Schrumpfende Städte: Begriff und Realität
Mit der Urbanisierung des 19. Jahrhunderts entstand nicht nur die moderne Großstadt als neuer Siedlungstyp, sondern kam auch die vermeintliche Selbstverständlichkeit auf, dass diese immer weiter wachsen würde – ob in der Bevölkerungszahl, der Fläche oder in ihrer ökonomischen Bedeutung. Doch spätestens seit den 1960er Jahren änderte sich die Realität vieler Großstädte in der Bundesrepublik und in der DDR: Ihre Bevölkerungszahl nahm ab. Seit den 1970er Jahren und erneut ab den 2000er Jahren bürgerte sich in der Stadtforschung und Planungspraxis in Deutschland für die mit dem Bevölkerungsrückgang verbundenen Prozesse der Begriff der „Schrumpfung“ ein.
International ist in diesem Zusammenhang eher von „Entvölkerung“ (depopulation) oder „Niedergang“ (decline) die Rede. Keiner dieser Begriffe ist gänzlich überzeugend: Zwar „schrumpft“ die Bevölkerung, selten aber die bebaute Fläche – oft wachsen Städte sogar weiter in ihr Umland. Zugleich entvölkern sich die Siedlungen nicht, sondern die zentrale Herausforderung liegt in der Akzeptanz und Gestaltung des „Weniger“. Niedergang schließlich vermittelt etwas Endgültiges. In der Vergangenheit jedoch finden sich zahlreiche Beispiele für „geschrumpfte“ Städte – auch infolge von Kriegen, Epidemien oder politischem Bedeutungsverlust –, die später auf den Wachstumspfad zurückkehrten.
Bevölkerungsentwicklung von Leipzig und Gelsenkirchen, 1950–2015
Wenn also im Folgenden von schrumpfenden Städten die Rede sein wird, dann bildet längerfristiger Bevölkerungsrückgang hierbei den zentralen Indikator. Um dies zu verdeutlichen, stellt Abbildung 1 die Bevölkerungsentwicklung zweier beispielhafter „Schrumpfungsstädte“ im Längsschnitt dar: Leipzig in Ostdeutschland sowie Gelsenkirchen in Westdeutschland. Leipzigs Bevölkerung nahm nahezu ununterbrochen von 1955 bis 1998 ab, Gelsenkirchen erreichte 2012 seinen Einwohnertiefststand seit dem Beginn der städtischen Schrumpfung 1966.
Bevölkerungsrückgang als solcher ist nie die eigentliche Ursache von Schrumpfungsprozessen, sondern der unmittelbarste Anzeiger städtischen Wandels. Der Bedeutungsverlust der traditionellen, arbeitskräfteintensiven Industrien – ob Bergbau oder Stahlproduktion – ab den 1960er Jahren traf beispielsweise die Ballungszentren des Ruhrgebiets in besonderem Maße. Kleinere Städte waren sowohl vom Strukturwandel der Industrie als auch der Landwirtschaft und ihrem langfristig geringeren Bedarf an Arbeitskräften betroffen. Ebenfalls in den 1960er Jahren begannen großzügige Baulandausweisungen an den Rändern der Großstädte und vieler kleinerer Orte die inter- und intraregionalen Wanderungsmuster zu Ungunsten vieler Großstädte zu verändern. Die Trägergruppen dieser Suburbanisierung waren vor allem Familien der Kernstädte.
Eher beiläufig entstand infolge dieser Prozesse in der Raumforschung der Bundesrepublik in den 1970er Jahren auch der Begriff der „Schrumpfung“. 1977 findet er sich prominent im vielgelesenen „Archiv für Kommunalwissenschaften“ – der damalige Kölner Beigeordnete für Stadtentwicklung und Statistik, Rüdiger Göb, befasste sich in einem Aufsatz mit dem neuen Phänomen der „schrumpfenden Städte“. 1988 etablierten die Stadtforscher Hartmut Häußermann und Walter Siebel den Begriff als Konzept in der Stadtsoziologie.
Mit der Zuwanderung ab Ende der 1980er Jahre aus der DDR bzw. den neuen Bundesländern und aus dem östlichen Europa geriet das Konzept jedoch in Vergessenheit. Das völlig neue Ausmaß des ökonomischen Niedergangs sowie die demographischen Veränderungen durch Abwanderung und den Einbruch der Geburtenraten auf einen historischen Tiefstand in Ostdeutschland wurden zunächst nicht als Schrumpfung bezeichnet, sondern in den Kontext der postsozialistischen Transformation eingeordnet. Der ökonomische Strukturbruch ging dabei weit über die Industrie („Deindustrialisierung“) hinaus. Die Soziologin Christine Hannemann hat auf den tiefgreifenden Wandel in weiteren Sektoren und Branchen (etwa der Landwirtschaft, dem Militär und der Kommunalverwaltung) hingewiesen.
So bauten die neu entstehenden Agrargenossenschaften in einem hohen Maß Personal ab, entfielen zahlreiche Arbeitsplätze im zivilen Bereich des Militärs und wurden Verwaltungen verkleinert oder überflüssig. Erst die „Entdeckung“ des Leerstandes von etwa einer Million Wohnungen in Ostdeutschland um das Jahr 2000 herum brachte das Thema der Schrumpfung zurück auf die Tagesordnung. Es wurde aber weitgehend als ein transformationsbedingtes und damit ostdeutsches Spezialproblem betrachtet. Studien über Städte in Westdeutschland blieben die Ausnahme und verwiesen auf deutliche Akzeptanzprobleme in der städtischen Praxis. Weitgehend abgekoppelt von der großstädtischen Schrumpfungsdebatte entwickelte sich der Diskurs über die Prozesse der Marginalisierung und Peripherisierung kleinerer Städte sowie über deren Probleme bei der Aufrechterhaltung grundlegender Daseinsvorsorgeeinrichtungen.
Mit der Reurbanisierung wiederum – also einem neuen Attraktivitäts- und Bevölkerungsgewinn vieler Großstädte ab Mitte der 2000er Jahre, oft in Verbindung mit einer positiven Arbeitsmarktentwicklung – veränderte sich das Muster der Schrumpfung zwischen den einzelnen Siedlungstypen: Während zwischen 2009 und 2014 nur neun von 77 Großstädten im ökonomischen und demographischen Sinne schrumpften (oder 12 Prozent), waren es bei den kleineren Städten und Gemeinden zwischen 26 und 47 Prozent (Vgl. Abbildung Schrumpfung und Wachstum).
Schrumpfung und Wachstum
Im internationalen Vergleich ist auffällig, dass insbesondere der auf die Transformationsphase in Ostdeutschland bezogene Schrumpfungsdiskurs stets die demographische und weniger die ökonomische Dimension in den Vordergrund stellte. In Großbritannien oder den USA werden hingegen unter dem Stichwort urban decline vorrangig ökonomische Aspekte sowie Fragen der flächenhaften Entleerung und Verwahrlosung (urban blight) diskutiert. Im Vergleich zu Diskussionen über Schrumpfungsprozesse in Osteuropa schließlich kommt der Perspektive der Wohnungswirtschaft bzw. des Wohnungsleerstands in Deutschland eine weitaus prominentere Rolle zu.
Folgen von Schrumpfung
Schrumpfung hat mannigfaltige Konsequenzen für die betroffenen Städte. Manche offenbaren sich im Stadtbild (wie Wohnungsleerstand oder innerstädtische Brachflächen), andere sind weniger sichtbar und werden in der Schrumpfungsdebatte entsprechend seltener thematisiert (wie die Verschuldung der kommunalen Haushalte und deren mancherorts notorische Knappheit). Während einige Folgen, so etwa Arbeitsplatzverluste, als unmittelbare bzw. direkte Folgen gelten können und zugleich als Ursachen demographischer Schrumpfung anzusehen sind, sind andere eher indirekt und durch den Bevölkerungsrückgang zu erklären, so etwa die Unterauslastung von Gebäuden und Flächen.
Schrumpfungsfolgen wirken einerseits sektoral, also bezogen beispielsweise auf die Wohnungswirtschaft, den Arbeitsmarkt oder die Flächennutzung. Andererseits überlagern sie sich und verstärken sich wechselseitig. In den meisten Städten sind bestimmte Gebiete oder Quartiere besonders betroffen, andere weniger. Wichtig sind auch Rückkopplungseffekte: Einmal wirksame Folgen von Schrumpfung wie Verfall, Leerstand oder Jobverluste beeinflussen die weitere Entwicklung der Stadt bzw. die Bewohnerentwicklung sowie den Umgang mit der Schrumpfung. So können Verfall und Leerstand weitere Abwanderungen sowie den Rückbau von Infrastruktur zur Folge haben. Generell gilt: Oftmals sind Ursachen und Folgen nur schwer trennscharf voneinander zu unterscheiden. Seit Jahrzehnten ist nicht umsonst im Schrumpfungsdiskurs von „Abwärtsspirale“ oder einem „Teufelskreis“ die Rede.
Insbesondere in Ostdeutschland – aber nicht nur dort – wurde der sich ausbreitende Wohnungsleerstand zum Symbol der Schrumpfung. Neben dem demographischen Wandel war er unter den Schlagworten Abriss und Stadtumbau das Hauptthema im Umgang mit städtischer Schrumpfung. Dies ließ zunächst andere Probleme, wie zum Beispiel den Verlust lokaler Beschäftigungsmöglichkeiten oder die ausbleibende Nutzung von Brachflächen, außer Acht. Bis heute ist ein Angebotsüberhang von Wohnungen eine Herausforderung in ostdeutschen Städten, mittlerweile vor allem in mittleren und kleineren Städten. Doch sind auch positive Effekte von Abriss, frei werdender Fläche und geringerer Dichte nicht zu vergessen: Sie führten in vielen Fällen zu mehr urbanem Grün, zu Nischen für alternative und Zwischennutzungen sowie zu Raum für Experimente.
Städtische Schrumpfung und kommunales Handeln
Schrumpfung stellt Politik und Governance vor ein zentrales Problem: Sie erfordert ein radikales Umdenken jenseits der dominierenden Wachstumsparadigmen. Mindestens für die nahe Zukunft ist für schrumpfende Städte nicht mit einem Mehr, sondern einem Weniger an Einwohnern, Wohnungsbestand, Infrastruktur und Steuereinnahmen zu rechnen. Baulich, planerisch, finanziell und gestalterisch bedeutet dies, andere Strategien und Maßnahmen für urbane Flächen, Infrastrukturen und gebaute Strukturen zu entwickeln, welche auf weniger Dichte sowie auf temporäre oder Zwischennutzungen zielen. Entwickelt wurden unter anderem neue Stadtteilparks auf ehemaligen Brachen, neue Grünachsen, urbane Waldflächen oder auch weniger marktorientierte Nutzungsmodelle für leerstehende Gebäude wie die sogenannten Wächterhäuser – leerstehende Wohngebäude, welche ein „Wächter“ bewohnt und darüber hinaus von Künstlern oder Vereinen zu sehr günstigen Bedingungen genutzt wird. Solche Nutzungen tragen auch zur Erhöhung von Lebensqualität, Wohlbefinden und Gesundheit der Stadtbewohner bei.
In der Schrumpfungsphase der 1990er Jahre und den Jahren eines bewussteren Umgangs mit Schrumpfung haben allerdings längst nicht alle Städte tatsächlich eine dezidierte Schrumpfungspolitik entwickelt. Eher ließ sich in der Praxis ein Schrumpfungsmanagement beobachten, das weiterhin auf einer generellen Wachstumserwartung für die Zukunft basierte. Bei erneutem Wachstum, oftmals bereits bei einsetzender Stabilisierung der Bewohnerzahlen, erfolgte sofort wieder die Umorientierung auf Wachstum. Für Leipzig und Halle lässt sich beispielsweise zeigen, dass Qualitäten aus der Schrumpfungsphase wie die genannten Zwischennutzungen, die zugleich Räume für soziale und ökonomische Nischen bildeten, vielerorts unter neuen Nutzungs- und Verwertungsdruck geraten sind.
In zahlreichen schrumpfenden Städten haben sich neue Zweckbündnisse und Governancestrukturen –also die Kooperation verschiedener Akteure aus Kommunalpolitik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – zur Bewältigung der neuen Herausforderungen herausgebildet. Getragen werden diese vor allem von der Verwaltung, den lokalen Versorgern, den Wohnungsunternehmen sowie von (neuen) Akteuren aus der Zivilgesellschaft, beispielsweise Vereinen oder Quartiersinitiativen. Insbesondere in der Wohnungswirtschaft und Quartiersentwicklung entstanden eine neue Akteurskulisse sowie neue Governance-Arrangements, welche oftmals ein strategisches Zweckbündnis sehr verschiedener Interessen darstellen und auf die Lösung konkreter Herausforderungen in einzelnen Handlungs- oder Politikfeldern ausgerichtet sind, bezogen etwa auf den Umgang mit Wohnungsleerstand oder dem Brachflächenmanagement. Akteure in schrumpfenden Städten sind in der Regel auf öffentliche und private Zuwendungen, also externe Mittel, angewiesen.
Gleichzeitig entstanden unter Schrumpfungsbedingungen Innovationen und neue Qualitäten, etwa die bereits erwähnten Wächterhäuser, neue Wohnformate bei geringerer Bebauungsdichte (z. B. Stadthäuser) sowie Gestattungsvereinbarungen für temporäre Nutzungen frei gewordener Flächen. Partizipation entwickelte sich im Rahmen der Gestaltung und Steuerung unter Schrumpfungsbedingungen oftmals zu einem bedeutsamen Element kooperativer Stadtentwicklung. Auch in diesem Zusammenhang, also in Hinblick auf ihre Akteursstruktur und ihre Handlungsmöglichkeiten, sind kleinere Städte seltener untersucht worden als Großstädte.
„Schrumpfung“ von Städten: nur ein temporäres Phänomen?
Demographische Prozesse in Folge von und in Überlagerung mit einem ökonomischen Strukturwandel sowie mit politischen Veränderungen haben kurz- und langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung von Städten. Der übliche Fokus auf die „Quantität“ an Bevölkerung ist einerseits gerechtfertigt, waren doch Wanderungen immer schon die entscheidende Größe im Urbanisierungsprozess. Andererseits aber geht es immer auch um die Zusammensetzung der Bevölkerung – Ab- und Zuwanderung sind meist selektiv und werden von spezifischen Alters- und/oder Haushaltstypen getragen (z. B. junge Bildungswanderer oder Familien). Dies hat auch Auswirkungen auf die sogenannte natürliche Bevölkerungsentwicklung, also auf das Verhältnis von Geburten und Sterbefällen.
Das Auf und Ab städtischer Bevölkerungsentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten macht deutlich, dass der bereits im Schrumpfungsdiskurs der 1970er Jahre anzutreffende Gedanke, die demographische Zukunft sei sicher vorhersehbar und in ihren negativen Auswirkungen unvermeidbar, die Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen unterschätzt. Nicht erst die Jahre 2015 und 2016 zeigten eine dynamische Binnenwanderung vor allem, aber nicht nur, in die größeren Städte sowie eine Internationalisierung der Zuwanderung, die sich nicht auf Flüchtlinge beschränkt. Für ostdeutsche Großstädte, etwa für Leipzig, spielt die Rückkehr ehemals abgewanderter Haushalte eine zunehmende Rolle.
Das bedeutet: Die Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung in Deutschland – als Teil eines europäischen Staatenbündnisses mit weitgehend offenen Grenzen und einer vernetzten Welt – ändern sich fortwährend und dynamisch. Externe Faktoren werden bedeutender, und weder intra- und interregionale noch internationale Migrationsprozesse sind tatsächlich vorhersehbar. Dazu zählen in den Großstädten beispielsweise die Zuwanderung von Hochqualifizierten und Schutzsuchenden aus dem Ausland, in kleineren Städten aber auch sozialräumliche Verdrängungsprozesse aus den Agglomerationen mit angespannten Wohnungsmärkten sowie freiwillige und unfreiwillige Wanderungen jüngerer und hochbetagter Senioren in Orte mit guter Versorgungs- und Pflegeinfrastruktur.
Mit dem heutigen Wissen ist davon auszugehen, dass die Vielfalt der Stadtentwicklungspfade auch künftig anhalten und das bereits entstandene Mosaik räumlich benachbarter Wachstums- und Schrumpfungsräume bestehen bleiben wird. Vor allem muss man sich von der Vorstellung einer linearen Stadtentwicklung verabschieden – das zeigen zum Beispiel wieder wachsende Städte in der Gegenwart. Zugleich beinhaltet Stadtentwicklung immer die Möglichkeit erneuter Schrumpfung.