Partizipation liegt der Demokratie als Grundprinzip zugrunde. Nur eine Demokratie, die ihre Beteiligungsangebote möglichst weit und möglichst inklusiv anlegt, erfüllt das Prinzip der Volkssouveränität im anspruchsvollen Sinne. Dieses besagt ja im Kern, dass jede Person, die von einer Entscheidung betroffen ist, über diese Entscheidung auch mitbestimmen können muss. Üblicherweise geschieht dies in der repräsentativen Demokratie auf indirektem Weg über „Volksvertreter“, die turnusmäßig und auf Zeit gewählt und mit dem Geschäft des demokratischen Entscheidens betraut werden.
Der besondere Reiz von Bürgerbeteiligungsverfahren besteht nun darin, dass sie – indem Bürgerinnen und Bürger auch zwischen und jenseits von Parlamentswahlen mitdiskutieren, mitbestimmen, mitentscheiden können – die Demokratie wieder näher ans Volk als Souverän zu rücken versuchen. Damit ist nicht zuletzt die Hoffnung verbunden, der vielzitierten Entfremdung der politischen Repräsentation vom Wahlvolk entgegenzuwirken. Vor allem im Rahmen des Konzepts der Bürgerkommune versucht man, mittels Zukunftswerkstätten, Runden Tischen, Bürgerpanels, Town Hall Meetings und transparenteren Entscheidungsverfahren, dem ursprünglichen Impuls des Demokratischen zu folgen, das heißt, möglichst viele Menschen bei der Politik „mitzunehmen“.
Der Bürgerhaushalt nimmt hier eine besondere Stellung ein, da sich sein Gegenstandsbereich nahe an der Königsdisziplin des Politischen, der Verteilung öffentlichen Geldes, bewegt. Der Gedanke, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht „nur“ an Fragen der Stadtplanung, der Spielplatz und Grünflächengestaltung oder auch der Verkehrspolitik, sondern auch am (meist) kommunalen Haushalt beteiligen, übte und übt dabei eine besondere Faszination aus. Und so versucht man – angeregt von Beispielen aus Südamerika und anderen Weltregionen – seit etwa eineinhalb Jahrzehnten, den Bürgerhaushalt als Instrument der Bürgerbeteiligung und zugleich auch als Element einer lebendigen, vielfältigen Demokratie zu etablieren. Das Netzwerk Bürgerhaushalt ist ein Ausweis dieser Entwicklung.
Derzeit ist die Bürgerhaushaltsdebatte in der Situation, schon auf diverse Erfahrungen zurückblicken zu können. Daher bietet es sich vielleicht an, den Fokus zu öffnen und die Debatte für weitere Aspekte zu öffnen. Wenn nun am Anfang gesagt worden ist, dass die umfassende Beteiligungsperspektive, welche durch Bürgerhaushalte eröffnet wird, bislang nicht ansatzweise ausgeschöpft worden ist, dann ist damit gemeint, dass die Vision eines inklusiven Bürgerhaushalts, der als relevantes öffentliches Thema zu Stärkung der lokalen Demokratie beiträgt, noch sehr weit von ihrer Erfüllung entfernt ist.
Das mag mit dem juristischen Umstand zusammenhängen, dass für den Haushalt einer Kommune letztlich – im Sinne des letzten Worts – der Rat verantwortlich ist, was dazu führt, dass in vielen Kommunen die Ergebnisse von Bürgerhaushaltsverfahren nicht umgesetzt oder nach einem ausführlichen Konsultationsprozess „in letzter Sekunde“ politisch ausgebremst werden, was entsprechenden Verdruss bei den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern zurücklässt.
In zahlreichen Fällen war es auch schon so, dass die zur Disposition stehenden Mittel in Relation zum Gesamthaushalt der Kommune so gering waren, dass für die meisten Menschen der Anreiz zur Mitwirkung zu schwach war. Ein weiteres Hindernis stellt die Komplexität öffentlicher Haushalte dar. Das „Schicksalsbuch der Kommune“, das heißt, den Haushaltsplan mit all seinen Facetten, können nur die wenigsten lesen oder verstehen, was in den letzten Jahren zumindest dazu geführt hat, dass viele Kommunen versuchen, das komplizierte Zahlenwerk verständlich aufzubereiten.
Stellen wir uns nun ein vorbildliches Bürgerhaushaltsverfahren dar, in dem gute Informationsarbeit geleistet wird, das breit angelegt ist und auch tatsächlich relevante Summen zur Mitbestimmung zur Verfügung stellt. Die Erfahrung wird sein, dass hier vielleicht die Beteiligung höher ist als andernorts. Doch bestimmte Gruppen der Bevölkerung wird man auch diesmal kaum erreichen, weil die soziale Ungleichheit zu stark ins Gewicht fällt.
Die These lautet, dass soziale Ungleichheit ein wesentliches Hindernis für breitere Beteiligung an Bürgerhaushaltsverfahren darstellt. Im Bereich des Bürgerhaushalts zeigt sich dieselbe soziale Kluft wie in anderen Arealen der Bürgerbeteiligung und des bürgerschaftlichen Engagements. Aus der Engagementforschung – zum Beispiel den Freiwilligensurveys oder den Engagementberichten der Bundesregierung – wissen wir, dass die sozialen Strukturen der Gesellschaft sich im Bürgerengagement gleichermaßen wiederholen. So wie die Gutsituierten, Integrierten, Gebildeten und Besitzer guter Jobs am häufigsten bürgerschaftlich engagiert sind, so sind sie auch, was die Teilnahme an Bürgerbeteiligungsverfahren wie dem Bürgerhaushalt betrifft, eindeutig überrepräsentiert. Menschen mit Behinderung, aus Zuwandererfamilien, mit sozialer Benachteiligung wie Erwerbslosigkeit oder Altersarmut oder auch mit niedrigerem Schulabschluss sind wesentlich seltener als Akteure in der Bürgerhaushaltsszene zu beobachten. Soll der Bürgerhaushalt aber dauerhaft zur Erfolgsgeschichte werden, wäre es unbedingt erforderlich, im Sinne einer inklusiven Demokratie auch solche – bislang eher engagementferne – Personen anzusprechen und einzubeziehen. Die Idee der Volkssouveränität steht und fällt mit dem Maß der Beteiligung möglichst vieler Menschen an politischen Prozessen.
Damit dies gelingen kann, muss die Bürgerhaushaltsdebatte aus ihrer bisherigen Engführung oder auch Isolation herausgeführt und mit anderen Bereichen der Bürgerbeteiligungs- und Engagementpolitik verknüpft werden. Eine Politik der Vielfalt erreicht man nicht nur durch Appelle oder bessere Öffentlichkeitsarbeit (das auch!), sondern durch die Ermöglichung und den Ausbau milieuübergreifen der Kontakte, wie es aktuell in kleineren Kommunen wie Eberswalde oder Glienicke / Nordbahn in Brandenburg versucht wird, wo man mit einer öffentlichen Veranstaltung zur Abstimmung über die Vorschläge aus dem Bürgerhaushaltsverfahren zugleich zu einem Bürgerfest einlädt, bei dem man sich trifft und Spaß an der Begegnung mit anderen hat und wo das Gefühl aufkommt, durch die Beteiligung am Bürgerhaushalt Teil eines gemeinsamen Ganzen zu sein.
Wie so etwas in Großstädten gehen soll, auch dafür gibt es bereits Ansätze, wie die überdurchschnittlich starke Beteiligung am Stuttgarter Bürgerhaushalt oder auch die Stadtteilarbeit in einigen Berliner Bezirken zeigen. Tatsache bleibt: Es gibt Armut in unserer Gesellschaft, es gibt die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, und es gibt nach wie vor ausgrenzende Strukturen, die viele Menschen benachteiligen. Aber es gibt auch Gegentendenzen. So ist Armut mittlerweile ein Thema, das in der offiziellen Politik angekommen ist, wie die jüngste Debatte über die Essener Tafel zeigt. Das bedeutet, das Problem Armut kann von neuem angegangen und auch für den Bürgerhaushalt kritisch erschlossen werden. Aus anderen Teilen der Welt (vor allem dem globalen Süden) wissen wir, dass Bürgerhaushalte in erster Linie zur Verbesserung der Lebensbedingungen armer und benachteiligter Menschen ins Leben gerufen wurden. Es spricht nichts dagegen, dass dies – gewiss unter den Vorzeichen einer im Ganzen wohlhabenden Gesellschaft – auch hierzulande gelingen könnte. Wenn Bürgerhaushaltsverfahren dazu führen würden, dass sich die Lebenswelt von benachteiligten Menschen ganz konkret verbessern lässt (durch gepflegte öffentliche Parks, sanierte Verkehrswege, besser ausgestattete Schulen, Sportplätze und Jugendclubs), ließe sich besser vor Augen führen, dass es für die Einzelnen einen Unterschied macht, ob sie sich beteiligen oder nicht.