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Sicherung der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen

Walter Ried

/ 8 Minuten zu lesen

Die Daseinsvorsorge umfasst die Versorgung aller Bevölkerungsgruppen – etwa mit Strom, Wasser, Internet und öffentlichem Verkehr ebenso wie mit Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Sie muss an den demografischen Wandel angepasst werden, besonders in ländlichen Regionen. Dort sollte zumindest eine Grundversorgung erhalten bleiben.

Dorf-Feuerwehrübung in Heckenbeck (© picture-alliance, Robert B. Fishman )

Aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamts zufolge wird die Bevölkerung in Deutschland im Zeitraum bis 2060 weiter altern und zumindest mittelfristig schrumpfen. Der demografische Wandel verläuft im ländlichen Raum differenziert: Manche ländlichen Regionen werden stark betroffen sein, andere nur in geringem Umfang. Dies erfordert Anpassungen der Daseinsvorsorge, wobei in gefährdeten Regionen zumindest eine Grundversorgung erhalten bleiben sollte. Die Sicherung der Daseinsvorsorge stellt ein Leitbild der Raumentwicklung dar und ist im Raumordnungsgesetz festgeschrieben.

Daseinsvorsorge

Die öffentliche Daseinsvorsorge umfasst Güter und Dienstleistungen, für deren Bereitstellung der Staat die Verantwortung übernimmt. Die Versorgung dient dazu, Chancengerechtigkeit für alle Bevölkerungsgruppen zu sichern. Den Bürgerinnen und Bürgern soll die Daseinsvorsorge eine angemessene Teilhabe am Leben ermöglichen, für Unternehmen stellt die Bereitstellung einzelner Leistungen eine wichtige Voraussetzung ihrer Aktivität dar.

Der Inhalt der Daseinsvorsorge ist dabei nicht festgeschrieben. Das liegt einerseits am technischen Fortschritt, der neue Leistungen verfügbar macht: So konnte die Breitbandversorgung früher nicht zur Daseinsvorsorge zählen. Andererseits stellt die Zuordnung von Leistungen zur Daseinsvorsorge eine politische Entscheidung dar. Deshalb kann die Versorgung in zwei Ländern unterschiedlich ausfallen, obwohl sie über dieselben technischen Möglichkeiten verfügen.

Die vielfältigen Leistungen der Daseinsvorsorge lassen sich zwei Kategorien zuordnen: Soziale Infrastrukturen der Daseinsvorsorge werden an bestimmten, in der Regel zentralen Orten vorgehalten. Dazu gehören Schulen, Krankenhäuser, Gerichte, Theater und Feuerwehren. Technische Infrastrukturen werden häufig über Netze bereitgestellt, die überall vorhanden sein können. Dazu werden Straßen und Autobahnen, das Schienennetz, die Stromversorgung, die Wasserversorgung sowie Informations- und Kommunikationsdienstleistungen (z.B. Telefon und Internet) gezählt. Allerdings zeigen die Beispiele Schiene und Autobahn, dass auch technische Infrastrukturen für die Nutzerinnen und Nutzer unterschiedlich gut erreichbar sein können.

Leistungen der Daseinsvorsorge sollen bestimmte Kriterien erfüllen: Sie sind in bestimmter (Mindest-)Qualität anzubieten, zu sozialverträglichen Preisen und in akzeptabler Erreichbarkeit. Diese Kriterien dienen dazu, die Verfügbarkeit der Leistungen für alle Bevölkerungsgruppen und ihre Erschwinglichkeit zu sichern. Bei Leistungen, die über technische Infrastrukturen jedem Haushalt zur Verfügung gestellt werden (z. B. Strom), ist die Erreichbarkeit stets erfüllt. Für Leistungen sozialer Infrastrukturen, die aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden (z. B. Schulbildung), spielt das Preiskriterium keine Rolle.

Die Rolle des Staates

Der Staat steuert die Daseinsvorsorge maßgeblich durch die Raumordnung und die Raumplanung. Ein wichtiges Instrument stellen zentrale Orte dar , die bestimmte soziale Infrastrukturen vorhalten und auch das Umland als Einzugsbereich damit versorgen (sollen). Je nach Ausstattung unterscheiden die Bundesländer in der Regel drei Stufen, die als Grund-, Mittel- und Oberzentren bezeichnet werden.

Die Leistungen der Daseinsvorsorge, die an diesen Orten bereitgestellt werden, erfüllen unterschiedliche Bedarfe, wie Beispiele aus den Bereichen Bildung und Gesundheit veranschaulichen. Grundzentren verfügen in der Regel über Grund- und Realschulen sowie Hausärztinnen und -ärzte, die jeweils die Bewohnerinnen und Bewohner des umliegenden Nahbereichs mitversorgen. Mittelzentren stellen meist auch Gymnasien und allgemeine Krankenhäuser bereit, die Bewohnerinnen und Bewohner des umliegenden Mittelbereichs ebenfalls versorgen können. Oberzentren schließlich halten in der Regel zusätzlich Hochschulen sowie spezialisierte Krankenhäuser vor und versorgen damit auch den umliegenden Oberbereich.

Standards stellen Vorgaben für die Qualität oder die Erreichbarkeit von Leistungen der Daseinsvorsorge dar. Bei der Versorgungsqualität betreffen Standards die Leistung selbst (z.B. Qualität des Trinkwassers) oder die benötigten Inputs (z.B. Ausstattung einer Schule). Zur Sicherung der Erreichbarkeit zentraler Orte dienen Obergrenzen für die Anreisezeit aus dem Einzugsbereich. Bei manchen Leistungen hängt die Versorgungsqualität auch von der Erreichbarkeit ab. Beim Rettungsdienst oder bei der Feuerwehr sind etwa Höchstwerte bei der Zeit, die vom Notruf bis zum Eintreffen der konkreten Hilfe am Einsatzort vergeht, festgelegt – die sogenannten Hilfsfristen.

Da es sich um eine staatliche Aufgabe handelt, liegt die Vermutung nahe, dass die Leistungen der Daseinsvorsorge grundsätzlich durch den Staat bereitgestellt werden. Tatsächlich kann die Versorgung jedoch auch durch private Unternehmen erfolgen. Im Rahmen der Gewährleistungsverantwortung fällt dem Staat dann die Aufgabe zu, die private Bereitstellung so zu regulieren, dass die gewünschten Vorgaben bezüglich Qualität, Erreichbarkeit oder Preisen erfüllt sind.

Windpark und Biogasanlage beim Dorf Eisenach in der Eifel (© picture-alliance)

Rekommunalisierung

In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Aufgaben der Daseinsvorsorge an private Unternehmen übertragen worden. Diese Privatisierungen, die vornehmlich auf kommunaler Ebene stattgefunden haben, betrafen etwa die Bereiche Energieversorgung, Wasserversorgung und Abfallentsorgung. Unzufriedenheit mit den Ergebnissen (z.B. deutliche Preissteigerungen) und ein geringerer Einfluss auf die Versorgung sind wichtige Motive für Bestrebungen, solche Aufgaben wieder von öffentlichen Unternehmen erfüllen zu lassen. Derartige Rekommunalisierungen lassen sich aktuell vor allem im städtischen Räumen finden. Prominente Beispiele bilden die Wasserversorgung in Berlin und die Energieversorgung in Hamburg. In Bergkamen sind mehrere Aufgaben (u.a. Energie- und Wasserversorgung, Müllabfuhr) wieder von kommunalen Unternehmen übernommen worden.

Eine Rekommunalisierung soll die Bereitstellung von Leistungen der Daseinsvorsorge verbessern, entweder durch eine höhere Versorgungsqualität oder über geringere Entgelte. Weitere Vorteile können etwa die Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse oder den Beitrag zur regionalen Wertschöpfung betreffen. Eine nähere Analyse zeigt jedoch, dass eine kommunale Leistungserstellung nicht grundsätzlich der privatwirtschaftlichen vorzuziehen ist. Deshalb ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Ziele der Daseinsvorsorge mit einer Rekommunalisierung bestmöglich zu erreichen sind.

Herausforderungen im ländlichen Raum

Was kennzeichnet ländliche Regionen? Zunächst eine niedrige Siedlungsdichte (Einwohnerzahl in Relation zu besiedelter Fläche), eine geringe im Umkreis wohnende Bevölkerung (Bevölkerungspotenzial) und eine ungünstige Lage, gemessen anhand der durchschnittlichen Fahrzeit zum nächstgelegenen Oberzentrum. Ein Ansatz, der noch zwei weitere Kriterien berücksichtigt, zeigt die Vielfalt ländlicher Regionen : So kann auch eine dünn besiedelte Region zentrumsnah liegen – etwa die Landkreise südöstlich von Berlin – und eine periphere Region kann relativ dicht besiedelt sein – auf Gemeindeebene zum Beispiel Flensburg oder Stralsund. Besonders ausgeprägt ist die Ländlichkeit bei dünn besiedelten peripheren Regionen wie der Uckermark.

In ländlichen Regionen kann die Daseinsvorsorge gefährdet sein. Empirische Untersuchungen zeigen, dass dies dann der Fall ist, wenn Güter und Einrichtungen der Grundversorgung (z. B. Lebensmittel, Apotheke, Hausarzt) nur noch schlecht erreichbar sind. Eine dünne Besiedelung erschwert es, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) oder soziale Infrastrukturen (z. B. Schulen) aufrechtzuerhalten, weil politisch vorgegebene oder gesetzlich festgelegte Mindestnutzerzahlen, die ihre finanzielle Tragfähigkeit anzeigen sollen, verfehlt werden. In peripher gelegenen Regionen ist es schwierig, das nächste Oberzentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln in angemessener Zeit zu erreichen, wenn die nächste Haltestelle fußläufig nicht zu erreichen oder die Taktung ungünstig ist.

Weitere Herausforderungen entstehen für ländliche Regionen, die vom demografischen Wandel besonders betroffen sind. Eine schrumpfende Bevölkerung erschwert die Daseinsvorsorge, wenn sogenannte Tragfähigkeitsschwellen, die eine Mindestauslastung der Einrichtungen gewährleisten sollen, unterschritten werden. Die Alterung der Bevölkerung erfordert Anpassungen, etwa in den Bereichen Gesundheit und Pflege oder auch beim ÖPNV, auf den ältere Menschen eher angewiesen sind. Ohne weitere Vorkehrungen ist davon auszugehen, dass die Anzahl der ländlichen Regionen, in denen die Daseinsvorsorge gefährdet ist, steigen wird.

Das Beispiel Breitbandversorgung

Breitband-Internetanschlüsse ermöglichen eine schnelle Übertragung großer Datenmengen. Für Unternehmen bildet die Breitbandversorgung eine zentrale Voraussetzung ihrer Geschäftstätigkeit, für private Haushalte einen wichtigen Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe: Einerseits als Instrument der Kommunikation, andererseits aufgrund des besseren Zugangs zur Daseinsvorsorge – etwa durch den Online-Einkauf, den Schulunterricht, den Arzttermin oder auch das Homeoffice per Videokonferenz.

Da die Breitbandversorgung nicht überall wirtschaftlich ist, würde eine rein privatwirtschaftliche Bereitstellung eine sehr ungleiche Versorgung der Bevölkerung bewirken. Insbesondere strukturschwache ländliche Regionen wären dann schlecht bzw. überhaupt nicht versorgt und somit von den angesprochenen Chancen ausgeschlossen. Die Bundesregierung beabsichtigt auch deshalb, bis zum Jahr 2025 flächendeckend Übertragungsraten von mindestens 1 Gigabit pro Sekunde zu erreichen und fördert dazu den Ausbau durch private Unternehmen in unterversorgten Regionen finanziell. Die Breitbandversorgung wird damit zu einer Leistung der Daseinsvorsorge, die im Wege der Gewährleistungsverantwortung bereitgestellt wird.

Daher gilt es, die Breitbandversorgung in akzeptabler Qualität flächendeckend bereitzustellen, und zwar sowohl stationär als auch mobil. Die digitale Infrastruktur kann eine schlechtere physische Erreichbarkeit der Daseinsvorsorge ausgleichen – nicht nur in der Grundversorgung, sondern beispielsweise auch in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Ferner gelingt es damit, eine hoch spezialisierte medizinische Versorgung, etwa bei Schlaganfällen, über Telemedizin verfügbar zu machen.

Lösungsansätze zur Sicherung der Daseinsvorsorge

Eine Option besteht darin, die Instrumente der Raumordnung räumlich differenziert anzuwenden. In Sachsen-Anhalt etwa sieht das Schulgesetz für Grundschulen vor, dass in Ausnahmefällen der Unterricht jahrgangsübergreifend oder im Verbund mit einer anderen Grundschule stattfinden kann. In mehreren Bundesländern gelten gelockerte Tragfähigkeitskriterien für zentrale Orte in ländlichen Räumen. So können sich mehrere zentrale Orte zu Verbünden zusammenschließen, etwa auf der Ebene der Mittelzentren, und dann Einrichtungen der Daseinsvorsorge gemeinsam vorhalten, um deren Kosten zu teilen. Mittelzentren mit Teilfunktionen eines Oberzentrums erfüllen einige oberzentrale Funktionen und gleichen damit die schlechte Erreichbarkeit des nächsten Oberzentrums teilweise aus.

Mobile Bäcker oder rollende Supermärkte, die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten, der Einsatz der Telemedizin oder auch der Betrieb eines Dorfladens durch engagierte Bürgerinnen und Bürger: Innovative Versorgungsformen erfüllen Funktionen der Daseinsvorsorge, indem sie in Bezug auf den Leistungserbringer, den Ort der Leistungserbringung oder auch die Art der Leistungserbringung von herkömmlichen Methoden und Formen abweichen. Ihre Erprobung erfordert nicht nur den Einsatz von Bürgerinnen und Bürgern, sondern häufig auch beträchtliche Aufwendungen, deren Erträge unsicher sind. Um diese aus gesellschaftlicher Sicht sinnvolle und notwendige Aufgabe zu erfüllen, fördern die Bundesregierung und mehrere Ministerien seit Jahren zahlreiche Projekte, die neue Formen der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen beinhalten. Die bisherigen Erkenntnisse lassen vermuten, dass die Daseinsvorsorge auch in gefährdeten ländlichen Regionen gesichert werden kann – es bedarf dazu allerdings der Bereitschaft, flexibel zu agieren und ausgetretene Pfade zu verlassen.

Prof. Dr. Walter Ried ist Inhabers des Lehrstuhls für Allgemeine Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Universität Greifswald.