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Wer hat’s erfunden? Brasilien

Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt - Michelle Ruesch

/ 4 Minuten zu lesen

Michelle Ruesch, Redakteurin von buergerhaushalt.org, beschreibt den meistzitierten und ältesten Bürgerhaushalt. Er fand 1989 zum ersten Mal in Porto Alegre, Brasilien statt.

(© Matheus Câmara da Silva on Unsplash)

Die Brasilianische Großstadt Porto Alegre gilt als Wiege der Bürgerhaushalte. 1988 wurde hier der Orçamento participativo erfunden und 1989 zum ersten Mal umgesetzt. Heute ist es der am häufigsten zitierte Bürgerhaushalt weltweit, vielfach exportiert, kopiert, erweitert und als „institutionelle Innovation“ bezeichnet.

Kleine Entstehungsgeschichte

Das Geburtsjahr des ersten Bürgerhaushalts fällt – keineswegs zufällig - ins gleiche Jahr, in dem auch die Arbeiterpartei mit Olívio Dutra die Bürgermeisterwahlen gewann. Nach über zwanzig Jahren Diktatur konnte auch die neue demokratische Verfassung, obwohl offen gegenüber Bürgerbeteiligung, nicht über die Realität hinwegtäuschen: Die Schere zwischen Arm und Reich war gewaltig, Korruption und Klientelismus an der Tagesordnung.

Zwar lag in Porto Alegre der Lebensstandard generell über dem Landesdurchschnitt, demokratische Strukturen lagen aber auch hier brach. Die neue Linksregierung nahm sich vor, das zu ändern und die in der Verfassung festgehaltene Beteiligung der – im Falle von Porto Alegre bereits recht aktiven - Zivilgesellschaft in die Tat umzusetzen. Das Herzstück der Kommunalpolitik – der Haushaltsplan – sollte nicht mehr hinter verschlossenen Türen entwickelt werden. Gleichzeitig wurde auch aus Bürgerkreisen, insbesondere Stadtteilinitiativen, die Forderung nach mehr Mitbestimmung laut.

Das Ergebnis war ein kreatives partizipatives Verfahren, das sowohl von Bürgerinitiativen als auch von der Regierung ausging. Es war der erste Orçamento participativo, zu Deutsch: Beteiligungs- bzw. Bürgerhaushalt.

Ziele des ersten Bürgerhaushalts

Konkret wurden zwei Ziele mit dem Orçamento participativo verfolgt:

1. Demokratieförderung: Klientelismus sollte bekämpft, Mitbestimmungsrechte gestärkt werden.

2. Verteilungsgerechtigkeit: Benachteiligte Bevölkerungsgruppen sollten bei der Prioritätensetzung eine Stimme erhalten.

Später kam noch ein weiteres Ziel hinzu:

3. Regierungsführung: Korruption sollte beendet und Verwaltungshandeln effizienter und wirksamer werden.

Hintergrund: Einbettung in die politischen Strukturen

In Brasilien haben Kommunen ähnlich wie in Deutschland weitreichende Autonomie über kommunale Einnahmen und Ausgaben. Die Exekutive – das Bürgermeisteramt - bereitet den Haushalt vor, die Legislative – in Form einer Abgeordnetenkammer – beschließt den Haushalt. Auf der Ebene des Bürgermeisteramtes organisiert ein Koordinationsbüro den Dialog mit der Zivilgesellschaft, während ein Planungsbüro die technische und finanzielle Umsetzbarkeit der Bürgerwünsche sicherstellt. Für den Beteiligungsprozess wurde die Stadt in Planungszonen bzw. Beteiligungsbezirke aufgeteilt.

Das Verfahren konkret

Im Gegensatz zu den gängigen deutschen Verfahren hat das Bürgerhaushaltsverfahren in Porto Alegre von Anfang an auf die Übertragung von Entscheidungskompetenzen gesetzt. Außerdem ist die Beteiligung nicht zeitlich begrenzt sondern ein das ganze Jahr füllender Prozess. Mit den Jahren hat sich der Prozess leicht verändert, aber die Grundpfeiler – eine Kombination aus für alle offenen, regionalen Versammlungen und gewählten Bürgerdelegierten – bestanden von Anfang an. Eines der Kernmerkmale des Bürgerhaushaltes in Porto Alegre ist, dass er eine hohe Anzahl an Bürgern, darunter auch Benachteiligte, mobilisiert. Außerdem steht die mittelfristige Finanzplanung im Zentrum, zum Beispiel Investitionen in Infrastruktur. Die langfristige strategische Entwicklung spielt eine zweitrangige Rolle. (Für weitere Informationen, siehe Quellen und Literatur)

Das Verfahren ist in drei Stufen unterteilt:

1. Offene Bürgerversammlungen

In einem ersten Schritt werden bei offenen Versammlungen in den Stadtteilen Prioritäten und Wünsche diskutiert. Diese Versammlungen dienen ausschließlich der Verständigung der Bürger untereinander; Vertreter der Stadt sind hier nicht involviert.

Bei stadtteilübergreifenden, regionalen Bürgerversammlungen in den 17 Bezirken stellt die Exekutive den Investitionsplan des letzten Jahres vor. Die Anwesenden diskutieren Vorschläge für das kommende Jahr, legen ihre Prioritäten fest und wählen Delegierte für den Rat des Bürgerhaushalts und die Delegiertenforen.

Die Prioritäten und Vorschläge, die nicht stadtteilspezifisch sind, werden zudem in themenspezifischen Versammlungen weiter vertieft.

2. Delegiertenforen

Die in die regionalen Delegiertenforen gewählten Bezirksvertreter arbeiten die Wünsche und Prioritäten der Bürger weiter aus und priorisieren sie. Sie legen eine übergeordnete Prioritätenliste entsprechend der zuvor gewählten Prioritäten fest. Auch an diesen Treffen können alle Bürgerinnen und Bürger teilnehmen, allerdings haben hier nur Delegierte Stimmrechte. Die Delegierten diskutieren außerdem Ende des Jahres das Regelwerk für den nächsten Bürgerhaushalt.

3. Rat des Bürgerhaushalts

In einer großen Versammlung werden die durch die Delegiertenforen erarbeiteten Listen an den Bürgerhaushalts-Rat gegeben. Delegierte aus den Versammlungen der Bezirke sowie aus den Themenversammlungen bilden den Conselho do Orcamento Participativo (COP), also den Bürgerhaushalts-Rat. Aufgabe dieser Delegierten ist es, Kriterien zur Mittelverteilung zu diskutieren und den zuvor vom Planungsbüro und dem Bürgermeisteramt entworfenen Haushaltsentwurf weiterzuentwickeln. Der partizipativ weiterentwickelte Haushaltsentwurf wird dann der Legislative vorgelegt. Organisiert werden die Treffen des COP vom Koordinationsbüro des Bürgermeisteramtes. Der Rat bildet zudem eine zentrale Kontrollinstanz. Er kontrolliert die Analyse zur Umsetzbarkeit von Vorschlägen durch die Verwaltung. Die aus den Delegiertenforen hervorgegangenen Prioritäten werden formaljuristisch von der Legislative verabschiedet. Der COP fordert hierzu eine Rechenschaft ein und verabschiedet außerdem das vom Delegiertenforum entwickelte Regelwerk für den Bürgerhaushalt des darauffolgenden Jahres.

Porto Alegre: Erfolgsmodell von Anfang an?

Porto Alegre wird heute oft als Erfolgsmodell bewundert. Das heißt aber keineswegs, dass es auf dem Weg hin zu einem institutionell fest etablierten Bürgerhaushalt nicht auch Schwierigkeiten gab. So wird berichtet, dass die Menschen zum Beispiel nach der ersten Euphorie zumindest kurzzeitig über die neue Beteiligungsmöglichkeit enttäuscht waren, da wegen begrenzten finanziellen Ressourcen nur ein Bruchteil ihrer Wünsche umgesetzt werden konnte. Daraufhin wurden verschiedenen Strategien getestet. Zum Beispiel wurden Kriterien entwickelt, um zu entscheiden, welche Vorschläge umgesetzt werden sollten. Außerdem startete die Verwaltung Informationskampagnen, um den Bürgern den Haushaltsplan näherzubringen. Nachdem Bürgerinnen und Bürger die Haushaltsplanung besser verstanden hatten und außerdem erste Ergebnisse sichtbar wurden, schwand die Unzufriedenheit.

1990 bekam der Prozess den Namen "Orçamento participativo" und wurde damit zu einem eigenständigen und dennoch in die politischen Strukturen verankerten Verfahren. Zwischen 1990 und 2003 wuchs die Zahl der Mitmachenden von 1.000 auf über 26.000. Auch nach einem Regierungswechsel Anfang des 21sten Jahrhunderts blieb der Bürgerhaushalt fester Bestandteil der Haushaltsplanung.

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