Hintergrund: Bürgermeister des Landkreises Erzgebirge sind skeptisch gegenüber der Einführung von Bürgerhaushalten
In Freiberg haben die Bürgerinnen und Bürger seit vergangener Woche die Möglichkeit ihre Meinung und Präferenzen zum mittelfristigen Investitionsprogramm zu äußern (buergerhaushalt.org berichtete). Die Lokalzeitung Freie Presse hat sich bei Kommunen im Erzgebirgskreis erkundigt, ob diese sich das Modell eines Bürgerhaushaltes für ihre Kommune vorstellen können. Die Bürgermeister von Stollberg, Oelsnitz und Thalheim, so berichtet die Zeitung Freie Presse, äußern sich ablehnend und skeptisch gegenüber einem Bürgerhaushalt nach dem Modell Freiberg. Zwar sei das Modell in Freiberg „ganz spannend“, so der Thalheimer Bürgermeister Nico Dittmann, aber in der Realisierung schwierig. Auch der Oelsnitzer Bürgermeister Bernd Birkigt sieht in der eigenen Stadt keinen Handlungsbedarf und verweist auf „sehr aktive Stadträte, die Vorschläge einbringen und an deren Umsetzung mitarbeiten“ und auf sich bereits ohne Bürgerhaushalt aktiv beteiligende Bürger. Zudem herrsche "bei investiven Vorhaben großes Vertrauen zu Verwaltung und Rat".
Der Kämmerer von Jahnsdorf Albrecht Spindler hingegen möchte sich zukünftig intensiver mit der Thematik befassen, sieht aber für kleinere Städte wie Jahnsdorf viel größere Schwierigkeiten als für Großstädte. Sie hätten „gegenüber großen Städten, welche dies praktizieren, ein viel geringeres Volumen und damit aufgrund der Pflichtaufgaben kaum echte Spielräume“.
Interview mit Michelle Ruesch
Die Skepsis der Stadträte nahm Jan Oechsner von der Lokalzeitung „Freie Presse“ zum Anlass für ein Gespräch mit Michelle Ruesch von buergerhaushalt.org.Dem Argument der Bürgermeister aus dem Erzgebirge, dass eine engagierte Stadtgesellschaft ein Instrument wie Bürgerhaushalte überflüssig machen würde, entgegnet Ruesch, dass ein Bürgerhaushalt vor allem dazu diene, die nichtorganisierten Bürger zu erreichen. Damit würden auch Meinungen gehört, die sonst möglicherweise nie geäußert werden.
Auf die Frage, ob die knappen kommunalen Kassen nicht zu geringe Spielräume für Wünsche der Bürger zulassen, verweist Ruesch auf die vielfältigen Nutzen die Bürgerhaushalte für eine Stadt haben können. Die Bürger können sich die limitierten Möglichkeiten eines städtischen Haushaltes vor Augen halten und werden in die Lage versetzt, sich zu schwierigen Entscheidungen wie Investitionen und Sparmaßnahmen zu äußern. Die aktive Einbindung in politische Abwägungsprozesse würde sich auch positiv auf eine Identifikation mit der Stadt auswirken.
Nicht zuletzt können Bürgerhaushalte als „offener Kanal zwischen der (nicht-organisierten) Bürgerschaft und Kämmerei bzw. Gemeinderat fungieren“ und damit Transparenz und Verständnis für schwierige politische Entscheidungsprozesse wie Haushaltsfragen schaffen, so Ruesch. Dies bedeute im Umkehrschluss natürlich auch, dass der Stadtrat Entscheidungen nicht mehr hinter verschlossenen Türen und im Alleingang treffen könne.
Auch wenn die Beteiligung am ersten Bürgerhaushalt oftmals höher ist als in den Folgejahren, ist dies für Michelle Ruesch kein überzeugendes Argument gegen die Einführung von Bürgerhaushalten. Laut Ruesch ist es ganz natürlich, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht jedes Jahr eine neue Idee haben. Dennoch kann auch Enttäuschung über den Umgang mit den Ergebnissen zu einem Rückgang der Beteiligung führen. Hier sieht Ruesch die Stadtverwaltung in der Pflicht ausführlich Rechenschaft über den Umgang mit den Ergebnissen abzulegen und den Bürgern zu zeigen, „ob die Politik tatsächlich die Ideen von außen würdigt“.
Auf Dauer müsse der Bürgerhaushalt zur Regelaufgabe der Verwaltung werden, so Ruesch. Während die Einführung von Bürgerhaushalten zunächst beträchtliche Aufwände mit sich zieht, ließen sich diese reduzieren, sobald geeignete Prozesse und Strukturen für den Bürgerhaushalt geschaffen wurden. Zudem dürfe nicht vergessen werden, dass Bürgerhaushalte als Meinungssensor fungieren und damit auch Kosten sparen können - denn Kommunen, die wissen, was ihren Bürgern wichtig ist, können teure Baustopps von Projekten à la Stuttgart 21 vermeiden. Zumindest wenn sie die aus dem Bürgerhaushalt generierten Stimmugsbilder ernst nehmen.
Das Interview mit dem Titel „Bürgerhaushalte sparen der Kommune auch Geld“ wurde am 22.07.2016 in der Lokalzeitung Freie Presse veröffentlicht.
Weitere Informationen:
Vollständiges Interview mit Michelle Ruesch in der Lokalzeitung Freie Presse
Artikel in Freie Presse
Bürgerbeteiligung in Freiberg
Webseite des Bürgerhaushaltes Freiberg