Ende November, an einem Sonntagabend, finden sich beim Auftakt der Netzwerkkonferenz 2018 rund 80 altbekannte und neue Gesichter des Netzwerks Bürgerhaushalt im Café Einstein in Berlin Mitte ein. Alle sind gekommen um gut zu essen, die kommenden zwei Tage anzustimmen und erste Kontakte zu knüpfen. Doch zusätzlich haben sie eins in Sinn: Sie wollen sich einen Impuls, einen theoretischen Einstieg, eine mögliche Perspektive für die anstehenden Gespräche, Diskussionen und Workshops auf der Konferenz durch die Dinner Speech von Konrad Hummel, einem der besten Kenner der Bürgerbeteiligungsszene in Deutschland, geben lassen.
Gleich zu Beginn stellt Konrad Hummel eine Frage in den Raum, die vor dem Hintergrund der derzeitigen populistischen Entwicklungen in Europa und anderen Teilen der Welt relevanter kaum sein könnte: Wo stehen Zivilgesellschaft und Demokratie heute? Zwei Begriffe, die mit der öffentlichen Darstellung von Bürgerhaushalten und Bürgerbudgets oft gar nicht in Verbindung gebracht werden. Wie verhalten sich zivilgesellschaftliche Entwicklungen und demokratische Prozesse zueinander, wenn wir sie als Zentrum für einander beeinflussende Veränderungen sehen? Hummel fängt mit berühmten Worten an und schlägt dann den Bogen zu konkreten Beispielen.
„Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Democracy is work in process“; Sätze von Willi Brandt und Barack Obama, mit denen versucht wurde, das Nachdenken über ein besseres demokratisches Zusammenleben in motivierende, positive Einstellungen zu übertragen. Aber sind solche Sätze wirklich Teil einer Vorstellung von gesamtgesellschaftlicher, demokratischer und positiver politischer Auseinandersetzung für alle? Handelt es sich nicht vielmehr um das Denken einer bildungsorientierten, internationalisierten, liberalen Schicht?
Hummel zufolge haben die letzten knapp 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung gezeigt, dass gesellschaftliche Herausforderungen wie die lokale Agenda 21, der Klimawandel, die zunehmende Mobilität oder die Integration von Schutzsuchenden nur mit der und nicht für die Bürgerschaft verwirklicht werden können. Deshalb sind bürgerschaftliches Engagement, Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft – entgegen sinkender Mitgliederzahlen in Parteien, Kirchen und Gewerkschaften –fester Bestandteil der Vorstellung, dass jeder Mensch etwas tun und damit schnell zu einem Element von etwas Größerem werden kann.
Doch sind auch Engagement und Bürgerbeteiligung nicht ohne Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten zu haben. An den Liberalisierungsschüben, die die deutsche Gesellschaft seit der „Generation 68“ durchlaufen hat, kann man das ohne Weiteres erkennen. Die Studentenbewegung hat sowohl die Neuen Sozialen Bewegungen als auch den „deutschen Herbst“ möglich gemacht. Und seit „besorgte Bürger“ bei „Pegida“ und anderswo durch die Straßen laufen, ist deutlich geworden, dass es auch dunkle Seiten der Zivilgesellschaft gibt.
Vielleicht nicht auf den ersten, aber spätestens auf den zweiten Blick erkennt man, dass ein idealisierendes Bild von demokratischen Wagnissen und Prozessen nicht ohne entsprechende gegenläufige Entwicklungen betrachtet werden kann. Gegenwärtig scheinen am Gemeinwohl orientierte demokratische Vorgänge und deren gesellschaftliche Institutionen auf vielen Ebenen in Bedrängnis zu geraten. Menschenrechtsfortschritte und die dabei entstehenden Mehrdeutigkeiten rufen die Gegner*innen komplexer Entwürfe von Gesellschaft auf den Plan. Der Ruf nach Autoritäten und mehr Exklusion werden dann schnell zur probaten Antwort. Auf diesem Weg können längst überholt geglaubte Vorstellungen und Positionen von populistischen Bewegungen wieder aufgegriffen und Beteiligungsprozesse der Zivilgesellschaft in ihr Gegenteil verkehrt werden. Nicht der demokratische Prozess oder politische Teilhabe stehen dann im Vordergrund, sondern eine behauptete (fehlende) Messbarkeit des Ergebnisses von demokratischen Entscheidungen. Damit werden historisch und gesamtgesellschaftlich begründete Entscheidungen lediglich anhand der Frage bewertet: Und was nutzt mir das alles?
Demokratische Gemeinschaft wird, so Konrad Hummel, zu einem „Supermarkt“ und die individuelle Wertschätzung orientiert sich am Preis-Leistungsniveau für die Einzelnen. Volksabstimmungen oder öffentliche Leistungen finden in diesem Bezugssystem keine Verknüpfungen zu gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen, die sich vielleicht jenseits des eigenen Bedürfnishorizonts bewegen. Sich diesen hier nur skizzenhaft angerissenen Problemen entgegenzustellen, ist eine bleibende Aufgabe. Jedenfalls sollten die Verfahren und Methoden, in denen öffentliche Belange zur Entscheidung stehen, Teilhabe und Eigenverantwortung stärken und nicht primär für Machtkämpfe instrumentalisiert werden. Wenn die Verfahren und Methoden den Tugenden der Zivilcourage und der Kompromissfähigkeit verpflichtet sind, dann können sie eine demokratische Gemeinschaft stärken, weil es auf das Verfahren und nicht auf das konkrete Ergebnis einer demokratischen Entscheidung ankommt.
Es geht um die gemeinsame Regelung der Res publica, der öffentlichen Angelegenheiten. Diese Regelungen bilden sich in praktischer Politik inklusive ihrer Kritik sowie durch Verfahren mit möglichst breiter Teilhabe ab. Positionen, welche die Teilnahme aller eher fürchten, definieren sich zuerst abgrenzend. Aussagen wie: „Wir sind das Volk!“ oder „Das sind die politischen Eliten!“ behaupten einen Alleinvertretungsanspruch, der sich letztlich nur in ein undemokratisches Machtgefüge überführen lässt. Damit wird der Wert verkannt, der durch mehr Transparenz, mehr Aufklärung, mehr Spielräume und mehr Gewaltenteilung entsteht. Bürgerhaushalte und Bürgerbudgets sind bisher die einzige Beteiligungsmöglichkeit, bei der die Bürger*innen über einen Teil der öffentlichen Finanzen mitentscheiden können. Damit wird ein Raum für Entscheidungen geschaffen, der im Idealfall gemeinwohlorientierte Ideen hervorbringen kann. Gleichzeitig sind Bürgerhaushalte und Bürgerbudgets damit ein Bestandteil der eben beschriebenen notwendigen Zutaten für das gemeinsame Regeln der gemeinsamen Dinge. Sie sind ein Teil des demokratischen Bodens, auf dem wir alle stehen können und sollten. Die Bearbeitung dieses Bodens bleibt die stetige Aufgabe des demokratischen Zusammenlebens.