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35 Jahren Bürgerhaushalt in Montevideo, Uruguay Im Gespräch mit Prof. Dr. Martín Freigedo

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Welche Erkenntnisse lassen sich aus einem der ältesten Bürgerhaushalte weltweit ziehen? Prof. Dr. Martín Freigedo zieht Bilanz am Beispiel der Hauptstadt Uruguays.

Herr Prof. Freigedo, Sie forschen zu Bürgerbeteiligung im uruguayischen Kontext. Was macht den Bürgerhaushalt in Montevideo so besonders und wie genau funktioniert er?

Der Bürgerhaushalt in Montevideo geht auf das Jahr 1990 zurück und ist damit einer der ältesten weltweit. Er entstand im Rahmen eines Denzentralisierungsprozesses, der damals verschiedene lateinamerikanische Länder und Städte betraf. Besonders bekannt ist hier die Stadt Porto Alegre in Brasilien, die als erste Stadt im Jahr 1989 einen Bürgerhaushalt einführte. Ziel war es, die Demokratie durch Dezentralisierung und Bürgerbeteiligung zu stärken, insbesondere in Städten mit eher linken Regierungen wie Montevideo, Caracas und Rosario. Seit 1990 regiert in Montevideo ohne Unterbrechung das linke Parteienbündnis Frente Amplio. Der Bürgerhaushalt ist fester Bestandteil dieser 34-jährigen Regierungszeit.

Der Grundmechanismus hat sich seit den Anfängen kaum verändert: Alle zwei Jahre wird ein bestimmter Anteil des städtischen Haushalts für Projekte reserviert, die von Bewohner*innen oder lokalen Organisationen vorgeschlagen werden. Die lokale Bevölkerung kann über diese Vorschläge abstimmen und die Stadtverwaltung setzt die ausgewählten Projekte schließlich um. Montevideo ist in 18 Stadtbezirke unterteilt, in denen in der Regel jeweils zwei bis drei Projekte bewilligt werden. Im Förderzyklus 2023 wurden insgesamt 55 Vorschläge angenommen und insgesamt 216 Millionen uruguayische Pesos bereitgestellt, das sind etwa 4,8 Million Euro.

Sie haben gesagt, Ziel war es, die Demokratie durch Instrumente der Bürgerbeteiligung zu stärken. Würden Sie sagen, dass das in Montevideo gelungen ist?

Ich glaube nicht, dass der Bürgerhaushalt allein zu einer stärkeren Demokratie geführt hat. Jedoch hat jedes Instrument, das die Bürgerbeteiligung stärkt, normativ positive Auswirkungen auf die Demokratie. Am Bürgerhaushalt in Montevideo beteiligen sich zurzeit etwa 6-7 % der Bevölkerung. Während es in den 1990er Jahren eine größere Nachfrage nach diesen Beteiligungsinstrumenten gab, ist diese heute deutlich zurückgegangen. Viele Bewohner*innen wissen nicht (mehr), dass es das Angebot gibt oder wie man sich daran beteiligen kann.

Trotz dieser Herausforderung denke ich, dass die Bürgerinnen und Bürger, die sich engagieren, Selbstwirksamkeit erfahren, die sich positiv auf eine demokratische Kultur auswirkt. Besonders auffällig ist, dass viele Projekte darauf abzielen, Sportvereine, insbesondere Kinderfußballvereine, zu stärken. Oft engagieren sich Kinder und Jugendliche aktiv und werben für Projekte, die ihnen am Herzen liegen, wie z. B. die Gründung einer Sporteinrichtung. Dieses Engagement trägt zur Schaffung einer zivilgesellschaftlichen Kultur des Engagements bei, auch in Bevölkerungsgruppen, die sonst wenig Interesse an solchen Themen zeigen. Und das bereits seit über drei Jahrzehnten.

Was können andere Städte, die Bürgerhaushalte umsetzen oder daran interessiert sind, von Montevideo lernen? Was kann Montevideo von anderen Städten lernen?

Montevideo kann der Welt die Bedeutung von Tradition und Beständigkeit vermitteln. Der Bürgerhaushalt besteht seit über 30 Jahren und trotz einiger Herausforderungen ist er eine fest verankerte Politik. Diese Kontinuität ist ein positiver Aspekt, den andere Länder oder Städte, die solche Prozesse einführen wollen, übernehmen könnten.

(© G. Vuljevas auf Unsplash)

Allerdings gibt es auch in Montevideo Nachholbedarf, vor allem in Bezug auf digitale Partizipation. Zwar gibt es die Möglichkeit, über digitale Plattformen abzustimmen, aber dafür müssen sich die Bürger/-innen erst persönlich registrieren oder eine spezielle digitale ID verwenden, die nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung genutzt wird. Dies schränkt die Partizipation erheblich ein. Hier kann Uruguay viel von anderen Ländern lernen, um die digitale Partizipation zugänglicher und moderner zu gestalten. Außerdem erreicht der Bürgerhaushalt nur eine kleine, gut organisierte Gruppe mit spezifischen Interessen, was die Breitenwirkung des Instruments einschränkt. Um die Bürgerbeteiligung zu stärken, müssten Städte die Möglichkeit der Bürgerhaushalte besser kommunizieren und mehr Zielgruppen erreichen.

Das 35-jährige Bestehen des Bürgerhaushalts in Montevideo zeigt, wie kontinuierliche Bürgerbeteiligung demokratische Strukturen stärkt. Trotz sinkender Beteiligung bleibt er ein wichtiges Instrument, das zivilgesellschaftliches Engagement fördert. Montevideo vermittelt Beständigkeit, kann aber von anderen Städten in puncto digitaler Partizipation noch viel lernen.

Zur Person:

Prof. Dr. Martín Freigedo lehrt an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universidad de la Republica in Uruguay. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politik auf subnationaler Ebene. Insbesondere untersucht er Dezentralisierungsprozesse in der öffentlichen Politik und beschäftigt sich mit Fragen der Bürgerbeteiligung und politischen Repräsentation auf lokaler Ebene.

Fussnoten

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