Als die deutsche Nationalmannschaft am Sonntag, den 13. Juli 2014 in Rio de Janeiro den vierten Weltmeistertitel in ihrer Geschichte errang, erschien am nächsten Montag die nationalkonservative polnische Tageszeitung „Rzeczpospolita“ mit einem besonderen Lob für die Nummer 11 des siegreichen Teams, den aus dem schlesischen Oppeln (poln. Opole) stammenden Miroslav Klose. Die Zeitung bezeichnete es „als eine zusätzliche Genugtuung für uns“
Damit setzte sie eine Geschichte fort, die schon 1934 zu einer Art Zeitungskrieg geführt hatte. Zwischen 1934 und 1942 gewann der legendäre Ruhrgebietsklub Schalke 04 sechsmal die deutsche Meisterschaft. Die Mannschaft war dabei gespickt mit Spielern, die polnisch klingende Namen trugen. Am bekanntesten die Nationalspieler Ernst Kuzorra und Fritz Szepan. Als die Gelsenkirchener 1934 vor der Kamera mit Hitlergruß posierten, triumphierte die polnische Sportpresse: „Die deutsche Meisterschaft in den Händen der Polen“
Die Kontrahenten redeten dabei stetig aneinander vorbei. Die Eltern der genannten Schalker Spieler stammten nämlich in der Mehrheit aus dem südlichen Ostpreußen, gehörten also per se nicht zu den polnischen Zuwanderern, sondern zum evangelischen, preußentreuen Kreis der Masuren. Die ethnische Gruppe der Masuren, die von Hause aus einen altpolnischen Dialekt sprachen, war ein Amalgam aus Polen, assimilierten Deutschen, Hugenotten, Schotten und Salzburgern
Offensichtlich verwies diese Auseinandersetzung damit auf eine viel ältere, komplexe Geschichte, nämlich auf eine jahrhundertealte deutsch-polnische Nachbarschaft, die voller Konflikte und Reibungsflächen war und auch im Fußballsport ihre Spuren hinterlassen hat und die bis heute Fußballgeschichte schreibt
Es begann schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Zuwanderung polnisch-sprachiger Menschen aus den agrarischen Ostprovinzen des Deutschen Reiches, aus den Provinzen Posen, Westpreußen, Ostpreußen, aber auch aus dem bereits industrialisierten Teilen Schlesiens in die rasant wachsenden Industriezentren, besonders ins Ruhrgebiet.
Die in der Mehrheit jungen und männlichen Migranten arbeiteten in den großen Zechen des Reviers, von denen 19 bald im Volksmund „Polenzechen“
Im Gegensatz zu einer lange tradierten sozialromantischen Legende, war der Fußball damals kein Arbeitersport, sondern ein Feld, in dem Angestellte und bürgerliche Berufe dominierten
Für die Verbliebenen war die Assimilation, im Grunde also die Germanisierung, eine probate rationale Wahl für die Zukunft und die Karriere im Fußball, als Weg aus dem „Pütt“ oder heraus aus einer anderen körperlich schweren und gesundheitsschädlichen Arbeit, eine Option, die bekanntlich bis heute für Zuwanderer attraktiv bleibt.
Polnische und masurische Migranten im Fußball des Reviers: Die zweite Generation
Nach dem 1:0-Sieg gegen den Dresdner SC im Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft am 21.07.1940 im Berliner Olympiastadion gehen die Schalker Spieler (l-r) Fritz Szepan (mit einer Flasche Bier), Herbert Burdenski, Ernst Kuzorra (mit dem Meisterkranz) und Heinz Hinz über den Platz. Fotograf: Schirner Sportfoto, @ picture-alliance/ ASA
Nach dem 1:0-Sieg gegen den Dresdner SC im Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft am 21.07.1940 im Berliner Olympiastadion gehen die Schalker Spieler (l-r) Fritz Szepan (mit einer Flasche Bier), Herbert Burdenski, Ernst Kuzorra (mit dem Meisterkranz) und Heinz Hinz über den Platz. Fotograf: Schirner Sportfoto, @ picture-alliance/ ASA
Viele Migranten hatten an der Front des Ersten Weltkriegs gedient und den Fußballsport als Militärsport kennen gelernt
Andere Vereine, die zu den klassischen Klubs des Ruhrgebiets zählen, wie die Spielvereinigung Herten oder Hamborn 07, erlebten jetzt als Vereine aus den Zechenkolonien ihren Aufstieg. Polnische bzw. masurische Namen – das lässt sich in dieser Zeit nicht mehr glaubwürdig trennen – sind gang und gäbe in den Vereinen des Reviers. In der Gauligasaison 1937/38 spielten 15 Vereine aus dem Ruhrgebiet um die Gaumeisterschaft, dabei setzte jeder Verein mindestens einmal einen Spieler mit polnischer Namenswurzel (Rodzinski, Pawlowski, Sobczak. Lukasiewicz, Tomaszik, Piontek) ein, während der Gesamtsaison werden 68 Spieler dieser Kategorie erwähnt.
Die Schalker Spieler Ernst Kuzorra, Fritz Szepan, Adolf Urban und Rudolf Gellesch, sowie der Düsseldorfer Stanislaus Kobierski, die Hamborner Paul Zielinski und Josef Rodzinski gehörten regelmäßig zum Kader der deutschen Nationalmannschaft. Spieler mit polnischer oder masurischer Familienbiographie bürgten so ausgerechnet in der Zeit des Dritten Reiches für die Spielstärke des Ruhrgebietsfußballs, besonders Schalkes, aber auch der deutschen Nationalmannschaft. Die nationalsozialistische „Volkstumsforschung“ löste dieses Dilemma dadurch, dass ihre Vertreter im Revier nur noch Masuren sichteten und diese für „ihrer Kultur und Denkungsart nach rein deutsch“ erklärten
„Der Größte aller Torjäger“ – Ernst Willimowski
Willimowski (9. v. links) spielt 1934 für die polnische Nationalmannschaft in Belgrad gegen Jugoslawien. @ Narodowe Archiwum Cyfrowe Warschau.
Willimowski (9. v. links) spielt 1934 für die polnische Nationalmannschaft in Belgrad gegen Jugoslawien. @ Narodowe Archiwum Cyfrowe Warschau.
In der Person des Schlesiers Ernst Willimowski
Willimowski im Dress der deutschen Nationalmannschaft. @ Deutsche-Sport-Illustrierte 42/1942.
Willimowski im Dress der deutschen Nationalmannschaft. @ Deutsche-Sport-Illustrierte 42/1942.
Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen und der Okkupation Schlesiens wurde das Bekenntnis zu Deutschland im Grenzland auch für Willimowski zur Überlebensstrategie. Der Fußballer trug sich in die Volksliste
Der Schlesier schoss während seiner Karriere in der deutschen Nationalmannschaft in acht Spielen 13 Tore. Sein Torquotient ist damit besser als der von Gerd Müller. Nach dem Krieg war er zu alt für Herbergers Mannschaft. Nach Polen konnte er aus politischen Gründen nicht zurückkehren. Im Grunde jedoch stellt der in Karlsruhe beerdigte Schlesier bis heute eine Brücke zwischen Deutschland und Polen dar. Nicht von ungefähr schätzte der unpolitische „Nur-Sportler“ einen deutschen Politiker ganz besonders: Willy Brandt, weil dieser für die Aussöhnung mit Polen arbeitete
Nachkrieg: Die dritte Generation
Der Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten wirkte, auch was die Fußballgeschichte angeht, wie eine Wasserscheide für das kollektive Gedächtnis der Deutschen. Phillip Ther hat darauf hingewiesen, dass die Historiker, die nach 1945 forschten, in ihrem Vorverständnis “bereits von der ethnisch und kulturell homogenisierten Bundesrepublik geprägt“ waren
Torwart Hans Tilkowski von Borussia Dortmund im Jahr 1966. @ picture-alliance / dpa
Torwart Hans Tilkowski von Borussia Dortmund im Jahr 1966. @ picture-alliance / dpa
Die Erinnerung an polnisch-gebürtige Spieler in der Nationalmannschaft und im Vereinsfußball wurde verdrängt oder zur Ruhrgebietsfolklore idyllisiert, für die die konfliktreiche ruhrpolnische Geschichte jetzt zum harmonischen Bestandteil des „Malocher“-Erbes wurde. Dabei war die Vergangenheit in ihren Namen und in ihrer Herkunft präsent: Da waren Spieler wie Hans Tilkowski, der Torwart der deutschen Nationalmannschaft in den sechziger Jahren, als „Mann im Wembley-Tor“ seit 1966 eine deutsche Fußball-Legende
Hans Tilkowski war der Sohn eines Bergmanns aus Dortmund, wuchs in einer Zechenkolonie auf und begann seine Karriere als Torwart bei Westfalia Herne. Die Höhepunkte seiner Laufbahn erlebte er bei Borussia Dortmund und dann als Vizeweltmeister im Tor der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in England 1966.
Dem tragischen, früh verstorbenen Star des Ruhrgebietsfußballs Reinhard „Stan“ Libuda (1943-1996), der für Schalke, Dortmund und die Nationalmannschaft auflief, war noch die Ähnlichkeit seiner Laufbahn und seiner Herkunft mit dem Leben des großen französischen Nationalspielers Raymond Kopa(szewski) aus dem polnischen Bergarbeitermilieu in Frankreich bewusst
Reinhard "Stan" LIBUDA (r.), FC Schalke 04, gegen Paul BREITNER, FC Bayern Muenchen,1972. @ picture-alliance / Sven Simon
Reinhard "Stan" LIBUDA (r.), FC Schalke 04, gegen Paul BREITNER, FC Bayern Muenchen,1972. @ picture-alliance / Sven Simon
Zahlreiche andere Spieler in der deutschen Fußballgeschichte ließen in ihren Namen die Geschichte der masurischen und polnischen Migration anklingen
Der professionelle Fußball: Aussiedler und „Legionäre“
Die überfällige Einführung des Profifußballs in Deutschland zwischen 1963 und 1972
In den 80er Jahren folgten Spieler wie Andrzej Buncol
Miroslav Klose und Piotr Trochowski feiern das 2:0 der deutschen Nationalmannschaft gegen Aserbaidschan (2009). @ picture-alliance/ dpa
Miroslav Klose und Piotr Trochowski feiern das 2:0 der deutschen Nationalmannschaft gegen Aserbaidschan (2009). @ picture-alliance/ dpa
Gleichzeitig verstärkte sich seit den 80er Jahren eine Wanderung aus politisch bedingter Migration und von Aussiedlern. Zu ersteren gehörten die Eltern des späteren Nationalspielers Piotr Trochowski. Seine Familie war Ende der 80er Jahre zugewandert und der Junge sollte als zehnjähriger Schüler bald aus Hamburg abgeschoben werden. Dem konsequenten Einsatz eines Anwalts und den Protesten von Mitschülern und Lehrern verdankte die Familie Trochowski, dass ihre Existenz in Deutschland erhalten blieb. Piotr nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an und optierte für das deutsche Team
Anders erlebte Miroslav Klose die Bundesrepublik. Seine Eltern blieben 1985 nach einem Urlaub in Deutschland. Der Vater hatte als Profi in Frankreich gespielt und der polnische Bundesligaprofi Stefan Majewski nahm den jungen Miroslav Klose unter seine Fittiche
28.09.2013, BVB Borussia Dortmund - SC Freiburg, Robert Lewandowski jubelt nach seinem Tor. @ picture alliance / augenklick/firo Sportphoto.
28.09.2013, BVB Borussia Dortmund - SC Freiburg, Robert Lewandowski jubelt nach seinem Tor. @ picture alliance / augenklick/firo Sportphoto.
Seit dem Völkerfrühling 1989/90 ist die Nähe zwischen dem deutschen und dem polnischen Fußball noch größer geworden. Das polnische Trio aus Nationalspielern bei Borussia Dortmund, Lewandowski, Piszczek und Błaszcykowski wurde in Polen wohlwollend „Polonia Dortmund“ genannt und die drei entwickelten sich zu begehrten Werbeträgern für deutsche Marken auf dem polnischen Markt
Bei der Europameisterschaft 2012 standen sieben Bundesligaprofis im polnischen Kader
Fazit
Die bedeutende Rolle polnischer Spieler für den deutschen Elitefußball begründet sich historisch aus der engen, im Grenzland Schlesien lange Zeit unauflöslichen Nachbarschaft. Während der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland stellte ein Journalist eine „Nationalmannschaft“ auf, die aus Spielern bestand, die in Polen geboren wurden und damals bereits einen deutschen Pass besaßen
Über mehr als einhundert Jahre waren es zuerst Wanderungen von Arbeitsmigranten aus eben diesen Provinzen in die sich schneller modernisierenden Zentren des Deutschen Reiches, dann ihre Nachkommen, dann Flüchtlinge und Aussiedler, schließlich die Sportmigranten der Postmoderne, kosmopolitische Profis auf einem globalisierten Spielermarkt, die dem Ruf des Balls nach Deutschland folgten und großen Anteil an der Spielstärke der Vereine und der Nationalmannschaft in Deutschland hatten und weiter haben.
Willimowski erzielt 1942 ein Tor für München 1860 gegen Schalke 04. @ Narodowe Archiwum Cyfrowe Warschau.
Willimowski erzielt 1942 ein Tor für München 1860 gegen Schalke 04. @ Narodowe Archiwum Cyfrowe Warschau.
Erst mit der Europameisterschaft 2012 in Polen und in der Ukraine rückten diese engen Verknüpfungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Fußball in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit. Im Jahr 2016 jährt sich der Geburtstag Ernst Willimowskis zum einhundertsten Mal. In Polen ist ein Spielfilm über den schlesischen Star mit seiner abenteuerlichen deutsch-polnischen Fußball-Biographie in Vorbereitung. In Deutschland wird an einer wissenschaftlichen Publikation zum Lebenslauf des großen Athleten gearbeitet.
Das Spiel geht weiter, auch auf dem Platz, wo sich die Elite der Spieler in der Qualifikation zur Europameisterschaft 2016 gegenübersteht. Nicht nur angesichts von aktuell zwei Millionen Deutschen mit polnischer Familiengeschichte bleibt die Hoffnung, dass der Fußball eine weitere Brücke zwischen den immer noch fremden Nachbarn Deutschland und Polen bildet.