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Vom Proletensport zum Kulturgut

Gunter Gebauer

/ 16 Minuten zu lesen

Es dauerte lange, bis Fußball von den Eliten akzeptiert wurde. Früher galt das Rasenspiel als schmuddelig. Im nationalen Symbolhaushalt füllt Fußball heute eine Stelle aus, die sonst leer bleiben würde. Doch was hat ein Erfolg im Fußball mit nationalen Tugenden und Identität zu tun?*

Altbundestrainer Sepp Herberger inmitten von Erinnerungsstücken in seinem Haus in Hohensachsen. (© imago/Kicker)

Ob man den Fußball liebt oder ihn für völlig überschätzt hält – er ist aufs Engste mit der Geschichte der Bundesrepublik verbunden. Viele markante Entwicklungen, die unser Land und seine Wahrnehmung prägen, können wir in der Geschichte des Fußballs in Deutschland wie in einem Buch lesen. Was wir darin finden, ist keine reine Spiegelung der Nachkriegszeit bis heute; es ist vielmehr eine Erzählung, die manches übertreibt und verzerrt: Alle wichtigen Ereignisse dieser Zeit werden hier ausgehend vom Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 auf eine je eigene Weise geschildert; und umgekehrt prägen die großen Ereignisse des Fußballs das nationale Gedächtnis. Wie ist es möglich, dass der Fußball in Deutschland zur nationalen Repräsentation gehört wie in England die Queen und in Österreich die Wiener Oper? Gewiss hinkt dieser Vergleich: Fußball ist weder eine Institution der politischen Geschichte noch eine der hohen Kultur; er füllt jedoch im nationalen Symbolhaushalt eine Stelle aus, die sonst leer bleiben würde.

Niemand hätte sich 1954 träumen lassen, dass Fußball einmal derart in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen würde. Was in Deutschland heute von der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird, sind weniger Fragen der großen Politik, es geht vielmehr um die Leistungen deutscher Clubs in der Champions League und die Aussichten der Nationalmannschaft bei der EM oder WM. Dies sind offenbar die bewegenden Fragen der Zeit, egal ob man mit Taxifahrern, Wissenschaftlern, Kulturschaffenden oder politischen Redakteuren spricht. Wir leben in Zeiten der europäischen Finanzkrise; die Staaten in Südeuropa leiden unter der von der EU verordneten Sparpolitik, die Jugendarbeitslosigkeit in jenen Ländern nimmt ein angsterregendes Ausmaß an; in Griechenland wird Angela Merkel gar mit Hitler verglichen. Wir können das nicht verstehen – niemand in Deutschland denkt an Krieg, Aggression oder auch nur an Herrschaft über Europa – wir denken an Brasilien, wir wollen das Spanien- und Italien-Trauma überwinden (jene Mannschaften, an denen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zuletzt immer scheiterte).

Deutsche wollen schon lange, dass nicht Deutschland gefürchtet wird, sondern die deutsche Nationalmannschaft. Seitdem immer mehr Spieler nicht-deutscher Herkunft aufgespürt, aktiv gefördert und in "unsere" Mannschaft aufgenommen worden sind, ist der deutsche Fußball deutlich größer als das deutsche Volk. Von dem Wunsch nach fußballerischer Größe werden alle geheimen inneren Zäune gegenüber eingewanderten Türken, Polen, Deutschen mit afrikanischen oder spanischen Vätern weggekickt. Im deutschen Fußball hat man nachgeahmt, was die Holländer (mit Ajax Amsterdam) in den 1980er und das französische Sportsystem in den 1990er Jahren mit Erfolg vorgemacht haben: die Integration ihrer fußballerisch begabten Einwandererkinder.

Wird im Fußball geheilt, was sonst in der Bundesrepublik als problematisch, ja als gefährlich angesehen wird? Auf den ersten Blick sieht dies fragwürdig aus. Oft genug erscheinen Fußballarenen wie große Kessel, in denen das völkische Gift brodelt; Ausländerfeindlichkeit und Rassismus scheinen zum Fußball zu gehören. Immer aber richtet sich diese Tendenz gegen Spieler der gegnerischen Mannschaft – im eigenen Team werden sie als "Leistungsträger" ausgesprochen gern akzeptiert, und dies sogar in Regionen, die in dieser Hinsicht als schwierig gelten (Energie Cottbus war 2001 der erste Bundesligaverein, der mit elf Ausländern in der Startformation auflief). Allen bösen Auguren zum Trotz ist die Integration – jedenfalls im Spitzenfußball – bisher gelungen und hat das Niveau des deutschen Nationalsports beträchtlich angehoben.

Deutsche Fans schwenken auf der Berliner Fanmeile 2006 ihre Landesfahnen. Auf der Großleinwand Bundestrainer Jürgen Klinsmann. (© imago/Seeliger)

Seit der WM 2006 im eigenen Land hat sich Fußball als Stimmungsaufheller etabliert und ein Wir-Gefühl ermöglicht, das selbst kritische Intellektuelle für einen akzeptablen "Patriotismus" halten. Noch kurz vor Beginn der WM beobachtete "Der Spiegel" nach einer 1:4-Testspielniederlage gegen Italien eine allgemeine Niedergeschlagenheit in Deutschland; drei Monate später begann das "Sommermärchen", und auch die Kanzlerin entdeckte ihre Liebe zum Fußball. Als sie auf der Ehrentribüne vor Freude in die Hände klatschte, schien alles vergessen. In einem politischen Klima immer schlechter werdender Luft bersten die Fußballarenen an jedem Wochenende vor begeisterten Zuschauern. Es wird richtig schöner Fußball gespielt, die Nationalmannschaft zaubert inzwischen wie Brasilien und kombiniert wie Holland, aus dem Nachwuchs kommen reihenweise neue Talente. War Fußball nicht immer das Trostpflaster auf der Seele der Nation, jedenfalls seit dem Gewinn der Fußball-WM 1954? Das ist die heutige Sicht – allerdings stimmt sie nicht ganz. Der Fußball hatte einen langen Weg zurückzulegen, bis er zu einem Eckstein wurde, in den wichtige Daten der Nationalgeschichte eingelassen sind.

1954 als Ende und Anfang

Das "Wunder von Bern" führte das Bild eines gewandelten deutschen Staats vor Augen, der Altes und Neues miteinander verschmolzen und selbst zugeschriebene nationale Eigenschaften, die durch die Nazizeit kompromittiert waren, in die neuen Tugenden des Wiederaufbaus umgeformt hatte.

Kicker-Ausgabe vom 05.07.1954 zum Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft in Bern. (© imago/teutopress)

Im Berner Endspiel kamen die Sporttradition des "Dritten Reichs" und dessen Männlichkeitsideale zu einem finalen Höhepunkt, jetzt aber nicht mehr als Merkmale von Soldaten, sondern als höchst erfolgreiche Eigenschaften deutscher Arbeiter und Angestellter, die den Aufbau eines antimilitaristischen Landes repräsentierten. Im Mythos von 1954 ist der Held die Mannschaft. Sie war eine Gemeinschaft, die das provinzielle Deutschland verkörperte und sich unter ihrem "Chef", dem Bundestrainer Sepp Herberger, aufopferte. Die Heldenfigur dieser Mannschaft beeinflusst bis heute die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Leistungen aller deutschen Nationalteams.

Die durch Niederlage und Kriegsschuld erlittenen Verletzungen werden gelindert

Ihre Tugenden und ihre Beschreibung ("Opfer", "Helden", "Kampf") waren noch aus alten Zeiten vertraut. Es war das Alte, aber auch schon etwas Neues: An der Stelle der alten Anführer sah man jetzt die niedrigen Ränge, den "kleinen Mann" in der Rolle des Helden. Bis dahin hatte es keine symbolische Repräsentation jener Kräfte gegeben, die den Wiederaufbau zustande brachten; anders als in Frankreich gab es in Deutschland keine Romantik des Volkes. Mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft wurde eine Bühne geschaffen, auf der die Kraft und die Leistung der "kleinen Leute" pathetisch dargestellt wurde, mit höchster Glaubwürdigkeit und breiter Wirkung. Jeder in Deutschland begriff, dass der Erfolg dieser Fußballmannschaft die durch die Niederlage und deutsche Kriegsschuld erlittenen und selbst zugefügten Verletzungen symbolisch linderte. In dieser Perspektive erhält der Weltmeistertitel von 1954 einen anderen Sinn als jenen, den man ihm gewöhnlich zuschreibt: Er ist das Ende des Krieges – insofern als die Verlierer in ihrer symbolischen Repräsentation wieder ein Gesicht bekamen.

Mit dem unerwarteten Titelgewinn wurde den Deutschen etwas gegeben, worauf sie wieder stolz sein konnten. In den Augen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten zählte der WM-Sieg jedoch wenig – ihnen galt das Rasenspiel eher als eine schmuddelige Angelegenheit. Darin lag aber zugleich die Chance, dass die Nationalmannschaft zuerst für die unteren sozialen Schichten zur nationalen Identitätsbildung beitragen konnte. Im Gedächtnis vieler Deutscher blieb somit der Eindruck verankert, dass Deutschland mit einem Sieg im Fußball die Achtung der Welt gewinnen könne.

Gesellschaftliche und fußballerische Modernisierungen

Die deutsche Nationalmannschaft der BRD 1971 bei einem Ausflug: Herbert Wimmer, Heinz Flohe, Günter Netzer, Wolfgang Overath und Jupp Heynckes (v.li.) blicken in höhere Regionen. (© imago/Sven Simon)

Ein Spiel ist nur dann fähig, ein Land zu repräsentieren, wenn es von allen sozialen Schichten akzeptiert wird. Wenn die dominierenden Schichten es nicht annehmen, gilt es als eine mehr oder weniger primitive Körperpraxis. Zum "offiziellen" Kulturgut wird es erst durch die Akzeptanz der Eliten.

Wesentliche Schritte in diese Richtung fielen in die allgemeine Aufbruchszeit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ab 1969, als junge, außerordentlich erfolgreiche Mannschaften auf den Plan traten. Die grundlegende Modernisierung hatte bereits 1963 mit der Gründung der Bundesliga begonnen, welche den bundesdeutschen Fußball international wettbewerbsfähig machen sollte. Einige Clubs waren sogleich in der Lage, ihre traditionelle Organisation als Sportverein in Unternehmensstrukturen zu überführen. Es waren zunächst die bürgerlichen Vereine wie der 1. FC Köln, der erste Bundesliga-Meister, und seine Nachfolger Werder Bremen und Eintracht Braunschweig, die mit Mannschaften ohne Starallüren den modernsten Fußball in Deutschland spielten. Diese Vereine hatten am besten begriffen, dass das Prinzip des professionellen Fußballs die Transformation eines von der Erinnerung produzierten Werts in einen ökonomischen ist.

Daher ist es auch geschäftlich nicht unvernünftig, wenn vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) ständig die alten Werte beschworen werden; dies ist Teil des Spiels. Es ist allerdings falsch, zu meinen, traditionelle Werte und moderne Geldwirtschaft könnten unabhängig nebeneinander koexistieren. Dadurch, dass die Fähigkeiten der Spieler einen Preis haben, wird nicht notwendig der sportliche Wert des Spiels zerstört, sondern im Gegenteil stimuliert das zirkulierende Kapital sowohl die Athleten als auch die Erinnerung der Liebhaber und treibt diese bei steigenden Preisen auf Hochtouren.

Wertvoll im ökonomischen Sinne ist daran das Außergewöhnliche, das Große, das man im Fußball immer wieder zu sehen wünscht.

Eine Gesellschaft wie die deutsche will in ihrem Lieblingsspiel die Spielweisen, die ihr vertraut sind, wiedererkennen. Sie will die Vorstellungen, die sie sich von ihren Tugenden macht, auf dem Rasen gegen die internationale Konkurrenz aufgeführt sehen. Von einer deutschen Nationalmannschaft werden Disziplin, Fleiß, mannschaftsdienliches Spiel, "männliche" Härte und Kampf erwartet – sowie der Wille, nie aufzugeben. An der Beharrlichkeit dieser Zuschreibungen ist zu erkennen, dass sie nicht beliebig sind, sondern eine Fundierung in der Wahrnehmung des eigenen Handelns haben. Ein Erfolg im Fußball wird als Beweis dafür angesehen, dass die nationale Mythologie der "deutschen Mannschaft" lebt und den aktuellen Zustand der Nation trifft. Dieses Interesse, in dem Handlungsstile, Werte, Mythen und Gefühle zusammenfließen, bildet die engste Verbindung zwischen Fußball und Politik.

Kurz nach der Einführung der Bundesliga trat in Deutschland eine Verjüngung in allen wichtigen politischen Funktionen ein: zuerst durch die Versetzung des alten Personals in den Ruhestand, dann 1966 mit dem Eintritt der Sozialdemokraten in die politische Führung des Landes (durch Bildung der ersten Großen Koalition). Weniger sichtbar, aber nicht minder wirkungsvoll war die Verjüngung des Lehrkörpers an Schulen, Universitäten und in den Medien. Wichtige Häuser der Kultur, insbesondere Theater und Kunsthallen, kamen in die Hände junger "Macher". Mit den angloamerikanischen Einflüssen wurden die Pop Art und das Happening nach Deutschland geholt; nach französischem Vorbild entstand der Autorenfilm. Innovation und Traditionsbruch waren die Mittel, um an die Spitze der Kultur zu gelangen – zur Avantgarde zu gehören, wurde ein erstrebenswertes kulturelles Ziel.

Günter Netzer posiert 1974 vor einem Bild von Marylin Monroe von Andy Warhol. (© imago/Sven Simon)

Durch die Suche nach Erneuerung wurde auch das Ansehen des Fußballs deutlich gehoben. Während die "hohe Kunst" ihr Prestige durch feiertägliche Leibferne gewonnen hatte, suchten viele der neuen Strömungen die Nähe zur Arbeitswelt, zum Alltag, zu lebensnahen Situationen. Den Kern des Neuen kann man in der Rückschau in der Suche nach Erfahrung und Körperlichkeit erkennen. Fußball avancierte so zu einem Objekt von Kunst. Den Anfang machte 1968 der Schriftsteller Peter Handke mit einem Gedicht, das aus nichts anderem bestand als der Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg, die auf einer Seite der elitären "Edition Suhrkamp" erschien, grafisch angeordnet wie im Sportmagazin "Kicker" und dadurch aussah wie ein Stück Konkreter Lyrik. Fußball wurde zu einem Lieblingsobjekt junger Künstler, Intellektueller und Wissenschaftler. Gemeinschaft wurde nicht mehr mit Gemeinheit assoziiert, und auf Seiten der Fußballer gab es mehrere, die gern den Künstler gaben (Paul Breitner vor Mao-Poster, Günter Netzer in der Pose eines Dandys) oder die Nähe der etablierten Kunst suchten (Franz Beckenbauer in Bayreuth).

In diese Phase der deutschen Runderneuerung fiel die erste große Zeit der Bundesliga; sie wurde geprägt durch Bayern München und Borussia Mönchengladbach, die kurz zuvor in die höchste Spielklasse aufgestiegen waren. Beide Mannschaften boten zweifellos den intelligentesten Fußball, der bis dahin in Deutschland gezeigt worden war. Sie spielten ihren herausfordernden Fußball zudem in der Überzeugung, auch international zu den Besten zu gehören. Ein solches Selbstbewusstsein der jungen Generation hatte es vorher nicht gegeben. Das neue Spiel- und Selbstverständnis begann den gesamten Bundesliga-Fußball zu verändern – er wurde ästhetisch.

Gerd Müller und Uli Hoeneß mit dem Pokal der Landesmeister nach dem Finalsieg des FC Bayern gegen Atletico Madrid (4:0) im Jahr 1974. (© imago/Sven Simon)

Der Gladbacher Trainer Hennes Weißweiler hatte seine Mannschaft aus dem Nachwuchs des Vereins gebildet; er lehrte sie eine Mischung aus Kreativität, Mannschaftsspiel und Disziplin, die insbesondere vom Mittelfeld-Regisseur Günter Netzer, unterstützt vom "Laufwunder" Herbert Wimmer, in ein mitreißendes Spiel umgesetzt wurde. Bayerns Spielanlage war anders: Die Mannschaft war stärker in der Abwehr; der Libero Franz Beckenbauer, von dem man öffentlich sagen durfte, dass er genial spielte, war von Mitspielern umgeben, die es ihm erlaubten, seine Stärken voll zur Geltung zu bringen. Und mit Gerd Müller trat das für Deutschland neue Phänomen auf, dass es einen Mittelstürmer gab, der immer, wenn es darauf ankam, ein Tor schoss. Die Mannschaft der Bayern war ideal geeignet, die neuen Entwicklungen in der Bundesrepublik zu repräsentieren: Sie spielte erfolgsbezogen und inspiriert, zugleich höchst verlässlich.

Die erste Glanzzeit der Bundesliga endete mit dem Gewinn des zweiten Weltmeistertitels 1974. In den Jahren danach wurde allmählich erkennbar, dass viele erfolgreiche Fußballer die Mentalität von erfolgreichen Geschäftsleuten übernahmen. Hier zeigte sich, welcher Preis für die Verbürgerlichung des Fußballs zu entrichten war: Einsatz und möglicher Gewinn wurden stärker gegeneinander abgewogen, die Sicherung des eigenen Vermögens erhielt größeren Stellenwert. Diese Tendenz wurde zuerst sichtbar bei den Bayern: Der Verzicht auf Risiko und das endgültige Ablegen jugendlicher Attitüden brachten dem Verein zwar größte Erfolge – er gewann ab 1974 dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister –, aber die Art und Weise, wie diese errungen wurden, ließen die Begeisterung früherer Tage vermissen.

Krise, schwierige Modernisierung und neue Impulse

1978, TV Sendung "Superschuss" mit Moderator Peter Krohn, der ein Quiz präsentiert. Gefragt sind die Rückennummern von Pele, Franz Beckenbauer, Uwe Seeler, Uwe Rahn und Georg Volkert. (© imago/Ferdi Hartung)

Gegen Ende der 1970er Jahre versuchte die Bundesliga auf die defensiver gewordenen Spielstile mit neuen Attraktionen zu reagieren. Der damalige Präsident des Hamburger SV, der Marketing-Fachmann Peter Krohn, gab die Richtung vor: die Transformation des Fußballs in eine Show. Trotz der grotesken Züge, die seine Ideen bisweilen trugen, hatte er etwas Wichtiges erkannt: dass es auf einen Professionalisierungsschub ankam, auf die systematische Bearbeitung der Öffentlichkeit, die Veränderung der Präsentation des Sports, die Erzeugung eines Unterhaltungswerts über das Fußballerische hinaus.

Der HSV wurde zur stärksten Mannschaft der Liga und gewann 1983 den Europacup der Landesmeister. Auch andere Vereine hatten es verstanden, Wirtschaftlichkeit, Unterhaltung und fußballerisches Können miteinander zu verbinden; die zweite erfolgreiche Mannschaft dieser Zeit war wiederum Bayern München. Ähnlich wie in Hamburg schufen die Münchner eine moderne Managementstruktur und einen neuen, hochtechnischen und rationalen Fußballstil. Im Unterschied zum HSV, der mit ausländischen Trainern und Spielern arbeitete, setzten die Bayern jedoch auf deutsche Spitzenfußballer, die sie aus dem Ausland zurückholten; im Zeitraum von 1980 bis 1990 errang der FCB siebenmal die deutsche Meisterschaft.

Auch ab 1990 verliefen die Spielzeiten nach einem wenig variablen Schema: Favorit waren die Bayern, und der jeweilige Herausforderer versuchte, ihnen den sicher geglaubten Titel abzujagen – manchmal mit Erfolg, wie vereinzelte Meistertitel von Werder Bremen, dem 1. FC Kaiserslautern oder dem VfB Stuttgart zeigen. Bayerns erfolgreichster Gegenspieler war Borussia Dortmund, das 1995 und 1996 Meister wurde; 1997 gelang den Westfalen gar der Gewinn der Champions League. Unter dem Trainer Ottmar Hitzfeld, den die Bayern von Dortmund abgeworben hatten, konnten 2001 auch die Bayern diesen Titel gewinnen. Langfristig erwiesen sich der Markenname der Bayern, der geschickt kommerzialisiert wurde, und ihre solide Finanzpolitik als außerordentlich einträglich.

Trotz einiger Erfolge verlor der deutsche Fußball gegen Ende der 1990er Jahre seine Spitzenstellung in Europa. Ein wichtiger Grund für diesen Bedeutungsverlust war der im Vergleich zu ausländischen Ligen geringere Grad der Professionalisierung der Verbands- und Vereinsführungen, die Rückständigkeit der Trainingsmethoden und die Vernachlässigung der Nachwuchsarbeit. Anders als beispielsweise in der englischen Liga wurden weder von den Bundes- noch von den Vereinstrainern wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Trainings- und Bewegungsforschung aufgenommen. Es gab Bestrebungen, die Kinder- und Jugendsportschulen, das Erfolgsmodell der untergegangenen DDR, fortzuführen, was aber nicht effizient gelang. Kinder aus Migrantenfamilien spielten zwar guten Fußball, wurden aber weder von Vereinen noch vom DFB ausreichend umworben.

Die gängige Strategie der Bundesligavereine war es, "fertige" Spieler aus dem Ausland einzukaufen; da sie aber an ökonomischer Kraft mit den Clubs aus England, Spanien und Italien nicht mithalten konnten, gehörten diese nicht zu den Besten. Die wichtigsten Konkurrenten im europäischen Fußball hatten den grundlegenden Wandel, dem die europäischen Gesellschaften seit den 1970er Jahren unterworfen waren, mitvollzogen: Sie hatten die nationalistischen Leitplanken aus dem Feld des Sports herausgerissen und sich unter den Gesichtspunkten sportlicher Erfordernisse neu organisiert. Doch so, wie Menschen fremder Herkunft an der deutschen Ausländerbehörde scheiterten, wurden auch im Sport Migranten vielfach auf der Bank sitzen gelassen.

Entscheidende Impulse für die Erneuerung kamen von dem im Vorfeld der WM 2006 engagierten Trainergespann Jürgen Klinsmann/Joachim Löw. Von ihnen wurden überkommene Verbandsstrukturen beseitigt und neue strategische Positionen geschaffen, die Trainerausbildung wurde verbessert, der Spielerkader erheblich verjüngt. Eine grundsätzliche Veränderung wurde in der Ausbildung des Nachwuchses und der Jugendtrainer vorgenommen. Als wesentliche Gestalter der neuen Spielweise traten nun neue, junge Trainer mit deutlich besseren taktischen und trainingstechnischen Kenntnissen als ihre Vorgänger auf, die Mannschaften kleinerer Vereine zu erstaunlichen Erfolgen in der Bundesliga führten. Unter dem Einfluss des Bundestrainers Löw gestaltete sich das Spiel der Nationalelf feiner, geschickter und intelligenter; es war nicht mehr ängstlich auf Sicherheit bedacht wie früher, sondern wurde "nach vorn" ausgerichtet. Die gestiegene Professionalität der Trainer und Spieler führte insgesamt zu einem höheren Arbeitsethos. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Vereinsführungen an Qualität gewonnen haben und die für einen professionellen Fußball notwendigen Innovationen unterstützen.

Nach etlichen mageren Jahren, die dem Champions-League-Gewinn 1997 folgten, stieg auch der Stern Borussia Dortmunds wieder auf: Grund dafür war der Einsatz des talentierten eigenen Nachwuchses, die erfolgreiche Integration ausländischer Spieler und das innovative Spielverständnis des Trainers Jürgen Klopp. Nach zwei gewonnenen deutschen Meisterschaften (2011, 2012) hat es der Verein 2013 bis ins Champions-League-Finale geschafft. Im ersten "deutschen Finale" in der Geschichte des Wettbewerbs unterlagen sie jedoch Bayern München. Die Bayern hatten das Endspiel bereits zum dritten Mal in den vergangenen vier Jahren erreicht, nachdem sie im Halbfinale zuvor den FC Barcelona, der bis dahin als das unerreichte Vorbild für ästhetischen und erfolgreichen Fußball galt, mit zwei eklatanten Siegen aus dem Rennen geworfen hatten. Ob das "deutsche Finale" tatsächlich das erste Zeichen für eine dauerhafte Spitzenstellung der Bundesliga in Europa ist, bleibt jedoch abzuwarten.

Am Gipfel – und in seinem Schatten

Noch in den 1980er Jahren wurde Fußball von den gesellschaftlichen Eliten nicht endgültig akzeptiert. Für die feine Gesellschaft, die ihre sports abseits der Massen in exklusiven Clubs pflegte, diente der Stadionbesuch nur zur Kontaktpflege mit dem Volk. Der Fußball war noch nicht in den Rang eines deutschen Kulturguts aufgestiegen. Die Erfolge der deutschen Spitzenteams in der "Königsklasse" des europäischen Sports, die von Wirtschaftsführern und Spitzenpolitikern umworben wird, zeigen jedoch an, dass es der Fußball inzwischen geschafft hat, die Anerkennung der höchsten Gruppen der deutschen Gesellschaft zu gewinnen.

Die Fan-Initiative "Pro Samstag 15:30" positioniert sich gegen die für reisende Stadionfans unfreundliche Zersplitterung des Bundesligaspieltages.

(© imago/Team 2)

Ermöglicht wurde dieser Aufstieg durch drei Entwicklungen:

  1. gibt es inzwischen ein gewachsenes und dauerhaftes Interesse der politischen Spitzen. Schon in den 1980er Jahren hatte die Politik das Fußballstadion als Ort der Nähe zum Wähler entdeckt. Spätestens seit Gerhard Schröder und Angela Merkel suchen auch die Bundeskanzler aktiv die Nähe zum Fußball und der Nationalmannschaft. Fußball ist inzwischen zu einem Spektakel der Politik geworden – und die Politiker zu einem Teil des Fußballspektakels: Als etwa die enthusiastische Kanzlerin im Oktober 2010 die DFB-Mannschaft nach einem siegreichen Qualifikationsspiel in der Umkleidekabine besuchte, waren ihr die Titelseiten des kommenden Tages gewiss. Bei staatstragenden Ereignissen dürfen die Spitzen der Gesellschaft nicht abseits stehen – in der Berliner Republik wurden sie zu Anhängern der Nationalmannschaft.


  2. schuf der Fußball die Möglichkeit, Sportbegeisterung und Geschäfte an einem Ort miteinander zu verbinden. Der sogenannten Elite wird es heute leicht gemacht, Fußballspielen beizuwohnen. In die neuen Arenen wurden VIP-Lounges eingebaut, mit eigenen Zugängen, verglasten Innenräumen, Catering, Clubatmosphäre, Bildschirmen. Wie bei einem First-Class-Flug nimmt man an demselben Ereignis teil wie das Volk, ohne zwischen ihm sitzen zu müssen. Von den Hardcore-Fans, den Ultras, wurde die VIP-Etage instinktsicher zum Gegner erklärt, weil dort der Fußball verraten werde. Ihnen erscheint der kontinuierliche Umbau der Fußballstadien in Orte des Entertainments als der falsche Weg, der sich vom "echten" Fußball entfernt.


  3. und das ist auch für die ersten beiden Entwicklungen ausschlaggebend – spielt die immer stärker gewordene Präsenz des Fußballs im Fernsehen und die damit verbundene rasante ökonomische Entwicklung der Bundesliga eine wichtige Rolle. Mit der Einführung des Privatfernsehens kam es zu regelrechten Überbietungskämpfen um die Übertragungsrechte. Als erster Privatsender kaufte RTL für die Saison 1988/89 die Senderechte für 40 Millionen DM – und damit für mehr als das Doppelte des Betrags, den die öffentlich-rechtlichen Sender zuvor bezahlt hatten. Zwei Jahre später war die Summe schon wieder verdoppelt worden. Für die Spielzeit 2000/01 bezahlte Sat.1 bereits 355 Millionen Euro, für die kommende Saison bringen die Übertragungsrechte gar 628 Millionen Euro ein. Fußball ist zu einem umkämpften "Rohstoff" für die Bildmedien geworden.

Im Vergleich zu diesem ökonomischen Spiel scheint die Mäkelei der Fans, insbesondere der Ultras, vorgestrig zu sein. Mit dieser Aburteilung macht man es sich jedoch zu einfach: Große Teile des Publikums suchen in der Arena (selbst bei TV-Übertragungen) den emotionalen "Kick". Und große Gefühle können nur entstehen, wenn sich große Zuschauergruppen "total" für "ihre" Mannschaft engagieren – mit einem körperlichen Einsatz, der oft an die Grenze geht. Auf der anderen Seite dieses Limits beginnt das Ausleben von Gewalt, das wiederum im Stadion nicht toleriert werden kann. In diesem Dilemma befinden sich einige Vereine der Bundesliga, die den Gewalteinsatz ihrer Fans nicht mehr zu steuern vermögen. Hinzu kommt, dass in diesem Umfeld rechtsradikale Gruppen nach Anhängern fischen, die ihnen in der Begeisterung des Spiels leicht ins Netz gehen können.

Der Fußball hat sich in den vergangenen Jahrzehnten von Grund auf verändert; er ist inzwischen vom Kommerz durchdrungen. Der Qualität des Spielgeschehens ist dies gut bekommen, der Persönlichkeit mancher Spieler eher nicht. Die größten Einbußen aber sind bei der Berichterstattung im Fernsehen zu beklagen, die unter dem Einfluss der privaten Sender ihr journalistisches Niveau deutlich gesenkt hat. Mit der relativ distanzierten Kommentierung der Fußballereignisse ist es vorbei; sie wurde als langweilig und altbacken empfunden. An ihre Stelle trat eine Inszenierung aus der Fanperspektive, ohne kritische Distanz. Dass die kommerziellen Sender aus dem Sport eine Unterhaltungsware gemacht haben, ist noch verständlich – warum aber die gebührenfinanzierten Programme ihnen dabei gefolgt sind, bleibt unbegreiflich.

So wirken sich die ungeheuren Geldsummen, die heute in den Fußball fließen, unterschiedlich aus: als Verbesserung des Spiels, als Verbürgerlichung des Publikums mit Akzeptanzproblemen bei den eingefleischten Fans und als Qualitätsverlust der Sportdarstellung im Fernsehen. Gesellschaftlich schließlich hat der Fußball den Weg von "unten" nach "oben" geschafft. Er hat eine Bedeutung und Qualität erhalten, auf die man in Deutschland stolz ist – und wofür es sogar aus dem Ausland Beifall gibt.

* Der Text wurde ursprünglich in der Reihe 'Aus Politik und Zeitgeschichte' (APuZ 27–28/2013) veröffentlicht.

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Prof. Gunter Gebauer lehrt an der freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Themenbereichen der Sprachphilosophie, der Körperanthropologie, der Soziologie der körperlichen Praktiken, der Ästhetik und der Theorie des Sports und des Spiels.