Anfang September 2015 wurden tausende Menschen am Münchner Hauptbahnhof von unzähligen anderen Menschen mit Schildern, Worten und Taten willkommen geheißen. Ähnliche Szenen trugen sich in anderen Städten zu. Im sogenannten „langen Sommer der Migration“ (Georgi 2016) wurden viele deutsche Städte für eine kurze Zeit zu Orten des „Ankommens“ für geflüchtete Menschen.
Das Kommen, Gehen und Bleiben stellt für Städte keine Neuheit dar. Städte sind eingebunden in lokale, regionale, nationale und globale Prozesse und Dynamiken, und das auf vielfältige, wechselwirkende und auch widersprüchliche Art und Weise. Das Ankommen ist dabei nur einer von vielen Prozessen in einer Stadt. Es gehört seit jeher zu dem, was das Städtische ausmacht.
Aber Städte sind nicht nur die Orte, an denen angekommen wird. Von ihnen wird auch ausgegangen. Dem Prozess des Ankommens gehen stets Dynamiken und Prozesse voraus und ebenso bringen sie Konsequenzen mit sich. Das betrifft sowohl Menschen und Waren als auch Ideen, Bilder und Politiken, die in einer raumzeitlichen Dimension und Relation zu verstehen sind. Das soll heißen, dass Dinge, die sich heute in (deutschen) Städten abspielen in Beziehung zu globalen historischen Ereignissen, gesellschaftlichen Entwicklungen, ökonomischen Bedingungen und politischen Entscheidungen stehen (z. B. Kolonialismus, Handel mit Waffen, Produktionsverlagerungsprozesse, Land Grabbing …).
Diese Verwobenheiten gilt es für ein Ankommen mitzudenken, das mehr als nur ein Willkommen, nämlich auch eine Perspektive zum Bleiben enthalten soll. Aber nicht jede_r kann einfach so in Deutschland ankommen und vor allem bleiben. Während sich ein Ankommen für Binnenwander_innen sowie EU-Bürger_innen weniger problematisch darstellt, wird die Idee von sogenannten „Ankunftsstädten“ in Deutschland gegenwärtig vor allem auf solche Menschen(-gruppen) angewendet, deren Ankommen im Rahmen internationaler Migration als problematisch gesehen wird. Hier geht es also nicht um internationale Studierende an deutschen Hochschulen oder um ausländische Mitarbeiter_innen von internationalen Firmen mit Sitz in Deutschland. Sondern um Menschen, die in Deutschland ankommen und dort auch vorerst bleiben möchten. Aktuell sind das vor allem geflüchtete Menschen, die ihr Recht auf Asyl geltend machen, Zugewanderte, die im Rahmen der EU-Erweiterungen ihr Recht auf Freizügigkeit am Arbeitsmarkt wahrgenommen haben sowie Menschen, die aus verschiedenen Gründen (wie etwa Diskriminierungserfahrungen, ökonomische Krisensituationen oder Perspektivlosigkeit im Heimatland) nach Deutschland migrieren und in den Städten ankommen.
Die „Ankunftsstadt“ im deutschsprachigen Kontext
Die Idee der „Ankunftsstadt“ geht auf den Journalisten Doug Saunders zurück. 2011 veröffentlichte dieser sein Buch „Arrival City: How the largest Migration in History is Reshaping Our World“ auf Deutsch. Es wird auch auf stadtpolitischer Ebene von Entscheidungsträger_innen stark rezipiert. Im Gegensatz zu Ideen und Konzepten der „offen“, „solidarischen“ oder der „Zufluchtsstadt“ (open city, solidarity city, sanctuary city) wird seitdem vor allem der Begriff der arrival city unter anderem von Bürgermeister_innen verwendet, um auf den kosmopolitischen Charakter und die Weltoffenheit einer Stadt (etwa der „Ankunftsstadt Hamburg“) zu verweisen. Doug Saunders wird 2015 nach Frankfurt am Main eingeladen und spricht dort über die „arrival region“ Frankfurt; 2016 wird die Stadt Oldenburg Teil eines EU-geförderten Städtenetzwerkes „arrival cities“, in dem es darum geht, „einen lokalen Aktionsplan für die Integration von Zugewanderten, insbesondere von Flüchtlingen, zu entwickeln“
Mit der Neuauflage des Buches 2013 ist jedoch an prominenter Stelle eine inhaltliche Verschiebung vorgenommen worden. Anstelle der Übersetzung des englischen Titels wird nun ein neuer Untertitel oberhalb des Haupttitels „Arrival City“ auf dem Cover platziert: „Die neue Völkerwanderung“. Unter diesem Stichwort wird die Diskussion um arrival cities nun stärker mit Bezug auf die spätestens seit 2013 drängende Debatte über die Unterbringung von geflüchteten Menschen in Städten geführt. Mit dem Terminus „neue Völkerwanderung“ sollte eigentlich auf den Fakt hingewiesen werden, dass „ein Drittel der Weltbevölkerung unterwegs ist und über Grenzen und Kontinente hinweg vom Land in die Städte zieht“
Die Übersetzung von wandernder Weltbevölkerung in „Völkerwanderung“ ändert jedoch den Diskurs über Migration in Städte. Sie impliziert, dass nicht mehr Menschen (egal ob als Individuen oder in Gruppen) weltweit migrieren, sondern, dass gesamte „Völker“ sich auf den Weg in die Städte machen. Der Diskurs einer „Völkerwanderung“ vermittelt somit sprachlich und im Kontext aktueller Debatten um Flucht und Migration eher den Eindruck eines Bedrohungsszenarios für Städte, obwohl davon im Buch selbst keine Rede ist. Als Beispiel für eine deutsche arrival city bezieht sich Doug Saunders vielmehr auf den Stadtteil Berlin-Kreuzberg, als Stadt in der Stadt, und dort vor allem auf Ankommende, die im Rahmen der Anwerbeaktionen der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren als türkische Gastarbeiter_innen nach Deutschland geholt wurden und deren Familien mit der Zeit nachkamen. Dabei stellt er dem politischen Umgang mit der deutschen Ankunftsstadt schlechte Noten aus:
QuellentextGescheiterte Ankunftsstadt
Die deutsche Politik schien von Anfang an darauf ausgerichtet, eine gescheiterte Ankunftsstadt hervorzubringen, deren Bewohner sich weder am Zielort auf sinnvolle Weise fest einrichten noch realistische Erwartungen auf eine endgültige Rückkehr in ihrer Dörfer hegen konnten.
Quelle: Saunders 2013
Diese Beobachtung von Saunders ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass bis in die 1980er Jahre offiziell, danach weiterhin inoffiziell die politische Devise galt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland“
Vor allem in den 1990er Jahren war diese „Ankommensverhinderung“ auch gleichbedeutend mit einer „Fernhaltung“ von Ankommenden und geflüchteten Menschen aus den Städten, insofern Sammelunterbringungen gezielt an peripheren, isolierten Orten in alten Kasernen, Heimen etc. organisiert wurden. Auch aktuell wird mit Diskussionen um Obergrenzen und um politische Regelungen (Asylverschärfung), mit familiären Nachzugsverboten, der Erklärung zu sicheren Herkunftsländern, Arbeitsverboten, der Nicht-Anerkennung ausländischer Studienabschlüsse etc. versucht, eine vermeintliche „Völkerwanderung“ nach Deutschland zu verhindern. Diese Restriktionen stehen der Idee einer arrival city jedoch konträr gegenüber. Sie basiert nicht nur darauf, dass Menschen in Städten willkommen geheißen werden, sondern auch darauf, dass es für diese dort auch Möglichkeiten zum Ankommen gibt.
Ankunftsstadt als Wohnraumkonzept?
Während auf stadtpolitischer Ebene deutsche Städte sich aktuell trotz dieser restriktiven Migrationspolitiken zunehmend selbst als kosmopolitische Ankunftsstädte präsentieren, findet das konkrete Aufgreifen von Doug Saunders‘ Ideen zur arrival city als bestimmte Orte innerhalb von Städten vor allem auf konzeptioneller Ebene statt. Die Ankunftsstadt wird von verschiedenen Akteuren in Deutschland als ein stadtplanerisches Instrument fokussiert und vor allem in Bezug zur Planung von Wohnraum für Geflüchtete gesetzt. Dies ist auch in Relation zu explodierenden Mieten, Immobilienspekulation, fehlendem günstigen Wohnraum und Mietpreisbremsen, aber auch zur Gegenwehr gegenüber einer Unterbringung von geflüchteten Menschen in den deutschen Städten zu sehen. Wohnraum wird immer mehr zu einem raren (Luxus-)Gut in Städten, was immer weniger Raum für Ankommende und sozial Schwache lässt. Vor diesem Hintergrund und mit Verweis auf Saunders‘ Terminologie beschäftigen sich Stadtplaner_innen, Architekt_innen und andere mit Planungsmöglichkeiten für die „Ankunftsstadt“. Dies verdeutlichen aktuelle Interventionen in die Debatte um Migration und Stadt, welche sich auf die Umsetzung der Idee von arrival cities in deutschen Städten stützen.
So veranstaltete Anfang März 2016 die Hamburger Architektenkammer einen Workshop unter dem Motto „Ankunftsstadt Hamburg – aber wie?“ mit dem Ziel, die Unterbringungsthematik von geflüchteten Menschen und die Rolle von Architektur in der Planung und Gestaltung breit zu diskutieren. In Arbeitsgruppen wurden stadtplanerische Konzepte, architektonische Ideen sowie Kernbotschaften entwickelt. Diese bezogen sich unter anderem auf Aspekte wie die Bedeutung infrastruktureller Anbindung und ökonomischer Möglichkeiten für Integration, aber auch auf Ideale der gemischten Stadtteilentwicklung, um eine „Ghettoisierung“ zu vermeiden
Mit einem stärker generalisierenden Anspruch werden aktuell aber auch Ideen und Bedingungen für die Entwicklung von Ankunftsstädten in Deutschland auf internationaler Ebene präsentiert. Der kurze Moment, in dem Deutschland seine Grenzen für geflüchtete Menschen öffnete, wird in der 15. Architektur Biennale 2016 in Venedig durch den Deutschen Pavillon aufgegriffen. Der deutsche Beitrag zur Ausstellung präsentiert sich als offenes Haus ohne Wände. Unter dem Titel „Making Heimat. Germany, Arrival Country“ präsentiert das Deutsche Architekturmuseum (DAM) Deutschland „plötzlich“ als Einwanderungsland und widmet sich inhaltlich Beispielen von deutschen „Ankunftsstädten“ im Sinne von unterschiedlichen architektonischen und planerischen Lösungen zur Unterbringung von Geflüchteten. Darüber hinaus wurden in Zusammenarbeit mit Doug Saunders persönlich acht Thesen formuliert, welche die Grundvoraussetzungen für erfolgreiche arrival cities in Deutschland benennen:
Anleitung zur Ankunftsstadt
Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt: Einwanderer suchen ihre Chancen in städtischer Dichte.
Die Arrival City ist bezahlbar: Günstige Mieten sind eine Voraussetzung für die Attraktivität einer Stadt.
Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit: Arbeitsplätze entstehen dort, wo es bereits Arbeitsplätze gibt. Ein gutes öffentliches Verkehrsnetz ist unverzichtbar.
Die Arrival City ist informell: Die Tolerierung nicht gänzlich rechtskonformer Praktiken kann sinnvoll sein.
Die Arrival City ist selbst gebaut: Selbsthilfe beim Bau von Wohnraum wäre nötig und darf nicht durch zu hohe Anforderungen verhindert werden.
Die Arrival City ist im Erdgeschoss: Ob kleinteilige Geschäftsräume im Erdgeschoss verfügbar sind, bestimmt die Qualität des öffentlichen Raums.
Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern: Keine Angst vor ethnisch homogenen Vierteln: Sie ermöglichen Netzwerke.
Die Arrival City braucht die besten Schulen: Die besten Schulen sollten in den schlechtesten Vierteln sein, um die Kinder zu qualifizieren
Quelle: DAM & Something Fantastic 2016
Mit dieser „Anleitung zur Ankunftsstadt“ ist eine politische Vision verbunden, die sich nicht nur ums Ankommen dreht, sondern auch das Bleiben mitdenkt. Dabei stellen diese stadtplanerisch und architektonisch gedachten Thesen gleichzeitig eine Utopie dar, welche realpolitische Grundvoraussetzungen der Ankunftsstadt außen vorlassen. Deutschland hat sich eben nicht „über Nacht“ zu dem Einwanderungsland bekannt, das es schon längst ist. Politische Machtverhältnisse, die Verschärfung des Asylrechts, die Dynamik des Wohnungsmarkts, bürokratische Regularien, Kontrolle und Überwachung von Ankommenden, Abschiebungen, Arbeitsverbote etc. verunmöglichen viele der oben genannten Punkte bzw. überhaupt die Tatsache, dass Menschen die Möglichkeit haben, in einer deutschen Stadt anzukommen. Nichtsdestotrotz interveniert das DAM mit diesem Beitrag auf der Biennale an prominenter Stelle in Debatten um Migrationspolitik in Deutschland und bringt durch den Bezug zur arrival city Bewegung in das vermeintlich problematische Verhältnis zwischen Stadt und Migration.