Sowohl die Perspektiven auf ländliche Räume als auch die ländlichen Räume selbst sind sehr vielfältig und die Unterschiede groß. Deshalb kann hier auch nicht von dem ländlichen Raum in der Einzahl gesprochen werden, und auch der Wandel der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in ländlichen Räumen verläuft nicht überall gleich. Eine Schwierigkeit bei der differenzierten Betrachtung ländlicher Räume liegt darin, dass die vorhandenen Daten nur selten kleinräumige Unterscheidungen zulassen und oft nur sehr grob nach ländlich/städtisch unterschieden wird.
Wenn wir von Wandel sprechen, stellt sich immer die Frage, welchen Zeitraum wir in Augenschein nehmen. In diesem Beitrag richtet sich der Blick vor allem auf Entwicklungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in ländlichen Räumen seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Hier lassen sich charakteristische Entwicklungslinien nachzeichnen, die in engem Zusammenhang mit wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Prozessen auf globaler oder nationaler Ebene stehen, wie z. B. der Globalisierung, Digitalisierung oder Tertiarisierung, also der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors. Zwei zentrale Entwicklungen stehen dabei im Mittelpunkt: der Wandel ländlicher Arbeitsmärkte und der demografische Wandel.
Strukturwandel ländlicher Arbeitsmärkte
Alle Regionen Deutschlands haben in den letzten Jahrzehnten einen ökonomischen Strukturwandel erfahren, geprägt durch Industrialisierung und eine zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors. Der primäre Wirtschaftssektor (Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei) hat an Bedeutung verloren. Seit Jahrzehnten reduzieren sich die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe wie auch der dort Beschäftigten. Gab es 1949 im früheren Bundesgebiet noch rund 790.000 Betriebe, ist dort im Jahr 2016 die Anzahl um ca. 70 Prozent auf 230.000 Betriebe gesunken, in Gesamtdeutschland waren es zum selben Zeitpunkt noch 250.000.
Während sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten kontinuierlich verringerte, blieb er in der DDR mit einer "industriemäßigen" Landwirtschaft in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) und Volkseigenen Gütern (VEGs) recht stabil. Erst nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten kam es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu einem Interner Link: massenhaften Verlust an Arbeitsplätzen. Die wirtschaftlichen Ost-West Unterschiede sind auch heute vor allem in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands noch greifbar und drücken sich beispielsweise in einer höheren Arbeitslosigkeit, aber auch in einer geringeren Wirtschaftskraft aus.
Auch in ländlichen Räumen nehmen heute das produzierende Gewerbe und der Dienstleistungssektor den größten Anteil in der Branchenstruktur ein. Mehr als 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind im Dienstleistungsbereich tätig, etwa ein Drittel im Sekundären Sektor und nur 1,2 bis 1,5 Prozent im Primären Sektor. Die Branchenstruktur stellt sich räumlich äußerst heterogen dar, z. B. mit besonders touristisch geprägten Regionen an der Nord- und Ostseeküste, einer Spezialisierung auf das verarbeitende Gewerbe in süddeutschen Kreisregionen oder der Spezialisierung auf bestimmte Nischen mit einem spezifischen Wissens- oder Qualitätsvorsprung in unterschiedlichen Regionen, deren Lage oftmals auch schlicht vom Herkunftswohnort der Gründungspersonen abhängt.
Digitalisierung wird in der politischen und öffentlichen Debatte vielfach als Chance für die Neuorganisation wirtschaftlicher Vorgänge betrachtet, auch in ländlichen Räumen. Die Chancen und Risiken dieser Entwicklung können jedoch aufgrund der unzureichenden Infrastruktur kaum abschließend bewertet werden. So geht es in ländlichen Regionen zurzeit vor allem noch um grundlegende Fragen der Netzabdeckung und Verbreitung von Internetanschlüssen. Ein Blick auf die aktuelle Wirtschaftsstruktur in ländlichen Räumen rückt auch Risiken der Digitalisierung in den Blick: so kann sie einen Abbau von Arbeitsplätzen in den in ländlichen Räumen besonders stark vertretenen Bereichen Produktion und Bau (etwa durch neue Fertighausverfahren) mit sich bringen, während digitale Dienstleister und ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, die von einer zunehmenden Digitalisierung profitieren können, eher in nicht ländlichen Regionen angesiedelt sind.
Demografischer Wandel
Interner Link: In ganz Deutschland führt der demografische Wandel zu einer Abnahme der Bevölkerungszahl und zu einer Änderung der Altersstruktur. So steigt der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung stetig an. Am gravierendsten waren diese Entwicklungen in den ostdeutschen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Deutschen Einheit, da hier die Geburtenrate stark einbrach und eine starke Ost-West-Wanderung (besonders von jungen Menschen, insbesondere jungen Frauen) einsetzte. Im Westen Deutschlands existierte in dieser Zeit eher ein Nebeneinander von Wachstums- und Schrumpfungsräumen.
In jüngerer Zeit sind Schrumpfungsprozesse und ein wachsender Anteil der älteren Bevölkerung besonders stark in den ostdeutschen ländlichen Räumen zu finden (vgl. Abbildung 1), insgesamt ist die Bevölkerungsentwicklung in beiden Landesteilen kleinräumig jedoch sehr divers und Schrumpfungsprozesse finden sich nicht nur in ländlichen Räumen, sondern auch in manchen Städten, wie Recklinghausen, Zwickau oder Dessau-Roßlau.
Je nach Wirtschaftskraft oder wirtschaftlicher Spezialisierung, Strukturschwäche, Erreichbarkeit der größeren Zentren und Ballungsräume, (internationaler) Zuwanderung oder der natürlichen Bevölkerungsentwicklung kommt es zu einem Bevölkerungsrückgang oder -anstieg. In Schrumpfungsregionen kann ein negativer Zirkel im Zusammenspiel mit der Arbeitsmarktsituation entstehen: Ein Mangel an Arbeitskräften behindert die wirtschaftliche Entwicklung. Stehen dann lokal wenige Arbeitsplätze oder vor allem solche im Niedriglohnbereich zur Verfügung, führt dies zum Wegzug gut ausgebildeter junger Menschen, die dann vor Ort nicht mehr als Fachkräfte und Impulsgeber zur Verfügung stehen. Die wirtschaftliche Dynamik wird dadurch weiter gebremst. Ein Mangel an Fachkräften oder Auszubildenden wird insbesondere in Ost-deutschland häufig beobachtet. Umso wichtiger ist es in diesen Regionen, nach Möglichkeiten der Fachkräftesicherung zu suchen und jungen Fachkräften eine Bleibeperspektive aufzuzeigen.
Sinkende Bevölkerungszahlen stehen auch im Zusammenhang mit der lokalen und regionalen Infrastruktur, mithin der Attraktivität der Region als Wohnort. Wenn für die Bewohnerinnen und Bewohner wichtige Grundlagen der Alltagsgestaltung in erreichbarer Nähe fehlen, kann dies zu vermehrten Fortzügen führen, was die lokale Wirtschaft weiter schwächt.
Wandel der Arbeits- und Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen
Der Wandel ländlicher Arbeits- und Lebensverhältnisse ist mit einer Vielzahl an Themen verknüpft. Insbesondere die Bereiche Arbeit, Beruf und Karriere, Kinderbetreuung und Altenpflege, Finanzen und Konsum, Interner Link: Gesundheit, Wohnen, Sport und Ernährung, Freizeit, soziales und Interner Link: politisches Engagement werden davon berührt. Je nach Lebensalter, sozialer Lage und konkreter Lebenssituation sind diese für die ländlichen Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedlich mit Inhalten gefüllt und auch in ihrem Alltag unterschiedlich relevant. Hier sollen Schlaglichter auf drei Themenfelder geworfen werden, die wissenschaftlich recht gut untersucht sind und speziell für ländliche Räume auch häufig diskutiert werden: Arbeitsverhältnisse, ländliche Infrastruktur, Daseinsvorsorge und Mobilität.
Arbeitsverhältnisse
Die enge Verbindung eines Lebens auf dem Land mit der landwirtschaftlichen Produktion hat sich vielerorts schon lange entkoppelt. Eine typisch ländliche Wirtschaftsstruktur und typisch ländliche Arbeitsverhältnisse gibt es in Deutschland nicht mehr. Im Vergleich zu den Ballungszentren weisen ländliche Regionen allerdings häufig einen geringeren Anteil von (wissensintensiven) Dienstleistungen auf und einen hohen Anteil von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe. Die Branchenstrukturen der einzelnen ländlichen Regionen unterscheiden sich dabei zum Teil erheblich: Manche ländlichen Regionen können viele gut bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten für Fachkräfte aufweisen, während andere Regionen eher durch ein im regionalen Vergleich geringes Lohnniveau gekennzeichnet sind. Ländliche Räume weisen jedoch auch Potenziale für wirtschaftliche Innovationen auf, die Aspekte der Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum in den Vordergrund stellen. Dies zeigt Interner Link: Daniel Schiller in seinem Beitrag auf. Die Unterschiede zwischen Ballungsräumen und ländlichen Räumen im durchschnittlich verfügbaren Einkommen sind dabei seit Beginn des Jahrtausends merklich kleiner geworden.
Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind noch immer sichtbar, so ist die Arbeitslosenquote in den ländlichen Räumen der neuen Bundesländer noch immer höher als in den westdeutschen ländlichen Räumen. Im Jahr 2017 liegt die Arbeitslosenquote in den ostdeutschen ländlichen Räumen bei 7,2 Prozent, in den westdeutschen bei vier Prozent. Eine kleinräumige Betrachtung im Zeitverlauf zeigt allerdings eine Verringerung der Arbeitslosigkeit besonders in strukturschwachen (eher und sehr) ländlichen Regionen, die wiederum vor allem in Ostdeutschland zu finden sind (vgl. Abbildung 2).
Ländliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge
Einrichtungen der Interner Link: Daseinsvorsorge und Wirtschaftsstruktur, wie beispielsweise technische Infrastruktur (z. B. Mobilfunk, Tankstellen, Öffentlicher Personenverkehr) oder soziale Infrastruktur (z. B. Bildungs- und medizinische Einrichtungen, aber auch Bibliotheken und Dorfgemeinschaftshäuser) geraten in ländlichen Räumen unter Schrumpfungsbedingungen rasch an Nutzungs- und Rentabilitätsgrenzen und es kommt zu einer Ausdünnung solcher Infrastruktureinrichtungen. Diese Prozesse sind nicht notwendigerweise nur an sinkende Bevölkerungszahlen oder geringe Finanzkraft der Kommunen gekoppelt, ihre Ursachen sind oft vielschichtig.
Konzentrationsprozesse von größeren Einrichtungen in größeren Orten finden sich in vielen Bereichen, z.B. in der Verwaltung, aber auch im Lebensmitteleinzelhandel. Hier zeichnet sich schon seit Jahrzehnten bundesweit ein Strukturwandel ab, der mit einer Verringerung der Anzahl an Geschäften und einer Vergrößerung einzelner Geschäfte einhergeht. Gerade in kleineren Orten und ländlichen Regionen bedeutet dies, dass die Versorgung mit fußläufig erreichbaren Gütern des täglichen Bedarfs schon seit einigen Jahren nicht mehr gesichert ist. Gleichzeitig kommt es zu neuen Angeboten, so gibt es in vielen ländlichen Regionen mobile Lebensmittelhändler, die regelmäßig und zu festen Zeiten die Dörfer anfahren. Deren Zahlen werden jedoch nicht zentral erfasst. Auch der Onlinehandel ist in den Lebensmittelbereich vorgedrungen. Ihm wird jedoch in ländlichen Räumen kein hohes Potenzial zugesprochen, da die Lieferkosten dort hoch sind und die Zahlungsbereitschaft dafür gering ist. Zudem sind die Anbieter meist in urbanen Regionen konzentriert. Während der Covid-19-Pandemie kam es zwar zu einem hohen Wachstum im Onlinelebensmittelhandel, aber nicht zu einer Ausweitung der Liefergebiete in ländliche Regionen.
Ländliche Infrastruktur unterliegt, wie gerade am Beispiel der Lebensmittelversorgung gezeigt, jedoch nicht nur einem Rückgang, sie wird auch schrittweise ausgebaut. Das prominenteste Beispiel ist der massiv geförderte Ausbau der Breitbandversorgung. Gelegentlich gelten ländliche Räume gar als "Labore", um neue Infrastrukturlösungen zu erproben, wie z. B. neue Formen der medizinischen Versorgung. Siehe dazu auch den Beitrag Interner Link: Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum in diesem Dossier. Auch mobile Angebote sind sowohl im Lebensmittelhandel als auch zum Beispiel bei Bankfilialen verbreitet. Insgesamt kann daher von einem komplexen Zusammenspiel des Rück-, Aus- und Umbaus der Infrastruktur in ländlichen Räumen gesprochen werden.
Aus der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer ist das (Nicht-)Vorhandensein von Einrichtungen der Daseinsvorsorge eng mit lokaler Lebensqualität verknüpft. Fehlende oder schlecht erreichbare Einrichtungen und Dienstleistungen bedeuten Alltagserschwernisse. Was aber genau das Vorhandensein oder Fehlen von Daseinsvorsorge für die Bewohnerinnen und Bewohner in ihrem Alltag bedeutet, welche Bewältigungsstrategien sie anwenden und welche Auswirkungen dies auf ihr Gefühl "abgehängt" zu sein hat, ist noch kaum erforscht.
Mobilität: gestiegene Pendeldistanzen und zunehmende Regionalisierung des Alltagslebens
Charakteristisch für die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in ländlichen Räumen ist eine hohe Interner Link: Mobilität – sei es eine Pendelmobilität zum Arbeitsplatz, oder Mobilität zum Erreichen von Einrichtungen der Daseinsvorsorge, Freizeitgestaltung oder politischen Partizipation. Pendeln zum Arbeitsplatz ist für viele Menschen Normalität. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Pendeldistanzen dabei deutlich erhöht, vor allem von niedrig- und mittelqualifizierten Beschäftigten. Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Räume pendeln dabei über deutlich weitere Distanzen als Menschen, die in Städten leben.
Das Alltagsleben regionalisiert sich zunehmend: Menschen nutzen unterschiedliche Einrichtungen und Dienstleistungen nicht mehr in ihrer Gemeinde oder Kommune, sondern notgedrungen in der Region, was auch einen erhöhten Mobilitäts- und Koordinierungsbedarf mitbringt. Für ältere Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Räume, die nicht mehr (auto)mobil sind, können größere Distanzen zu Einrichtungen der Daseinsvorsorge jedoch schwierig zu überwinden sein. Auch für weitere nicht-(auto)mobile Gruppen ist es schwierig, die Ausdünnung von Infrastruktureinrichtungen durch vermehrte Mobilität zu kompensieren. Dabei handelt es sich neben Älteren unter anderem auch um Jugendliche oder einkommensarme Personen, die sich kein Auto leisten können oder wegen hoher Benzinkosten ihre Fahrten einschränken müssen. Innovative Modelle z. B. mit autonom fahrenden Kleinbussen im öffentlichen Personenverkehr könnten mögliche Lösungswege sein.
Fazit: globale Trends und spezifische Entwicklungen in ländlichen Räumen
Viele der hier aufgezeigten Entwicklungen in ländlichen Räumen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind eng verknüpft mit globalen oder nationalen Trends. Sie lassen sich so oder so ähnlich auch in Ballungsräumen finden, wie die Zunahme der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, der demografische Wandel, aber auch die hier beispielhaft nachgezeichneten Konzentrationsprozesse im Lebensmittelhandel.
Andere Entwicklungen hingegen sind durchaus spezifisch für ländliche Räume. Hier können beispielsweise die sinkende Bedeutung des Landwirtschaftssektors oder die im Vergleich zu urbanen Regionen deutlich geringere Verbreitung wissensintensiver Dienstleistungsunternehmen genannt werden.
Vielfach ist die Rede davon, dass in Ostdeutschland, vor allem in ländlichen Regionen, schon heute drängende Herausforderungen des Umgangs beispielsweise mit einem steigenden Anteil älterer Menschen und deren Versorgung (Stichworte sind hier unter anderem Ärztemangel und Pflegebedarfe) bestehen, die in den westdeutschen Bundesländern erst punktuell in den Blick geraten. Gleichzeitig weisen ländliche Räume sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland eine große Vielfalt in der wirtschaftlichen, aber auch in der demografischen Entwicklung auf. Diese Vielfalt sorgt dafür, dass wir in ländlichen Räumen sowohl mannigfaltige Beispiele für eine ländliche Idylle und Prosperität als auch für eine strukturelle Benachteiligung finden.