Frau Seidelmann, 2015 wurde der Mannheimer Beteiligungshaushalt ins Leben gerufen und 2022 zum dritten Mal durchgeführt. Wie blicken Sie auf diese Jahre zurück?
Mit dem Beteiligungshaushalt ist es gelungen, ein Beteiligungsinstrument zu schaffen, das eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung hat. Dazu gehörte aber auch, sich immer wieder „neu erfinden“ zu müssen und Abläufe anzupassen. In den drei Beteiligungshaushalten in Mannheim hat sich vor allem gezeigt, wie wichtig die Faktoren Zeit und Personal sind. Je mehr zeitlicher und personeller Einsatz von Seiten der Verwaltung möglich ist, desto mehr Menschen können aktiviert werden und desto höher ist die Qualität des Beteiligungsverfahrens. Und dann nehmen auch die Beteiligten positivere Erfahrungen mit.
Allerdings sollte nicht gänzlich kritiklos über Beteiligungshaushalte gesprochen werden. Denn nach wie vor gibt es ein Gerechtigkeitsproblem. Die bereitgestellten finanziellen Ressourcen gehen oft an bereits privilegierte Gruppen, da sich diese auch vermehrt beteiligen. Wie auch andere Beteiligungsverfahren laufen Bürgerhaushalte Gefahr, bestimmte Bevölkerungsgruppen, sogenannte „beteiligungsferne” Menschen, gar nicht zu erreichen. Das gilt zum Beispiel für die rund 45 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund in Mannheim. Ganz allgemein ist es so, dass Beteiligungshaushalte eher die Personen der akademisch gebildeten Mittelschicht erreichen, weniger aber das prekäre oder traditionelle Milieu. Das muss bei der Durchführung des nächsten Beteiligungshaushaltes nachhaltig verändert werden. Nur eine möglichst breite Beteiligung legitimiert einen Beteiligungshaushalt.
In den bisherigen drei Runden des Beteiligungshaushalts haben Sie viele Erfahrungen gesammelt. Was waren Ihre wichtigsten Learnings? Planen Sie weitere Veränderungen?
Beteiligungshaushalte sind ein sehr anspruchsvolles Beteiligungsinstrument. Es muss sehr viel kommuniziert werden – und das in einer Zeit, in der kaum noch längere Texte gelesen werden und finanzielle und personelle Ressourcen knapp sind. Gleichzeitig bräuchte es aber aufwendige Kampagnen, um noch mehr Menschen zu erreichen. Insbesondere die schwer zu erreichenden Zielgruppen müssen über eigene Kanäle gezielt angesprochen werden, wofür es mehr Personal bräuchte. Außerdem ist es wichtig, die Beteiligungshürden so niedrigschwellig wie möglich zu gestalten, im Idealfall nach dem Prinzip der aufsuchenden Beteiligung.
Auch andere Probleme bleiben bisher ungelöst: Der Anspruch von Verwaltung und Politik, die Funktionsweise des städtischen Haushalts über einen Beteiligungshaushalt den Menschen vor Ort zu erklären und zu vermitteln, konnte bisher nicht umgesetzt werden. Dazu eignet sich das Instrument in dieser Form nicht und wir müssen neue Formen der Ansprache finden.
Außerdem erkennen wir zu oft, dass sich die ohnehin schon gut vernetzten, organisierten, internetaffinen Aktivistinnen und Aktivisten mit ihren Ideen eher durchsetzen können als andere. Bürgerinnen und Bürger, die nicht in Verbänden oder Vereinen organisiert sind, können zum Teil nur schwer mit den Verwaltungsstrukturen umgehen. Hier muss die Verwaltung noch mehr dafür sorgen, auch diese Personen in der Umsetzungsphase einzubinden.
Leider mache ich manchmal die Erfahrung, dass Menschen ihre Idee nicht mehr verfolgen und gar nicht beobachten, wie sich diese gegenüber anderen Vorschlägen entwickelt. Die Ideengeber sind dann erstaunt, wenn sich die Verwaltung an sie wendet, um den Vorschlag gemeinsam umzusetzen.
Im Mannheimer Beteiligungshaushalt 2022 wurden vor allem Ideen gesucht, die dazu beitragen sollen, Mannheim bis 2030 klimaneutral zu machen. Wie wichtig ist der Beteiligungshaushalt für den Klimaschutz in Ihrer Stadt?
Wenn wir die Anzahl der Klimaideen und das eingesparte CO² betrachten, erscheint der Beitrag des Beteiligungshaushalts zum Klimaschutz zunächst als nicht sehr hoch. Da aber die Eindämmung des Klimawandels nur gemeinsam gelingen kann, ist der Beteiligungshaushalt ein Baustein von vielen. Durch aktive Einbindung und Beteiligung wollen wir zu einem veränderten Bewusstsein und einem veränderten Verhalten in der Bevölkerung beitragen.
Wenn Sie andere Kommunen bei der Einrichtung eines Beteiligungshaushaltes beraten dürften: Was wären Ihre Tipps? Wo sehen Sie Fallstricke? Das Personal, das in die Beteiligungsphase eingebunden ist, sollte die entsprechenden Anforderungen für den Beteiligungshaushalt nicht nur „nebenher” und parallel zu anderen Aufgaben erfüllen müssen. Nur mit ausreichend Zeit haben die Mitarbeitenden genügend Raum für dieses vielschichtige Beteiligungsprojekt.
Notwendig ist ebenso, dass die politischen Vertreterinnen und Vertreter entsprechend eingebunden sind und das Verfahren unterstützen. Das kann zum Beispiel durch Sitzungen mit den jeweiligen Fraktionen bzw. der Führungsebene des Rathauses erreicht werden. Auch wäre die Einbindung eines Beteiligungsbeirates denkbar. Ohne die Mitwirkung der politischen Seite ist eine erfolgreiche Umsetzung des Beteiligungshaushalts nicht möglich.
Außerdem eignen sich Bürgerhaushalte nicht dafür, regelmäßig durchgeführt zu werden. Mit der Zeit erlahmt irgendwann das Interesse seitens der Bevölkerung. Es ist wichtig, dass ein Bürgerhaushalt ein „besonderes Event” bleibt.
Mit Blick auf die letzten Jahre: Was war Ihr liebster Vorschlag aus den vergangenen Beteiligungshaushalten?
Da fällt mir der Vorschlag ein, kostenlose Schwimmkurse für Kinder und Jugendliche anzubieten. Eingereicht wurde die Idee vom Schwimmverein Rhein-Neckar e. V., der dafür ein Budget von 25.000 Euro bereitgestellt bekommen hat. Mir hat gefallen, wie mit einem verhältnismäßig geringen finanziellen Aufwand eine sehr nachhaltige Idee vorgetragen wurde, die während der beiden „Corona-Sommer” 2020 und 2021 verwirklicht werden konnte. Hinzu kommt, dass die Kurse in einem Schwimmbad angeboten wurden, das in einem eher benachteiligten Stadtteil Mannheims liegt. Das tolle Ergebnis: Rund 800 Kindern konnte dadurch das Schwimmen beigebracht werden.
Welche Fragen treiben Sie denn aktuell beim Thema Beteiligungshaushalte noch um?
Zwei Fragen würde ich gern mitgeben. Erstens frage ich mich, ob man Ideen vielleicht nur dann umsetzen sollte, wenn eine bestimmte Anzahl, sagen wir 10 Prozent der Stadtbevölkerung, auch wirklich dafür stimmt. Und die zweite Frage lautet, ob über die eingereichten Ideen zusätzlich eine Jury aus Bürgerinnen und Bürgern entscheiden sollte. Dies könnten mögliche Weiterentwicklungen für Bürgerhaushalte sein, die es zu diskutieren gilt.