Damit soll nicht behauptet werden, dass es das Ziel jedes Bürgerhaushaltes sein müsste, dass die Beteiligten »richtig politisch« mitreden. Dennoch wird zu manchem Bürgerhaushalts-Verfahren gefragt werden, ob sie eher als »Spielwiese« oder Ablenkung von den »eigentlichen« haushaltspolitischen Fragen eingesetzt werden. Entsprechende Fragen werden immer häufiger auch von Journalisten gestellt.
Stärken Bürgerhaushalte politisches Interesse und Systemvertrauen?
Erfreulich viele Kommunen arbeiten mit Bürgerhaushaltsverfahren. Die Beteiligten haben das gute und berechtigte Gefühl, ihre bürgerliche Pflicht getan zu haben; Politik und Verwaltung dürfen sich mit Recht für besonders offen und demokratisch halten. Aber gleichzeitig schrumpfen die Mitgliederzahlen von Parteien, haben sie oft Schwierigkeiten, ihre kommunalen Kandidatenlisten zu füllen, sinken die Wahlbeteiligungen und sinkt das Vertrauen in Parteien und Politiker immer weiter auf einen erschreckend niedrigen Stand. »Unpolitische« Bürgerhaushalts-Verfahren könnten diese Tendenzen verstärken, indem sie zum einen vom Kern der Politik ablenken (und dieser Kern ist im ganzen Haushaltsplan in Zahlen ausgedrückt und entschieden), und zum anderen indem sie ein Signal senden, dass Politik und Verwaltung über das »Eingemachte«, das große Ganze lieber selbst entscheiden. Wäre es ein Wunder, wenn auch interessierte Menschen sich abwendeten?
Bürgerhaushalte mit politischem Anspruch
Was heißt »politisch« oder »unpolitisch« (weniger politisch)? Politisch kann man einen Bürgerhaushalt dann nennen, wenn:
- die Bürger Prioritäten für einen relevanten Teil oder für das Ganze des Kommunalbudgets setzen können (Haushaltsrelevanz) – und nicht nur über eine mehr oder weniger kleine »freie Spitze« mitbestimmen dürfen oder Anregungen zu einzelnen Posten vorbringen, was letztlich als unpolitisch zu bezeichnen ist;
- die Prioritäten, Vorschläge und Empfehlungen der Bürger zumindest beantwortet, möglicherweise sogar weitgehend verwirklicht werden (Wirksamkeit und Reaktion) – wohlgemerkt: die Entscheidung bleibt beim verfassungs- und gesetzmäßig dazu bestellten Gemeinde- oder Stadtrat –, eher unpolitisch wären also Verfahren, bei denen Bürgervoten gesammelt, aber nicht systematisch beantwortet oder berücksichtigt werden;
- Vorschläge diskutiert und systematisch gewichtet oder zur Abstimmung gestellt werden (Entscheidungscharakter) – unpolitischer sind Verfahren, bei denen Vorschläge eher gesammelt werden (»Vorschlagswesen«);
- die Beteiligten, vor allem die Abstimmenden, eine angemessene Form der demokratischen Legitimation besitzen (etwa durch repräsentative Auswahl, beispielsweise durch Zufallsverfahren, oder als Vertreter bestimmter, möglicherweise bisher unterrepräsentierter Gruppen wie Minderheiten, oder auch in anderer Form – eher unpolitisch sind Verfahren nach dem Prinzip der Selbstauswahl (»wer möchte, macht mit«) oder bei denen es egal ist, wer teilnimmt, oder solche, an denen hauptsächlich Aktivbürger/innen mitwirken;
- die Bürgerinnen und Bürger einen möglichst guten Durchblick bekommen, das heißt Informationen über den ganzen Haushaltsplan und auch über mittel- bis langfristige Pläne und Schätzungen (Transparenz) – eher unpolitisch wären daher Verfahren, bei denen vorwiegend zu einzelnen Haushaltsteilen informiert wird oder nur über ein Jahr und die Bürger/innen sich nur zu einzelnen Projekten oder einem kleineren freien Betrag Gedanken machen;
- die Bürger/innen zumindest auch Sparentscheidungen mitzutreffen oder vorzubereiten haben, vielleicht sogar ohne Ausgabenspielraum (Realismus und Richtung) – eher unpolitisch sind Verfahren einzustufen, bei denen die Bürger/innen vom Sparzwang weitgehend unbehelligt bleiben.
Selbstverständlich sind diese Kriterien oder Indikatoren nicht abschließend gemeint. Wenn man ganz grob eine Unterscheidung zwischen eher politischen und eher apolitischen Verfahren treffen will, dann müssen nicht alle Eigenschaften zutreffen, damit ein Verfahren eingeordnet werden kann. Es lassen sich für alle Ausprägungen Beispiele in der Praxis finden. Zu den eher unpolitischen Bürgerhaushalten zählen auch diejenigen, bei denen sich die Beteiligung weitgehend auf die Information der Bürger beschränkt. Selbstverständlich tragen sie den Keim der Politisierung der Bürgerschaft in sich. Jedoch zeigen manche Erfahrungen, dass über ein »Vorschlagswesen« nicht hinausgekommen wird.
Spielwiesen oder Sparen als realistische Politik?
Gerade die Spar-Frage wird die Kommunen (und nicht nur sie) in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen, und hier bietet der Bürgerhaushalt ein großes Potential: weil (a) die Bürger zum Sparen, also auch zum Verzichten grundsätzlich bereit sind, (b) nur sie selbst wissen, worauf konkret sie am ehesten zu verzichten bereit sind, und (c) bei guten Verfahren eine zusätzliche Legitimationsbasis für Sparmaßnahmen bieten, womit sie (d) die öffentliche Akzeptanz für harte Maßnahmen erleichtern. Wird also im Bürgerhaushalt eher gespart oder eher ausgegeben? Wenn es nur oder vor allem ums Ausgeben geht: Weckt und nährt man damit nicht Illusionen bei den Bürger/innen? Oder schleicht sich bei ihnen vielleicht sogar das Gefühl ein, es sei genügend Geld da, nur ihrer Kenntnis und ihrer Mitentscheidung entzogen?
Beispiele Der klassische Bürgerhaushalt in Porto Alegre bedeutet vor allem: Bisher benachteiligte Gruppen in den Stadtteilen Porto Alegres melden ihre Bedürfnisse und Prioritäten an; entschieden wird in einem stadtweiten Austausch. Hier hat der Bürgerhaushalt von Beginn an einen halb politischen Charakter. Er kann und sollte immer politischer werden und damit die Menschen wieder näher an die Politik, an ihr Gemeinwesen, heranführen.
Nun nach Deutschland. »Externer Link: Solingen spart« heißt das Bürgerhaushaltsverfahren in der Stadt in Nordrhein-Westfalen. Ziel war hier nicht die Priorisierung von Ausgaben, sondern von Sparvorschlägen – ein realistischer politischer Ansatz. Dennoch ist das Verfahren als eher unpolitisch einzustufen, denn die »Produktkritik« wurde von der Stadtverwaltung vorgenommen. Zudem wurde die strategische Ausrichtung »in drei strategischen Workshops des Verwaltungsvorstands, der städtischen Führungskräfte und der Ratsfraktionen« erarbeitet. Für die Bürgerinnen und Bürger blieb letztlich ein erweitertes Vorschlagswesen, wenig Einblick in und Mitentscheidung über Grundsatzfragen. Nur registrierte Bürger/innen konnten auch von der Verwaltung gemachte Vorschläge bewerten. Es wurden Teilnehmerdaten veröffentlicht und damit Transparenz über deren Repräsentativität hergestellt. Es zeigt sich, dass Männer etwas überrepräsentiert sind; Personen mit Hochschulabschluss machen einen relativ großen Anteil aus. Dennoch wurden auch Menschen mit Hauptschulabschluss erreicht. Soweit zu einer ersten Einordnung des Solinger Verfahrens. Ähnlich ist »Externer Link: Essen kriegt die Kurve« mit Bürgerhaushalt-Hilfe einzuordnen. Auch in Essen können die Bürger/innen einerseits Sparvorschläge von der Verwaltung bewerten und andererseits eigene vorbringen und diskutieren, ebenfalls online. (Die Selektivität von Online-Beteiligungen soll hier nicht diskutiert werden; sie ist aber auch für die Frage, wie politisch ein Bürgerhaushalt ist, relevant.)
Fazit Bürgerhaushalte bewegen etwas – mal mehr, mal weniger. Es könnte mehr sein, wenn sie noch politischer würden, das heißt noch mehr Einfluss auf den politischen Rahmen hätten, auf die strategische Ausrichtung des Produkthaushaltes und darüber hinaus. Damit kommen wir aber gleich zur nächsten Herausforderung.
Wichtige Entscheidungen fallen nicht in der Kommune Wenn die Kommunen kaum eigene Steuern haben, und wenn über große Teile der Ausgaben und Einnahmen in Landtagen und Bundestag beschlossen wird, müsste ein politischer Bürgerhaushalt auch diese Fragen behandeln: die Frage nach der föderalen Finanzverfassung. Ideen hierzu sind vorhanden, müssen aber an anderer Stelle diskutiert werden.