Beim Bürgerhaushalt (PB) entscheiden die Bewohner*innen und nicht ihre politischen Vertreter*innen, wie öffentliche Gelder ausgegeben werden. In den USA umfasst ein PB-Prozess in der Regel vier Phasen: Ideensammlung, Entwicklung von Projektvorschlägen, öffentliche Abstimmung über die favorisierten Vorschläge und schließlich die Überwachung der Umsetzung. Wenn die Einwohner*innen eine so aktive Rolle bei der Budgetierung übernehmen, verschieben sich dann die Ausgabenprioritäten? Priorisieren Bewohner*innen andere Investitionen als Politiker*innen? Und könnte das zu sozial gerechteren Ausgaben führen? In unserer jüngsten Studie haben wir diese Möglichkeiten für den Bürgerhaushaltsprozess der Stadt New York (NYC) untersucht.
Im Finanzjahr 2013 begannen nur vier der 51 Ratsdistrikte von NYC mit einem PB-Prozess. Innerhalb von sechs Jahren war diese Zahl auf 31 Distrikte angewachsen. Von Anfang an beinhaltete PB in NYC eine Agenda für soziale Gerechtigkeit. Gemeindebasierte Organisationen hatten die Ratsmitglieder davon überzeugt, PB umzusetzen. Jedes Jahr legt ein stadtweiter Lenkungsausschuss die Ziele der sozialen Gerechtigkeit im PB-Regelwerk fest. Wählerumfragen deuten darauf hin, dass PB in NYC eine große Zahl junger Menschen, Menschen mit niedrigem Einkommen, People of Colour und Menschen, die nicht Teil einer Gemeindeorganisation sind, einbezogen hat (Kasdan & Markman, 2015). In Distrikten, die von Anfang an mit mehr gemeindebasierten Organisationen zusammenarbeiten, beteiligen sich auch demographisch vielfältigere Einwohner*innen an der Abstimmung (Hagelskamp et al., 2016).
Zwei Dinge sind für das Verständnis von PB in NYC besonders wichtig. Erstens ist PB in der Regel auf die diskretionären Kapitalbudgets der Ratsmitglieder beschränkt. Jedes Ratsmitglied erhält fünf Millionen Dollar pro Jahr für diskretionäre Kapitalinvestitionen in seinem Distrikt. Ratsmitglieder, die sich an PB beteiligen, stellen zwischen 20% und 50% dieses Budgets für den PB-Prozess zur Verfügung. Zweitens schließt der PB-Prozess mit einer Abstimmung ab, bevor die Ratsmitglieder formell darüber entscheiden, wie die restlichen Kapitalmittel ausgegeben werden sollen. PB-Projektvorschläge und das Ergebnis der öffentlichen Abstimmung können somit die Entscheidungen der Ratsmitglieder darüber beeinflussen, wie die nicht durch den PB-Prozess zugewiesenen Mittel zu investieren sind.
Die Ausgabeprioritäten haben sich verschoben
Wir nutzten öffentlich zugänglichen Daten der Stadtverwaltung von New York, um die Ausgaben der Bezirke für diskretionäre Kapitalinvestitionen vor und nach der Einführung von PB und zwischen PB und Nicht-PB-Bezirken zu vergleichen. Unsere Analysen umfassen Daten der Jahre 2009 bis einschließlich 2018. Sie zeigen, dass nach der Verabschiedung von PB durch die Ratsdistrikte im Durchschnitt ein größerer Anteil ihres diskretionären Kapitalbudgets für Schulen, Straßen- und Verkehrsverbesserungen sowie für Investitionen in den Sozialen Wohnungsbau bereitgestellt wurde. Gleichzeitig ging PB mit einem Rückgang der Ausgaben für Parks und Grünflächenprojekte sowie für die Erhaltung und Entwicklung von bezahlbarem Wohnraum einher. Im Durchschnitt gab ein New Yorker Stadtbezirk, nachdem er PB verabschiedete, etwa 300.000 Dollar mehr pro Jahr für Schulen, etwa 250.000 Dollar mehr pro Jahr für Investitionen in Sozialwohnungsbauten und etwa 100.000 Dollar mehr pro Jahr für Straßen- und Verkehrsverbesserungen aus. Gleichzeitig verloren Parks und Grünflächenprojekte durchschnittlich fast 350.000 Dollar pro Jahr und Projekte zur Erhaltung und Entwicklung von bezahlbarem Wohnraum durchschnittlich etwa 200.000 Dollar pro Jahr, nachdem ein New Yorker Stadtbezirk PB verabschiedete (Hagelskamp et al., 2020).
Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass sich die Prioritäten verschieben können, wenn Bewohner*innen direkt an der Budgetierung beteiligt sind.
Sind diese Verschiebungen sozial gerechter?
Sicherlich kommen mehr Investitionen in den Sozialen Wohnungsbau den einkommensschwächsten New Yorker*innen zugute. Mehr Investitionen in öffentliche Schulen kommen Kindern und Lehrer*innen zugute. Die künftige Forschung muss jedoch prüfen, ob PB tatsächlich Gelder dorthin verschiebt, wo der Bedarf am größten ist. In den ersten Jahren von PB in New York City standen zum Beispiel häufig Sicherheitskameras für Sozialwohnungsbauten als Projektvorschläge auf den Wahlzetteln. Während sich einige Bewohner*innen dadurch sicherer fühlen, fühlen sich aber andere überwacht (Su, 2017). Weitere Forschungsarbeiten sollten untersuchen, wie Bewohner*innen von Sozialwohnungen PB-induzierte Investitionen in ihre Gebäude erleben. Außerdem ist mehr Forschung nötig, um beurteilen zu können, in wie weit PB-Mittel Schulen erreichen, die diese am dringendsten benötigen - oder ob diese Mittel vor allem an Schulen fließen, die bereits gut ausgestattet sind.
Reagieren gewählte Amtsträger*innen auf die Forderungen der Bewohner*innen oder üben sie politische Schirmherrschaft aus?
Calabrese et al. analysierten auch die Investitionsausgaben der New Yorker Bezirke vor und nach ihrer Einführung eines PB-Prozesses. Die Autoren stellten fest, dass Ratsmitglieder, wenn sie PB aufnehmen, eine größere Anzahl von Projekten finanzieren, die im Vergleich zu Jahren ohne einen PB-Prozess im Durchschnitt aber einen geringeren finanziellen Umfang haben (Calabrese et al., 2020). Man könnte diese Muster dahingehend interpretieren, dass Politiker*innen stärker auf die Prioritäten der Einwohner*innen eingehen und gleichzeitig auf eine gleichmäßige und faire Verteilung der Gelder achten. Zum Beispiel könnte ein Ratsmitglied erkennen, dass öffentliche Schulen, Straßen- und Verkehrsverbesserungen sowie Projekte für Sozialwohnungsbauten bei den Bewohner*innen beliebt sind und dazu ermutigt werden, weitere Gelder aus ihrem Kapitalbudget in diese Gebiete zu investieren, insbesondere in Schulen, Straßen und Wohnanlagen, die möglicherweise keine direkten Mittel durch PB erhalten haben.
Calabrese et al. argumentieren jedoch, dass ihr Befund die politische Patronage-Hypothese stützt, die besagt, dass Politiker*innen durch die einfache Verteilung des Geldes auf mehr Projekte innerhalb einer sehr begrenzten Anzahl von Investitionsmöglichkeiten vor allem mehr Interessengruppen ansprechen, sich die Investitionen insgesamt aber nicht wirksam verändern. Tatsächlich stellten Calabrese et al. keine signifikanten Verschiebungen der Ausgabenprioritäten fest und kommen zu dem Schluss, dass PB in NYC ein Politikinstrument ohne funktionale Allokationswirkung darstellt. [Hier gelangen Sie direkt
Die Ergebnisse unserer Studie stellt die Schlussfolgerung von Calabrese et al. in Frage. Wir fügten unserer Analyse ein zusätzliches Jahr mit PB-Daten hinzu (und analysierten PB-Budgets aus den Finanzjahren 2013 bis 2018), und wir untersuchten die verschiedenen Politik- (oder funktionalen) Bereiche, die von Kapitalbudgets profitieren, vergleichsweise genauer.
Um zu veranschaulichen, wie zwei Studien, die beide angemessene und ausgefeilte analytische Techniken anwenden, zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen in einer zentralen Forschungsfrage kommen, wollen wir betrachten, wie jede Studie mögliche funktionale Verschiebungen bei den Wohnungsbauinvestitionen untersucht hat. Unser Beitrag analysiert die Investitionen in das, was in den Daten der Stadtverwaltung von NYC als "public housing" bezeichnet wird, d.h. Wohnungen für die einkommensschwächsten New Yorker*innen, getrennt von den Investitionen in der Kategorie "housing preservation and development", die den Bau und die Instandhaltung von bezahlbarem Wohnraum für Bewohner*innen mit mittlerem bis niedrigem Einkommen betrifft. Unsere Analyse stellt die Frage, wie viel vom diskretionären Budget eines Ratsmitgliedes in die Verbesserung dieser beiden Wohnformen durch kleine zusätzliche Investitionen fließt.
Es ist wichtig, diese Art von Wohnungsbauinvestitionen getrennt zu analysieren, da ihre Nutznießer*innen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sind. Darüber hinaus fließen diese Gelder an zwei verschiedene Verwaltungsbehörden und sind in den Haushaltsdaten der Stadt als solche gekennzeichnet. Um die Patronage-Hypothese zu testen, wäre es wichtig, zwischen diesen beiden Behörden und ihrer unterschiedlichen organisatorischen Dynamik zu unterscheiden. Außerdem versucht PB in NYC von Anfang an, die am stärksten marginalisierten Gemeindemitglieder miteinzubeziehen. Angesichts der Tatsache, dass sich der Outreach-Prozess speziell an die Bewohner*innen von Sozialwohnungen richtet, würde man verstärkte Investitionen in und um diese Gebäudekomplexe erwarten. Außerdem sind Sozialwohnungsbauten in den Stadtvierteln von NYC sehr sichtbar und bekannt dafür, dass sie unter Infrastrukturproblemen leiden. Daher könnte man erwarten, dass ein PB-Prozess, der eine Agenda für soziale Gerechtigkeit betont, das Bewusstsein für die Bedürfnisse im Sozialen Wohnungsbau schärft und so auch die Einwohner*innen der Mittelschicht ermutigt, ebenfalls für diese Projekte zu stimmen.
Politische Schirmherrschaft kann sich zwar durchaus auf Budgetentscheidungen im Allgemeinen auswirken, aber sie liefert - angesichts der Daten - keine plausible, singuläre Erklärung dafür, wie die Ratsmitglieder von NYC PB eingesetzt haben. Vielmehr beschrieben gewählte Amtsträger*innen in vertraulichen Interviews eine Reihe von Motiven, wenn sie nach einem PB-Prozess weitere Haushaltsentscheidungen treffen (Hagelskamp et al., 2016). Einige sprachen davon, dass sie inspiriert wurden, zusätzliche Projekte, die sie auf dem PB-Wahlzettel sahen, zu finanzieren und mehr in populäre Politikbereiche zu investieren. Andere versuchten, ein Gegengewicht zu den aus PB hervorgegangenen Budgetierungsprioritäten zu schaffen. Einige sagten, PB habe zu einzigartigen Investitionen geführt, andere meinten, der Prozess habe wenig neue Ideen hervorgebracht.
Wie geht es weiter?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass PB in NYC in den ersten sechs Jahren seines Bestehens mit Investitionen in kleinere und zahlreichere Projekte und mit bedeutenden Verschiebungen bei der Frage, welche Arten von öffentlichen Interessen und Bedürfnissen finanziert werden, in Verbindung gebracht wurde. Wir kommen zu dem Schluss, dass sich die Prioritäten verschieben, wenn die Bewohner*innen mitbestimmen können, wie öffentliche Gelder ausgegeben werden. Die Prozesse, durch die sich diese Verschiebungen vollziehen, wie kreativ oder innovativ diese Verschiebungen sind und ob sie tatsächlich den größten Bedarf in der Gemeinde decken und den bedürftigsten Bewohnern*innen zugutekommen, sind Gegenstand unserer zukünftigen Untersuchungen.
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