Der warme 11. Oktobertag des Jahres 2014 bescherte der polnischen Nation mit dem 2:0 Sieg über den frischgebackenen Fußball-Weltmeister Deutschland ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk, das frenetisch gefeiert wurde: "Immer wieder schrie das ganze Stadion "Jesteśmy z wami, Polacy" ("Wir sind mit euch, Polen!") und übertönte den Böhse-Onkelz-Schlager, mit dem die deutschen Fans wie immer ihre Mitmenschen anödeten".
Kontaktfläche Schlesien
Das Grenzland Schlesien war historisch immer umstritten und wurde bis zum Ende des Ersten Weltkriegs größtenteils politisch von Preußen-Deutschland dominiert
Die Teilung Schlesiens zwischen dem neu entstandenen polnischen Staat und dem Deutschen Reich infolge einer Abstimmung und propolnischer Aufstände, ließ in der Region nach dem Ersten Weltkrieg deutsche und polnische Fußball-Vereine entstehen. Auf der polnischen Seite existierten dabei Klubs, die wie der 1. FC Kattowitz als Fußballverein der deutschen Minderheit im jetzt polnischen Oberschlesien galten
Die lange völlig vergessenen 20 Spiele, die zwischen 1924 und 1939 gegen das deutsche Schlesien stattfanden, waren ein Ausdruck für das Bemühen, die nationalpolitische Konfliktlage des 19.Jahrhunderts in moderne, sportliche Wettbewerbe zu tradieren. Von der deutschen Presse wurden sie als "kleine Länderspiele" bezeichnet, die bis zu 10.000 Zuschauer versammelten. Das erste Spiel am 7. Dezember 1924 endete im jetzt polnischen Kattowitz (Katowice) 3:3. Nach dem Machtantritt der Nazis in Deutschland gewannen die Spiele an Brisanz und 1934 im Hindenburg-Stadion in Beuthen sahen veritable 20.000 Zuschauer ein 0:0. Herausragender Akteur im Dress des polnischen Schlesiens war 1935 beim 3:3 im Adolf-Hitler-Stadion in Hindenburg O.S. der 19-jährige polnische Star Ernest Wilimowski, der für den Verein Ruch Chorzów (Bismarckhütte) spielte, mit einem Hattrick. Bemerkenswert waren jetzt die Betonung staatlicher Symbole und eine größere Härte im Spiel, wobei man versuchte, auch nichtschlesische Spieler einzusetzen.
Das letzte Spiel fand am 8. Januar im Krisenjahr 1939 im Hindenburg-Stadion in Beuthen vor nur noch 4.000 Zuschauern statt und wurde von den Polen 5:3 gewonnen
Die Existenz der schlesischen "representacja" war angesichts der Popularität des Fußballs in der Industrieregion ein nicht nur symbolisches Zeichen für die "Persistenz der Region" im Kontext der konkurrierenden Nationalismen. Die Mannschaft stand für etwas Drittes zwischen den antagonistischen Nationalismen
Nebelkerzen über dem Schlachtfeld: Die Länderspiele zwischen Polen und Deutschland im Nationalsozialismus
Das Führungstor im Fußball-Länderspiel Deutschland gegen Polen (4:1) 1938 in Chemnitz sorgt bei den polnischen Spielern für Enttäuschung. (© picture-alliance/dpa)
Das Führungstor im Fußball-Länderspiel Deutschland gegen Polen (4:1) 1938 in Chemnitz sorgt bei den polnischen Spielern für Enttäuschung. (© picture-alliance/dpa)
Noch erstaunlicher als die schlesischen Duelle waren seit 1933 die fünf Länderspiele zwischen Deutschland und Polen, die bis 1938 dreimal in Deutschland (Berlin 1933, Breslau 1935, Chemnitz 1938) und zweimal in Polen (Warschau 1934,1936) stattfanden, vor bis zu 60.000 Zuschauern – in Warschau musste sogar das Stadion von 32.000 Plätze auf 40.000 erweitert werden. Mit vier Siegen und einem Unentschieden war die deutsche Bilanz sportlich deutlich positiv, aber noch bemerkenswerter waren die Fairness auf dem Rasen und die Ausgewogenheit bei der Berichterstattung. Auch bei diesen Spielen fiel auf polnischer Seite der blutjunge Wunderstürmer Ernest Wilimowski aus Oberschlesien auf
Die Länderspiele dienten dabei auf beiden Seiten außenpolitischen Interessen und hatten eine eminente politische Bedeutung. Dies war der Grund für die ungewöhnlich regelmäßige, fast jährliche Begegnung: In der Stabilisierungsphase der Nazi-Herrschaft in Deutschland war das Regime an einer Entspannungspolitik gegenüber Polen interessiert, um ein außenpolitisches Zusammenspiel zwischen Frankreich und Polen in der Phase seiner Aufrüstung und seiner militärischen Schwäche zu vermeiden. Das Ergebnis war der bilaterale Gewaltverzicht, den beide Seiten 1934 auf 10 Jahre abschlossen und der auch der polnischen Seite scheinbare Ruhe zusicherte. Die sportlich einwandfreie Haltung der beteiligten Akteure, Verbände und Medien ist in diesem Lichte zu beurteilen. Dabei mangelte es aber auch hier nicht an deutschem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem so spät zur eigenen modernen Staatlichkeit gekommenen Nachbarn:
Im Jahre 1935 trug man zwei Länderspiele gleichzeitig aus, und zwar gegen Polen (1:0) und gegen Estland (5:0), schickte also zwei Mannschaften auf den Platz
Bereits Ende Mai 1939, im Vorfeld des heraufziehenden Krieges, verbot der Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten den Start deutscher Sportler in Polen. Über Polen senkte sich die Nacht der Okkupation mit einem Sportverbot für polnische Menschen im sogenannten Generalgouvernemt, dem vom Reich besetzten Gebiet und organisiertem Terror gegen die Bevölkerung. Den Verfolgungen fielen auch polnische Fußballnationalspieler zum Opfer. In Auschwitz starben neben 40 Spielern der polnischen Liga, die Nationalspieler Antoni Łyko, Gustaw Bator und Adam Knioła. Im Widerstand starben die Nationalspieler Stefan Fryc, Bronisław Makowski und Aleksander Pychowski, der Letztere wählte den Freitod, um nicht in die Hände der SS zu fallen
Fußballer als Botschafter im Kalten Krieg
Der polnische Torhüter Jan Tomaszewski (M) gratuliert bei Spielende im strömenden Regen dem deutschen Siegtorschützen Gerd Müller (r). (© picture-alliance/dpa)
Der polnische Torhüter Jan Tomaszewski (M) gratuliert bei Spielende im strömenden Regen dem deutschen Siegtorschützen Gerd Müller (r). (© picture-alliance/dpa)
Der Vernichtungspolitik von Nazi-Deutschland gegenüber Polen fielen nicht nur das Leben von vielen Menschen zum Opfer, sondern dazu große Teile der sportlichen Infrastruktur. Die Beziehungen waren u.a. deshalb auch im Sport nach dem Kriege mehr als frostig und es dauerte 14 Jahre bis sich die Nationalmannschaften 1959 in Hamburg erstmalig wieder zu einem 1:1 trafen.
Zu einem Durchbruch in eine neue Ära kam es erst mit den Weltmeisterschaften 1974 in Deutschland, die politisch von einer neuen Ostpolitik im Zusammenhang der sozialliberalen Koaltion in Bonn und der Wiederannäherung an Polen flankiert wurde. Bereits der Olympiasieg der polnischen Fußballnationalmannschaft bei den Olympischen Spielen in München hatte angekündigt, dass sich aus dem "underdog" des europäischen Fußballs Polen ein veritabler Konkurrent um internationale Titel entwickelte. Eine Nobilitierung zum ernst zu nehmenden Gegner erfuhr die "kadra" dann durch das Unentschieden der polnischen Elf in Wembley gegen England, das die Qualifikation des Außenseiters für die Weltmeisterschaft in Deutschland 1974 bedeutete und die Dekade des Dreamteams einläutete, das bis 1982 große Erfolge nicht nur für den polnischen Fußball, sondern für die ganze Nation einfuhr
In der Wasserschlacht von Frankfurt 1974 trafen dann beide Mannschaften zur ersten wichtigen Begegnung nach dem Krieg zusammen und begründeten einen gemeinsamen deutsch-polnischen Erinnerungsort im Fußball samt Mythen und Verschwörungstheorien
Die "Ostpolitik", konkretisiert im Warschauer Vertrag von 1970, trug Früchte. Trotzdem blieb das Echo in Polen zwiespältig, und die Stimmung zwischen Polen und Deutschen im Kalten Krieg, der auch den Sportverkehr dominierte, brachte der Sportreporter Stefan Szczepłek retrospektiv auf den Begriff: "Wir fuhren in das Land des Feindes und entgegen all dem, was uns zuvor gesagt worden war, sahen wir auf der Straße keine Kreuzritter, und niemand sagte uns, 'Raus'. Dennoch war eine Sphäre gegenseitiger Verdächtigungen spürbar. Wir fühlten uns als Menschen zweiter Klasse aus dem Osten, als die kleinen Polacken, die zufällig den Krieg gewonnen haben. Und nur dank Kazimierz Górski (der polnische Trainer, D.B.) und seiner Spieler wussten wir, dass wir nicht zweitklassig waren"
Die Geschichte ist nicht tot: Deutsche Kreuzritter, tapfere Polen und der Jahrhundertmythos von Tannenberg
Benedikt Höwedes im Zweikampf gegen Kamil Grosicki bei der EM 2016, Deutschland - Polen. (© picture-alliance, augenklick/firo Sportphoto)
Benedikt Höwedes im Zweikampf gegen Kamil Grosicki bei der EM 2016, Deutschland - Polen. (© picture-alliance, augenklick/firo Sportphoto)
Die beiden Zivilreligionen Sport und Nationalismus spielen sich die Bälle einander zu und die konfliktreiche deutsch-polnische Beziehungsgeschichte lieferte auch nach dem Ende des Kalten Krieges eine Menge an Gelegenheiten und Symbolen für diese Art der auf Konflikt gestellten Kommunikation. Während der Fußball-Europameisterschaften 2008 in Österreich und in der Schweiz kam es im Zusammenhang des Spieles zwischen Polen und Deutschland im österreichischen Klagenfurt am 8. Juni 2008 zu einer grotesken deutsch-polnischen Presseauseinandersetzung. Die polnische Boulevardzeitung "Fakt" titelte "Leo powtórz Grunwald"
Der Fußball als die große Emotionsmaschine kann sich offensichtlich ohne Mühe aus einem Reservoir historischer Symbole bedienen, um nationalistische Diskurse rund um die Events des Massensports zu initiieren. Beim Dorfe Grunwald besiegte bekanntlich 1410 das polnisch-litauische Ritterheer die Phalanx der deutschen Ordensritter. Die Deutschen nennen dieses Ereignis die Schlacht bei Tannenberg. Für Polen blieb der Sieg bei Grunwald ein singuläres Ereignis in den jahrhundertelangen kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem schneller und effektiver modernisierenden Nachbarn im Westen
Die Frage, ob der Sieg der "kadra" in Warschau 2014 ein genauso einzelnes Ereignis bleiben würde, stellte sich wieder während der Europameisterschaften der Fußballer in Frankreich am 16. Juni 2016 in St. Denis, als polnische und deutsche Fußballer erneut aufeinandertrafen. Im 21. Spiel der beiden Mannschaften trennten sie sich 0:0. Ein Spiel für die Statistik, nicht für die Geschichte oder die Mythenbildung. Polen kletterte nach dem Turnier in Frankreich auf den 16. Platz des FIFA-Rankings, 12 Plätze hinter dem Viertplatzierten Deutschland.