Klimawandel und Bürgerhaushalte: Einerseits steckt in dieser Verbindung eine große Chance – nicht zuletzt, weil es zur Bewältigung beziehungsweise Schadenbegrenzung in der Klimakrise neben politischen Weichenstellungen auch privates Engagement braucht. Erfolgreiche Bürgerhaushalte bringen schließlich einen Lernprozess für die beteiligte Bevölkerung mit sich.
Andererseits ist die Thematik so komplex, dass es selbst für interessierte Bürger:innen alles andere als leicht ist, die „richtigen“ Entscheidungen zu treffen - selbst Klima-Aktivist:innen fordern gerne: „Listen to the science“, also "Höre auf die Wissenschaft". Dieses beiden Aspekte trafen auch auch bei dem Bürgerhaushalt (englisch: Participatory Budgeting, PB) über die Verwendung eines Klimafonds im nordwestlichen Externer Link: Londoner Stadtteil Brent aufeinander – was einige Konflikte mit sich brachte. Doch dazu später.
Ausgeloste Klima-Bürgerräte als Beratungsinstanz
Vor einer genaueren Betrachtung dieses konkreten Bürgerhaushalt gilt es, etwas weiter ausholen. Das – neben Wahlen – von der britischen Politik bevorzugte Mittel, die Bürger in politische Prozesse einzubinden, sind aktuell sogenannte Citizen Assemblies (Bürgerräte) - zumindest in England; in Externer Link: Schottland hat die Regierung bereits als Ziel definiert, dass über mindestens ein Prozent des Haushalt in PB-Prozessen entschieden wird. In diesen Citizen Assemblies wird von der Öffentlichkeit beraten, wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel oder der Brexit gestaltet werden kann. Diese britische Institution war - neben den Bürgerräten in Frankreich und Irland – Vorbild für den in Deutschland im Dezember 2020 ins Leben gerufenen Externer Link: Bürgerrat Klima.
Die Climate Assembly UK hatte 108 Mitglieder, im Juni 2019 nahm sie ihre Arbeit auf. Die Mitglieder wurde über ein Losverfahren (englisch: sortition process) ausgewählt und sollten repräsentativ die Bevölkerung abbildeten. Ein gutes Jahr später, im September 2020, veröffentlichte dieser Bürgerrat Empfehlungen, wie das Kernziel Großbritanniens in Sachen Klimaschutz – keine CO2-Nettoemissionen bis 2050 – konkret zu erreichen wäre. Dieser Abschlussbericht umfasst zehn Bereiche, von Ernährung über Reisen bis zum Alltags-Konsumverhalten – und auch die Frage, wie die Energienutzung im häuslichen Umfeld optimiert werden kann. Hier sind die Empfehlungen dieser Citizen Assembly nachzulesen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem solchen Bürgerrat und einem Bürgerhaushalt ist, dass der Bürgerrat über kein Budget verfügt. Seine maßgebliche Aufgabe darin besteht, beratend tätig zu sein und dem Politikbetrieb eine Einschätzung der öffentlichen Meinung zu vermitteln.
Susan Ritchie ist Direktorin von Externer Link: Mutual Gain - die Organisation hat zum Ziel, Bürger stärker in politische Prozesse einzubinden, etwa über Bürgerhaushalte; Ritchie ist zugleich Vorsitzende des Externer Link: UK PB Network. Sie erklärt im Gespräch, dass Bürgerräte relativ teuer in der Umsetzung sind, nicht nur, weil die Teilnehmenden durch ein aufwändiges Losverfahren ausgewählt werden. Sie werden zudem für ihre Teilnahme an der Assembly finanziell entschädigt, indem ihnen einen Living Wage, also ein existenzsichernder Lohn, bezahlt wird. Teils liegt der über ihrem realen Verdienst, was die Teilnahme auch für Bevölkerungsschichten attraktiv macht, die im politischen Prozess gemeinhin unterrepräsentiert sind – Ritchie zufolge sind das genau „Leute, die man dabei haben will“. Denn letztlich gehe es gerade beim Klimaschutz darum, dass ein Bewusstsein dafür nicht zur Klassen- oder Bildungsfrage werden darf.
Wie ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen erreichen?
Naheliegend wäre, Synergieeffekte zwischen Bürgerräten und Bürgerhaushalten zu erzeugen: also deren Strukturen zusammenzuführen und davon zu profitieren, dass die Bürgerräte dank des komplexen Auswahlerfahren die gesellschaftliche Realität besser abbilden. Denn mit einem Gremium, das die Bevölkerung in puncto Geschlecht, Alter, Ethnizität repräsentativ abbildet, wäre ein Kritikpunkt aus dem Weg geräumt, mit dem sich Bürgerhaushalte immer wieder konfrontiert sehen: dass an solchen Prozessen vor allem Menschen teilnehmen, die sich sowieso politisch engagieren, Zeit und andere Ressourcen ein derartiges Engagement haben und zudem oft zu dem Teil der Bevölkerung gehören, der seine Interessen zu vertreten weiß – was dem Ziel entgegen läuft, durch Bürgerhaushalte der Politikmüdigkeit entgegenzuwirken und unterrepräsentierte Bevölkerungsschichten in demokratische Prozesse einzubinden.
Doch auch wenn es in London zwischenzeitlich Überlegungen gab, wie Synergieeffekte erzeugt werden können, gab es dann doch keinen Bürgerhaushalt, der aus einem Bürgerrat hervorging – allein schon, weil der Bürgerrat eine nationale Plattform war, während der Bürgerhaushalt auf lokaler Ebene arbeitet. Im Fall von Brent, einem ausgesprochen heterogenen Stadtteil, versuchte der Council mit einer Outreach-Kampagne für die Teilnahme an dem Bürgerhaushalt zu werben und dabei in möglichst unterschiedliche Bevölkerungssegmente zu erreichen – mit zumindest teilweisem Erfolg, wie Ritchie feststellt: „Am Ende hatten wir eine ziemliche diverse Teilnehmergruppe – auch wenn etwa 80 Prozent von ihnen sich schon vorher in der einen oder anderen Form mit dem Thema Klimaschutz beschäftigt hatten. Bedauerlicherweise gelang es nicht, die in Brent stark vertretene pakistanische Community angemessen einzubinden. Es nahm vor allem weiße Bevölkerung teil. Zudem waren etwas mehr Frauen als Männer involviert.“ In Brent gibt es wohlhabenden Gegenden – das Wembley-Stadium und einige Gegenden mit hochpreisiger Altbausubstanz befindet sich dort; zugleich gibt es in dem Bezirk große Armut und soziale Schieflagen, sichtbar etwa an der grassierenden Bandenkriminalität oder einer besonders hohen Sterblichkeit durch Covid.
Misstrauische Fachleute
Das Besondere an dem Bürgerhaushalt in Brent, dessen Mittel aus dem Externer Link: Carbon Offset Fund - zu deutsch: Klimaschutzfonds - der Regierung stammen, war, dass er messbare Ergebnisse hervorbringen musste. Die beschlossenen Maßnahmen sollten zu einer konkreten Reduktion von Emissionen führen: mindestens 100 Tonnen CO2. Die Sensibilisierung für das Thema Klimaschutz oder Maßnahmen, wie der Alltag klimafreundlicher gestaltet werden kann, waren allenfalls als Begleiterscheinung dieser Kernabsicht anvisiert.
In Brent gab es 500.000 Pfund aus dem Fonds zu verteilen. Eine Planungsgruppe überlegte, wie das Verfahren möglichst demokratisch im Sinne von PB zu gestalten war– so dass eben nicht nur über die Verteilung der Gelder abgestimmt, sondern auch der ganze Prozess von der Öffentlichkeit gestaltet wird. Ein wesentliches Element eines „guten PB“ ist in Ritchies Augen, dass die Öffentlichkeit mitentscheidet, worüber konkret angestimmt wird.
Man beschloss, 80 Prozent des Geldes, also 400.000 Pfund, in Gebäudesanierungen zu investieren, um die Wärmedämmung zu verbessern –- und die restlichen 100.000 Pfund in Aufklärung und Beratung. Ritchie und ihre Mitstreiter:innen, allen voran Shazia Hussian, Assistenz der Geschäftsführung des Councils, entschieden, vor dem PB-Prozess Expert:innen zu Beratungszwecken zu Rate zu ziehen – was sich als zwiespältig herausstellte. Diese Expert:innen konnten zwar konkretes Know-How beisteuern, hatten aber eben auch vorgefasste Meinungen, welche Maßnahmen sinnvoll sein. Die Expert:innen plädierten die Sanierung von Schulfenstern und taten sich schwer damit, dass die Entscheidungskompetenz letztlich bei den Bürgern lag.
Bewerbergemeinschaften mit steiler Lernkurve
Am Ende entschied man, dass statt der vorgeschlagenen Schulsanierung der Klimaschutzfonds für die Sanierung von privatem Wohnraum eingesetzt werden sollte. Dafür mussten aber sich Wohnungseigentümer und -Mieter zu sogenannten Clustern zusammentun – einerseits, um die Effizienz der Maßnahmen zu steigern, indem sie von der ganzen Hausgemeinschaft getragen wurde; und andererseits, um eine Situation zu vermeiden, in der Menschen mit ihren Nachbarn um über die begrenzten Ressourcen konkurrieren. „Dass Leute ihre Wohnungen, ob als Eigentümer oder Mieter, in einer Videopräsentation vorstellten und erklären mussten, warum genau ihr Zuhause die Förderung verdient, hat natürlich erstmal eine etwas seltsame Anmutung. Das stieß einigen auch auf. Letztlich hat es dann aber erstaunlich ganz gut funktioniert“, so Ritchies Einschätzung. Vorbedingung zur Teilnahme war, dass die Maßnahmen von einem Prüfer für sinnvoll befunden wurden, so dass etwa Renovierungen aus ästhetischen Gründen ausgeschlossen waren: „Wenn eine Hausgemeinschaft auf dem Weg neue Fenster beantragen wollte, der Experte jedoch befand, dass neue Fenster erst nach einer Wärmedämmung des Gebäudes überhaupt Sinn ergeben, konnten sie diese nicht beantragen.“
Es ging dabei keineswegs nur um kleine Baumaßnahmen. Jede Wohneinheit konnte sich um 10.000 Euro bewerben, ein Cluster von zehn Wohnungen konnte also 100.000 Pfund beantragen. Darüber hinaus gab es die Option, entweder selbst Geld zuzuschießen oder – für Niedrigverdiener – weitere Fördertöpfe anzuzapfen. Dadurch, berichtet Ritchie, entstanden produktive Diskussionen unter den Bewerbergemeinschaften. „Der Prozess entwickelt einen starken community-Aspekt; zudem gab es bei den Teilnehmern eine bemerkenswerten Lernkurve in Sachen Klimaschutz.“ Am Ende waren sogar die Expert:innen mit dem Resultat zufrieden. Ihre anfängliche Skepsis, Laien die Entscheidung über die Förderungswürdigkeit eines Projekts zu übertragen, bewerteten sie in der Evaluation durchaus selbstkritisch.
Hohes Interesse an Beratung
Das Verfahren fand pandemiebedingt ausschließlich online stark. Es gab im Januar 2022 zwei Onlineveranstaltungen: eine für den Fonds für die Sanierungsmaßnahmen, die andere für den Fonds zu Bildungs- und Informationsmaßnahme. In Zahlen aufgeschlüsselt: Bei dem Bürgerhaushalt zu den Sanierungsmaßnahmen meldeten sich 113 Leute vorab zu Teilnahmen an; 91 nahmen am Prozess teil, 75 von ihnen beteiligten sich durchgängig an allen Abstimmungen. Sieben Projekte bekamen bei diesem Bürgerhaushalt Fördergelder zugesprochen, das größte war ein Cluster von 16 Haushalten.
Macht die Luft nicht besser: Rush-Hour mit viel Individualverkehr in London (© Anouk fotografeert on Unsplash)
Macht die Luft nicht besser: Rush-Hour mit viel Individualverkehr in London (© Anouk fotografeert on Unsplash)
Interessanterweise wurde dem kleineren Budgettopf, in dem es nicht um konkrete Einsparungen, sondern um Beratung und Aufklärung ging, mehr Aufmerksamkeit zuteil. Für die Entscheidung über diesen Bürgerhaushalt hatten sich 202 Teilnehmer:innen angemeldet, 135 nahmen tatsächlich daran teil; 127 wählten bei allen Entscheidungen mit. Acht Projekte bekamen Förderung: darunter Aufklärung über Biodiversität, Mieterberatung, und Beratung durch eine Sicherheitsfirma: etwa wie man abgesichert Carsharing in der Nachbarschaft betreibt oder zu Fuß zur Arbeit kommt.
Gute Erfahrungen mit Klimaschutz-PB wirken weiter
Kein weiterer Londoner Bezirk folgte dem Beispiel von Brent, über den Climate Offset Fund durch einen Bürgerhaushalt abstimmen zu lassen. Doch immerhin war man in diesem Bezirk auf den Geschmack gekommen. Auf den Bürgerhaushalt zum Thema Klima folgte im Juni 2022 ein weitaus umfänglicher Bürgerhaushalt. Dabei ging es um ein mehr als viermal so großes Budget, bei dem Unzulänglichkeiten bei der Gesundheitsversorgung und Verbesserung der Lebensqualität im Mittelpunkt stand – mit Fokus auf das Drittel der Bewohner von Brent, die unterhalb der Armutsgrenze leben.