Siedlungsraum kümmern – statt vorausplanend zu agieren –, in den meisten Fällen auf bauliche Veränderungen nur reagieren können. Das reaktive Handeln der Verwaltungen ist, zumindest in großen Kommunen, mit hohem Zeitdruck verbunden und führt in Kombination mit den oft mangelnden personellen Ressourcen zu einem Vollzugsdefizit bei artenschutzrechtlichen Belangen.
Dass bauliche Veränderungen in der Stadt in irgendeiner Form geschützte Tier- oder Pflanzenarten betreffen könnten, ist den meisten Bauherrinnen und -herren kaum bewusst. Es gibt zwar inzwischen eine beträchtliche Bandbreite an Beratungsmöglichkeiten durch Naturschutzverbände und technische Lösungen für den urbanen Artenschutz (wie Ersatzquartiere für Fassadenbrüter, die bei energetischer Sanierung problemlos in die neue Außenwanddämmung integriert werden können), diese werden aber meistens nur in Anspruch genommen, wenn es unbedingt notwendig ist. Sie sind keineswegs integrierter Teil von Planungs- und Entwurfsverfahren in Architektur und Freiraumplanung.
Die Erhaltung und Förderung urbaner Biodiversität ist angesichts der „Verdrängung“ von Arten durch bauliche Nachverdichtung wohl nur möglich, wenn sich Natur- und Artenschutzbemühungen über den Schutz, die Pflege und die Vernetzung der Patches hinaus stärker der urbanen Matrix zuwenden und das „Bauen“ von Stadt mit der Schaffung und Entwicklung von „Natur“ verbunden wird. Als Voraussetzung dafür müsste zunächst, sowohl in der Stadtplanung wie auch beim Natur- und Artenschutz, das Dogma der Stadt-Natur-Dichotomie aufgebrochen werden. Erst dann könnte auch die bebaute Struktur der Stadt aus Planungsperspektive als gebaute Stadtnatur sichtbar und deren Veränderung und Gestaltung als Planungsaufgabe verstanden werden.
Urbaner Bottom-up Naturschutz
Methodisch ließe sich dafür an die Tradition eines proaktiven urbanen Naturschutzes anknüpfen. Dort wird versucht, durch die Aussaat oder Pflanzung von gebrauchsfähigen, pflegeextensiven und ästhetisch ansprechenden Vegetationstypen, durch die Bereitstellung von Nist- und Brutplätzen oder durch Fütterungen stadtaffine Tier- und Pflanzenarten im eigenen Lebensumfeld anzusiedeln oder in ihrem Bestand zu erhalten. Dieser „Bottom-up“-Naturschutz wird vor allem von (biologischen) Laien unterstützt und von Naturschutzverbänden getragen, kann aber durch seine spontane, dezentrale Form kaum einen systematischen und planbaren Beitrag zur Steuerung und Ansiedlung von stabilen Tier- und Pflanzenpopulationen leisten. Methodisch problematisch ist auch, dass Einzelmaßnahmen (wie etwa durch das Aufhängen von Nistkästen oder Bienenhotels) nur einen Teil der Bedürfnisse der Zielarten erfüllen (etwa das nach einem Brutplatz). Essenzielle andere Bedürfnisse hingegen, wie das Vorkommen der Nahrung oder das Bedürfnis von manchen Jungvögeln nach bodennaher und dichter Deckung, werden nicht beachtet und dem Zufall überlassen. Wenn diese Bedürfnisse nicht zufälligerweise sowieso erfüllt werden, wird die Ansiedlung der gewünschten Art nicht gelingen.
Mit der Entwicklung der Methode Animal-Aided Design (kurz AAD) wird versucht, den proaktiven Bottom-up-Ansatz im urbanen Artenschutz aufzunehmen und zu systematisieren. Statt einen holistischen „Top-down“-Ansatz zu verfolgen, der auf Naturbildern wie Biotopen, Landschaften oder auch Ökosystemen basiert, arbeitet AAD artenspezifisch, ausgehend von den Bedürfnissen verschiedener Arten. Die Methode soll in Kooperation mit den Expertinnen und Experten, die den urbanen Raum herstellen und gestalten (wie Architekten, Landschaftsarchitekten, Stadtplaner, Bauingenieure, Verkehrsplaner etc.) verwendet werden sowie eine „Schnittstelle“ mit Biologinnen und Biologen bereitstellen. Ziel des kooperativen Planungsprozesses ist es, das Vorkommen von Tieren in urbanen Freiräumen explizit zu planen und in deren Gestaltung einfließen zu lassen.
Am Anfang der Planung steht somit die Frage „Welche Tiere sollen in dem Freiraum vorkommen?“ Die Auswahl der Tierarten, die später am Ort leben sollen, muss also durch die Entwicklung eines Artenleitbildes sehr früh erfolgen. Letzteres steht damit, wie andere programmatische Planungsentscheidungen, am Anfang der Entwurfsplanung. Es geht daher nicht nur darum, wie bisher üblich, seltene Arten zu schützen, die zufällig in einem Planungsgebiet vorkommen, sondern auch darum, eine nachvollziehbare Auswahl zu treffen. Durch die Erstellung eines Artenleitbildes können die verschiedenen Akteure vor Ort in den Auswahlprozess mit einbezogen werden und Partizipation erfolgt nicht erst nach der Ansiedlung von Zielarten. Außerdem soll AAD es ermöglichen, dass die Integration der Bedürfnisse von Tieren in die Planung urbaner Freiräume nicht im Anbringen von monofunktionalen Tierbehausungen (wie Nistkästen oder Igelhäuser) und Futterplätzen resultiert. Vielmehr soll die „Verwendung“ von Tieren durch AAD Teil eines Gesamtentwurfs werden. Die landschaftsarchitektonische oder städtebauliche Entwurfsplanung bietet geeignete Maßstabsebenen, um einen Maßnahmenkatalog zu entwickeln, der die Bedürfnisse der jeweiligen Zielarten abdeckt. Wie es verschiedene Entwürfe mit AAD zeigen, lohnt es sich, die speziellen Bedürfnisse der Tiere, also ihre Habitatansprüche (Nistplatz, Nahrung, Paarungsort), als Ausgangspunkt für gestalterische Überlegungen zu nehmen – sie können einen Entwurf inspirieren.
Weitere Methoden, den urbanen Bottom-up-Naturschutz zu systematisieren und mit den Planungsprozessen der Stadtplanung, Architektur und Landschaftsarchitektur zu synchronisieren, liegen vor – etwa die Externer Link: Initiative „Building for Biodiversity“ aus den Niederlanden – und werden bereits experimentell getestet. Sie könnten ein Weg sein, die schleichende „Verdrängung“ von Arten aus dem urbanen Raum zu reduzieren sowie die urbane Biodiversität zu erhalten und zu fördern. Ihre Aufgabe wäre es, Verbindungen herzustellen: Erstens zwischen großräumigen und strategischen Biotopverbundplänen, urbanen Landschaftsplänen und den kleinteiligen Schutzmaßnahmen, die sich aus dem gesetzlichen Artenschutz ergeben; zweitens zwischen dem Natur- und Artenschutz, der Landschaftsplanung, den Planungsverfahren der Stadtplanung sowie der (landschafts)architektonischen Objektplanung. Denn ohne ein Umdenken über die Ziele und Verfahren der Stadtentwicklung, die Biodiversität als Teil und Qualität von urbanen Räumen anerkennt, wird Stadtnatur in der verdichteten Stadt weiter abnehmen.
Dr. Thomas E. Hauck forscht und lehrt an der Universität Kassel im Bereich Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung.
Dr. Wolfgang W. Weisser ist Professor für terrestrische Ökologie an der Technischen Universität München.
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