Bürgerhaushalte oder andere Online-Beteiligungsverfahren sind für ihre Befürworter eine Chance für mehr Demokratie im Rahmen der repräsentativen Demokratie. Für Kritiker ist Bürgerbeteiligung dieser Art hingegen schlicht undemokratisch. Im Interview der Fachzeitung "Der Neue Kämmerer" diskutieren Dr. Oliver Märker, Zebralog GmbH & Co. KG, und Dr. Stephan Eisel, Konrad-Adenauer-Stiftung, über das Für und Wider von Bürgerhaushalten.
Die Veröffentlichung des Interviews (Ausgabe 3,S. 4, September 2013) erfolgt mit Genehmigung von Externer Link: "Der Neue Kämmerer", Zeitung für öffentliches Haushalts-, Beteiligungs-, Immobilien- und Prozessmanagement. Das Gespräch führte Katharina Schlüter.
Das Thema Bürgerhaushalt ist in aller Munde. Doch wie verbreitet ist das Instrument in Deutschland tatsächlich?
Eisel: Die Verbreitung ist sehr gering. Etwa 100 bis 120 Kommunen haben das Instrument ausprobiert, einige haben es wieder eingestellt. Wenn man bedenkt, dass es in Deutschland etwa 12.000 selbständige Kommunen gibt, ist dies nicht viel.
Märker: Es ist richtig, dass das Instrument noch nicht sehr weit verbreitet ist. Allerdings ist die Tendenz steigend. Zu den 120 Kommunen, die das Instrument bereits ausprobiert haben, kommen laut letztem Statusbericht 104 weitere Kommunen hinzu, die einen Bürgerhaushalt vorbereiten. Bei rund 50 weiteren Kommunen liegen entweder ein Beschluss vor, ihn einzuführen, oder bereits Vorformen. 28 Kommunen haben den Bürgerhaushalt eingestellt, manche davon, bevor er online gegangen ist. All dies ist über die Seite buergerhaushalt.org nachzuvollziehen.
Eisel: Die von Herrn Dr. Märker genannten Zahlen sind für mich spekulativ und lassen sich nicht überprüfen: Eine objektive Untersuchung gibt es nicht. Die Seite buergerhaushalt.org wird von Herrn Dr. Märker selbst redaktionell verantwortet, der zugleich Geschäftsführer einer Firma ist, die entsprechende Systeme kommerziell vertreibt. Objektiv ist das nicht, ich sehe hier offenkundige Interessenkonflikte.
Märker: Zebralog ist von Engagement Global und der Bundeszentrale für politische Bildung mit der redaktionellen Betreuung der Seite beauftragt worden. Grund dafür war, dass die entsprechenden Stellen bei uns die notwendige Kompetenz gesehen haben. Außerdem kommt hinzu: buergerhaushalt.org ist „crowdsourced“ – viele Angaben werden gar nicht von uns gemacht, sondern von Kommunen beziehungsweise der Community selbst gemeldet.
Herr Dr. Eisel, Sie sehen internetbasierte Bürgerhaushalte kritisch. Warum?
Eisel: Internetbasierte Bürgerhaushalte haben zahlreiche Schwächen. Ein wichtiger Punkt ist die hohe Manipulationsgefahr. Bei den meisten Bürgerhaushalten müssen sich die Teilnehmer nur mit einer E-Mail-Adresse registrieren. Weder wird überprüft, ob es sich dabei um Bürger der betroffenen Kommune handelt, noch wird sichergestellt, dass sich die gleiche Person nicht mit mehreren verschiedenen E-Mail-Adressen anmeldet. Bei sehr geringen Beteiligungsquoten kann dies zu einer starken Verzerrung der Ergebnisse führen. Leider fehlen auch an dieser Stelle objektive Auswertungen.
Märker: Wichtiges Ziel von Bürgerhaushalten ist meiner Meinung nach, das Ohr für die Belange der Bürger weiter zu öffnen. Insofern ist es nicht relevant, ob ein Vorschlag beispielsweise von einem Ortsfremden gemacht wird. Wenn es ein guter Vorschlag ist, kann dieser schließlich trotzdem wertvoll sein.Und ob er gut oder schlecht ist: Das müssen am Ende ohnehin erst noch die Politiker entscheiden.
Eisel: Für die Beurteilung des Instruments Bürgerhaushalt ist es sehr wohl wichtig, wie viele Bürger das Instrument nutzen. Da es praktisch keine objektiven Auswertungen gibt, ist das Projekt „Liquid Friesland“ interessant. Bei dieser Mitwirkungsplattform mussten sich die Bürger über ihre Personalausweisnummer eindeutig identifizieren. So konnte jeder Bürger nur einmal teilnehmen, die Teilnahme von Ortsfremden war außerdem ausgeschlossen. Das Ergebnis: Von den 100.000 Bürgern des Landkreises Friesland nahmen nur etwa 60 Bürger an den einzelnen Onlineabstimmungen teil.
Weniger als 0,1 Prozent also. Das ist in der Tat wenig. Herr Dr. Märker, ist das repräsentativ?
Märker: Nein, denn der Vergleich hinkt. Der Bürgerhaushalt eines Landkreises ist deutlich weniger attraktiv als der einer Stadt oder Gemeinde. Schließlich ist die wahrgenommene Betroffenheit hier sehr viel geringer. Außerdem ist das Ziel von Bürgerhaushalten gar nicht, repräsentativ zu sein. Dafür gibt es andere Verfahren wie z.B. Marktforschung, Entscheide oder Wahlen, die dafür nicht offen und dialogisch sind.
Gleichwohl ist die geringe Beteiligung ein häufig genannter Kritikpunkt. So hat im Frühjahr die Stadt Frankfurt am Main den Bürgerhaushalt aus diesem Grund nach zwei Jahren wieder eingestellt. Wie Kämmerer Uwe Becker im DNK-Interview erläuterte, hatten sich am zweiten Bürgerhaushalt nur 3.000 Bürger beteiligt. Bei 700.000 Frankfurtern sind das weniger als 0,5 Prozent …
Märker: Im Fall Frankfurt würde ich gerne ergänzen, dass Kämmerer Uwe Becker von der Beteiligung von 150 Bürgern an einer Präsenzveranstaltung begeistert war, 3.000 Bürger online findet er aber zu wenig. Das zeigt, dass eine Fixierung auf die Zahlen nicht weiterhilft. Viel sinnvoller finde ich den Ansatz des Kämmerers von Maintal, Ralf Sachtleber. Bei der Vorstellung des neuen Instruments Bürgerhaushalt antwortete er auf die Frage nach der zu erwartenden Beteiligungsquote, dass ihm die Zahlen egal seien. Wichtig sei, dass sich die Bürger ernst genommen fühlten.
Eisel: Gegen einen Onlinebürgerhaushalt als ergänzendes Diskussionsforum habe ich nichts einzuwenden. Problematisch finde ich aber, wenn auf Basis von Abstimmungen „Bestenlisten“ erzeugt werden, die dann an die politischen Gremien weitergegeben werden. Oft erhalten diese dann übrigens nicht die absoluten Zahlen, sondern nur die Prozentsätze. Leider können sich viele Politiker dann der Magie der Zahl nicht mehr entziehen.
Märker: Das sehe ich genauso. Die Schnittstelle zwischen Abstimmung im Internet und Verwaltung bzw. Politik ist eine Schwachstelle der Bürgerhaushalte. Hier müssen die Bürgerhaushalte weiterentwickelt werden. Gleichwohl handelt es sich bei den Bestenlisten aber um keine Abstimmung, sondern nur um eine Vorauswahl. Ziel ist es, die Komplexität und den Aufwand zu reduzieren. Leider wird dies von den Politikern bisher manchmal nicht entsprechend eingeordnet.
Eisel: Das Problem ließe sich doch ganz leicht lösen: Es sollte überhaupt keine Abstimmung geben. Stattdessen sollte man die Bürger die Vorschläge online diskutieren lassen. Das hätte auch den Vorteil, dass sich die Bürger mit den Themen tatsächlich auseinandersetzen müssten, anstatt einfach irgendwo zu klicken. Dann stünde die Qualität des Arguments im Vordergrund und nicht die Quantität des schnellen Internetklicks.
Diskussion statt Abstimmung – Herr Dr. Märker, wäre das eine Lösung für die oft kritisierte mangelnde demokratische Legitimierung von Bürgerhaushalten?
Märker: Dies wurde in den Anfangszeiten der Onlinebürgerhaushalte ausprobiert, hat sich aber als nicht praktikabel erwiesen. Bestenlisten helfen, die Komplexität zu reduzieren. Natürlich haben sie nicht die Relevanz einer Wahl – das behauptet ja auch niemand.
Eisel: Ich würde gerne nochmals auf die Manipulationsgefahr zurückkommen. Internetverfahren bevorteilen gut organisierte Interessengruppen. So wurde beispielsweise in Bonn ein erheblicher Teil der Teilnehmer von großen Bonner Vereinen aus den Bereichen Soziales, Sport, Kultur und Karneval durch gezielte E-Mail-Aktionen mobilisiert.
Herr Dr. Märker, wie sehen Sie das Problem, dass bestimmte Interessengruppen ihre Mitglieder zur Teilnahme mobilisieren können und es so zu einer Verzerrung der Ergebnisse kommt?
Märker: Lobbyismus gibt es auch jenseits des Internets. Was in Hinterzimmern besprochen wird, weiß der normale Bürger auch nicht. Im Internet ist die Mobilisierung wenigstens nachvollziehbar.
Eisel: Für Sie als Systemadministratoren vielleicht, aber doch nicht für den Bürger. An dieser Stelle kann ich nur nochmals meine Forderung nach unabhängigen Evaluationen von Bürgerhaushalten wiederholen.
Märker: Ich bin auch für unabhängige Evaluationen. Diese sind aber mit zusätzlichen Kosten verbunden, weshalb die Kämmerer meist darauf verzichten.
Wo wir gerade bei den Kosten sind: Was kostet denn ein Onlinebürgerhaushalt?
Eisel: Im Fall Bonn ist das genau dokumentiert. Dort hat die Verwaltung Kosten von 500.000 Euro angegeben.
500.000 Euro für eine Großstadt – Herr Dr. Märker, ist das realistisch?
Märker: Ja, das ist realistisch, wobei davon natürlich nur ein kleiner Teil an externe Dienstleister geht. Den größten Batzen machen interne Personalkosten aus.
Das bedeutet aber doch, dass ich im Schnitt mehrere Tausend Euro für die Meinung eines einzelnen Bürgers ausgebe. Aus Kämmererperspektive stellt sich da doch die Fragenach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis …
Märker: Wie schon gesagt: Ich halte diese Zahlenfixierung nicht für zielführend. Ein gut gemachter Bürgerhaushalt verbessert die politische Kultur und die Einbindung der Bürger in die politischen Prozesse. Natürlich löst ein Bürgerhaushalt und schon gar nicht das Internet alle Demokratieprobleme. Wichtig finde ich die Kombination aus Onlineelementen und Präsenzveranstaltungen. Die meisten Kommunen gehen diesen Weg auch.
Herr Dr. Eisel, der Onlinebürgerhaushalt als ergänzendes, partizipatorisches Element – können Sie da mitgehen?
Eisel: Im Prinzip schon, nur leider verspricht der Bürgerhaushalt mehr zu sein – auch gegenüber dem Bürger. Der beteiligt sich in dem Glauben, mit politischen Entscheidungsträgern zu kommunizieren, tatsächlich aber kommuniziert er nur mit der Verwaltung. Der Onlinebürgerhaushalt ist also ein Potemkinsches Dorf. So entsteht Frust, und so etwas stärkt die Demokratie sicher nicht.
Märker: Der Frust entsteht dann, wenn die Bürger keine begründete Rückmeldung auf ihre Vorschläge erhalten. Ob die Antwort nun von der Verwaltung oder von der Politik kommt, erscheint mir daher zweitrangig. Insgesamt führen die Bürgerhaushalte dazu, dass Bürger das Haushaltsplanverfahren besser verstehen. Es ist also auch eine Form der politischen Bildung, die nach meiner Erfahrung zu einer Stärkung der Demokratie führt. Dabei ist online oder nicht online zweitrangig.
Dr. Oliver Märker ist Gründer und Gesellschafter der Firma Zebralog, Onlinebürgerhaushalte sind ein wichtiges Geschäftsfeld. Seit 2007 ist er außerdem Redakteur der Seite buergerhaushalt.org.
„Wichtigstes Ziel von Bürgerhaushalten ist, das Ohr für die Bürger zu öffnen. Daher ist es egal, wenn auch ein Ortsfremder einen Vorschlag macht.“ Dr. Oliver Märker, Zebralog
Dr. Stephan Eisel ist bei der Konrad-Adenauer-Stiftung für das Projekt „Internet und Demokratie“ zuständig. Von 2007 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags.
„Meist müssen sich Bürger nur mit ihrer E-Mail-Adresse registrieren. Auch Ortsfremde können teilnehmen. Dies verzerrt die Ergebnisse.“ Dr. Stephan Eisel, Konrad-Adenauer-Stiftung