Zuviel Kult auf dem Kiez?
Die Fans des FC St. Pauli und die Kommerzialisierung des Fußballs
Thomas Praßer
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Als bunt, schrill, alternativ, links gilt die Fankultur „auf St. Pauli“. In den besetzten Häusern der Hafenstraße im Hamburg der 1980er Jahre bildete sich eine alternative Fankultur. Längst hat der Verein das rebellische Image erfolgreich vermarktet. Doch wie selbstbestimmt ist die Fankultur „auf St. Pauli“ heute?
Der FC St. Pauli ist neben dem FC Schalke 04 der wohl bekannteste Stadtteilverein in Deutschland. Diese Popularität ist jedoch weniger auf sportliche Erfolge zurückzuführen, obgleich der FC St. Pauli sich im deutschen Profifußball etabliert hat; vielmehr wurde seine Popularität durch sein Image generiert. Ein Image, welches der Verein nicht zu jeder Zeit pflegte und ihm erst, im Bezug auf sein Alter (gegründet wurde der FC St. Pauli im Jahre 1910), in der jüngeren Vergangenheit zugeschrieben werden kann. Eine zentrale Rolle bei der Bildung dieses Images übernahmen (die) Fans des Kiez-Klubs, welche im eigentlichen Sinne auch die Grundlagen für den sogenannten "Mythos FC St. Pauli"schufen, und natürlich der Verein (beziehungsweise dessen Führung), der diesen Mythos in den letzten Jahren erfolgreich vermarktete.
Mythos FC St. Pauli
Die Grundlagen für den "Mythos FC St. Pauli" entstanden Mitte der 1980er-Jahre. In dieser Zeit befand sich der Verein, nachdem er einige Jahre zuvor bereits einmal insolvent war, in einer schwierigen Phase, sowohl sportlich als auch wirtschaftlich. Zwar konnte 1986 der Aufstieg in die zweite Bundesliga realisiert und damit eine Rückkehr ins Profigeschäft erreicht werden, jedoch kamen im Durchschnitt nur 3.000 bis 4.000 Zuschauer/-innen in das nahezu baufällige Stadion am Millerntor (ehemals "Wilhelm-Koch-Stadion", jetzt "Millerntorstadion"). Der Verein bemühte sich im 75. Jubiläumsjahr in der Außenwirkung um ein seriöses Erscheinungsbild und so schrieb die Vereinszeitung: "Am Millerntor ist man, trotz Reeperbahn-Nähe, gemütlicher geblieben, volkstümlicher". Die wenigen Fans beziehungsweise Mitglieder, die der Verein zu diesem Zeitpunkt hatte, passten sich diesem seriösen Erscheinungsbild an und waren eher den bürgerlichen Schichten und dem Arbeitermilieu zuzuordnen.
Interessant zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass der Hamburger Stadtteil St. Pauli, insbesondere die Vergnügungsmeile rund um die Reeperbahn, unter anderem durch die ersten HIV-Fälle und immer wieder vorkommende Gewalt- und Tötungsdelikte (hervorgerufen durch Revierstreitigkeiten von Zuhältern und kriminellen Banden im Rotlichtmilieu) zu dieser Zeit nicht die ihr heute zugeschriebene Attraktivität ausstrahlte. Ansonsten war der Stadtteil St. Pauli in vergangener Zeit ein Arbeiterviertel, welches vor allem günstigen Wohnraum bot. Dementsprechend gestaltete sich die soziale Struktur des Viertels. Bedingt durch den Hamburger Überseehafen bekam das Viertel eine multikulturelle Prägung, denn zahlreiche im Schiffsverkehr arbeitende Migranten, die aus allen Erdteilen kamen, siedelten sich in St. Pauli an. Diese Voraussetzungen machten den Stadtteil für alternative Milieus, Künstler/-innen, Studierende und ähnlich orientierte soziale Gruppen interessant.
Bundesweite Aufmerksamkeit erlangte der Hamburger Stadtteil durch Hausbesetzungen in der Hafenstraße. In jener Straße wurden in den 1980er-Jahren mehrere Häuser von heutzutage sogenannten "Linksalternativen" besetzt. Mit den Besetzungen sollte ein Abriss der Häuser und eine vom Hamburger Senat geplante Neubebauung der Hafenstraße verhindert werden. Dieser sah eine luxuriöse Umgestaltung der Hafenstraße vor, die Hausbesetzer/-innen hingegen wollten den billigen Wohnraum erhalten. Immer wieder versuchte die Polizei (im Auftrag des Senats), die Häuser zu räumen, jedoch stieß sie regelmäßig auf großen Widerstand. Später wurden die Hausbesetzer/-innen weiterhin geduldet. Im Stadtteil St. Pauli entwickelten sich nach und nach unter der Bevölkerung Sympathien für die Hausbesetzer/-innen.
Eher zufällig entdeckten Teile der Hausbesetzer- und Sympathisantenszene, dass es in ihrem Viertel einen Fußballklub gibt, und gingen fortan ins Stadion. An dieser Stelle muss angeführt werden, dass der Fußball beziehungsweise die erste und zweite Bundesliga längst nicht die Strahlkraft der Gegenwart besaßen und sich wie oben bereits erwähnt zu den Heimspielen des FC St. Pauli nicht viele Zuschauer/-innen einfanden. Außerdem war der Fußball der 1980er-Jahre geprägt durch die in Deutschland aufkommende Hooliganszene, die sich weniger durch einen alternativen Geist, sondern eher durch maskulines Gebaren mit autoritär-nationalen Zügen und den Hang zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Fans (beziehungsweise Hooligangruppen) auszeichnete. Hooligans begreifen das Stadion als einen Ort des Erlebens; stellen das Erlebnis in den Mittelpunkt und sind nicht mehr zwangsläufig als "fußballzentrierte" Fans einzustufen. Diese Entwicklungen betrafen insbesondere auch den seinerzeit sehr erfolgreichen Bundesligaklub Hamburger SV (HSV). Das Heimstadion des HSV (das Hamburger "Volksparkstadion") war nicht nur Schauplatz der Gewalt von Hooligans, sondern auch ein Ort, an dem rechtsradikale Parolen ungehindert vorgetragen werden konnten. Demzufolge war dies kein Aufenthaltsort, an dem sich linksalternative Zuschauer/-innen wohlfühlten.
"Auf St. Pauli" hingegen bildete sich eine neue alternative Fangruppe, die später zu einer Fanszene anwuchs (die sich in einer größeren Anzahl von Gruppen oder Fanklubs organisierte) und deren Mitglieder nicht mehr nur den Hausbesetzerinnen und -besetzern der Hafenstraße zuzuordnen waren. Diese Fans füllten das Stadion wieder und begründeten ihr Kommen mit der guten "Stimmung" im "Millerntorstadion" und mit der Feststellung, dass es "auf St. Pauli" keine Schlägereien und keine Neonazis gebe beziehungsweise dass rechts gesinnte Fans ziemlich schnell verdrängt wurden.
Das bürgerliche Lager des Vereins reagierte zunächst schockiert auf die neuen Fanstrukturen, konnte sich aber nach einiger Zeit mit diesen anfreunden. Die neue Fanszene brachte nicht nur gute Stimmung ins Stadion, sondern schaffte es auch innerhalb sehr kurzer Zeit, dem Verein ein neues Image zu geben. Dieses spiegelte sich vor allem in einem Symbol wider, welches von einem Hausbesetzer namens "Doc Mabuse" ins Stadion gebracht wurde: das Totenkopfsymbol der Piraten.
Die Hausbesetzerszene der Hafenstraße nutzte dieses Symbol zuweilen selbst, um ihre "Widerständigkeit" und ihr "Selbstbewusstsein" zu artikulieren. Für den Verein gewann diese Symbolik in kürzester Zeit eine enorme Bedeutung, ebenso wie auch die neue Fanszene selbst. Attribute wie die "Freibeuter der Liga", "der etwas andere Verein" oder der "Kultklub" wurden dem FC St. Pauli in der Folgezeit vor allem von Medien zugeschrieben. Daneben gilt für den FC St. Pauli als kleinen und eher unbedeutenden Stadtteilverein das Image des "Underdogs". Diese Attribute sollten in der Folgezeit die Popularität des FC St. Pauli befördern.
Die Etablierung der neuen Fanszene des FC St. Pauli
Eine wichtige Rolle in der Formierung dieser alternativen (und auch politisch engagierten) Fanszene nahm das Fanzine "Millerntor Roar!" in den prägenden Jahren 1989 bis 1993 ein. Das Fanzine wurde als eine Zeitschrift von und für Fans (Fanzine, Abkürzung für Fan-Magazin) konzipiert, um den Anliegen der Fans eine Stimme zu verleihen und um fortan über die Themenspektren Fans, Fußball, Verein, Entwicklungen im Viertel und Politik zu berichten. Dies stellte in der Bundesrepublik ein Novum dar, denn Fanzines gab es zu jener Zeit noch nicht.
Daneben wurde 1989/90 von aktiven Fans des FC St. Pauli der "Fanladen St. Pauli" (Fanladen) gegründet. Auch in dieser Einrichtung wollte man sich für die Belange der Fans einsetzen. "Der Fanladen kann als Geburtsort einer neuen Fankultur in Deutschland angesehen werden und gilt bis heute als eines der Vorbilder der alternativen Fanbewegung. Es war und ist immer ein wichtiges Anliegen gewesen, der 'tumben Masse' eine Stimme zu verleihen, den Fans eine Möglichkeit zu schaffen und ihre Interessen im kommerziellen Dschungel des professionellen Fußballs zu vertreten." (Externer Link: www.stpauli-fanladen.de/wir-bieten/) Mit diesen Worten beschreiben die Verantwortlichen des Fanlandens das Selbstverständnis ihrer Arbeit. Mit dem 1993 in Kraft getretenen Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit (NKSS) wurde der Fanladen St. Pauli zu einem Fanprojekt (besondere Jugend- und Sozialarbeit) gemäß NKSS, blieb aber vom Verein unabhängig.
Durch diese Multiplikatoren ("Millerntor Roar!" und Fanladen) konnte das Selbstverständnis beziehungsweise der alternative Geist der neuen Fans an Dritte weitertransportiert werden. Dies führte zu einem weiteren Anwachsen der alternativen Fanszene in den Folgejahren. Hinzugekommene Fans oder nachwachsende Fangenerationen gründeten wiederum neue Fangruppen, -klubs oder Fanzines, die aber den ursprünglichen Idealen größtenteils verhaftet blieben. Dies ist natürlich ein stetiger Prozess in der Fankultur, den jeder Fußballverein in ähnlicher Form erlebt (siehe hierzu auch Interner Link: Dembowski).
Außerdem führten die Gründungen von Fanladen und "Millerntor Roar!" dazu, dass sich die Fanszene des FC St. Pauli sowohl über anstehende Entscheidungen in Vereinspolitik, Stadtteilpolitik oder im "System Profifußball" informieren konnte als auch die Möglichkeit hatte, über jene zu diskutieren beziehungsweise Gegenmaßnahmen zu organisieren. Kurzum: Die Fans konnten ihre eigenen Interessen vertreten und taten dies auch.
Verhältnis Verein und Fans
Der Verein bekam dies nach kurzer Zeit bereits zu spüren. Denn fortan wurden am "Millerntor" nicht nur ungeliebte Gegner, sondern auch Entscheidungen der Vereinsführung (damaliger Präsident Dr. Otto Paulick) kritisch "begleitet". Als Beispiel sei hier der von der Vereinsführung 1989 geplante Umbau des Millerntorstadions zu einem "Sport- und Eventcenter" nach amerikanischen Vorbild (dem sogenannten "Sport-Dome") genannt. Neben dem Stadion sollte dieses Gebäude ein Einkaufszentrum und Freizeitmöglichkeiten beherbergen. Ein Anschluss an die Hamburger Messe war ebenfalls geplant. Vor allem kaufkräftigeres Publikum sollte angezogen werden. Gegen diese Pläne gab es seitens der neuen Fanszene Proteste und Demonstrationen (sogar Anwohnerinitiativen wurden gegründet), in denen immer wieder die Unverträglichkeit eines solchen Projektes mit der Sozialisation des Stadtteils und den Fans des FC St. Pauli betont wurden. Die Proteste zeigten Wirkung, denn kurze Zeit später begrub Präsident Paulick die Pläne wieder und stellte fest, dass mit dem ganzen "Drumherum" die "eigentlichen Fans" verprellt würden. Der Protest der St.-Pauli-Fans war insofern neu, als dass sich Fans eines Fußballvereins erstmalig gegen Entscheidungen/Planungen der eigenen Vereinsführung auflehnten. Diesem Beispiel folgten viele Fans anderer Vereine und organisierten sich fortan unter anderem in bundesweiten Fanverbänden, wie zum Beispiel dem Bündnis aktiver Fußballfans (BAFF) oder "Pro 15:30" (später "ProFans"). Diese hatten es sich zur Aufgabe gemacht, für die Belange von Fans einzutreten.
QuellentextBündnis Aktiver Fußballfans (BAFF)
Im Verlauf der Saison 1993/94 gründete sich unter anderem aus dem Umfeld einer bundesweiten Fanzine-Szene sowie dem "alternativen" Milieu um den FC St. Pauli das Bündnis Antifaschistischer Fußballfans.
Sein Themenspektrum umfasste neben fanpolitischen Themen auch die steigenden neonazistischen Tendenzen in den Stadien sowie die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und seiner Vereine. Mit zahlreichen Aktionen engagierte sich das Bündnis unter anderem für den Erhalt der Stehplätze, für die Beibehaltung des Samstags als weitgehend einheitlichen Spieltag, gegen das als immer absurder erachtete Merchandising der Vereine, gegen privates Bezahlfernsehen, für sozialverträgliche Ticketpreise, für die Distanzierung von Hooligangruppen, gegen aggressiven Nationalismus, Rassismus und zunehmend auch gegen andere Formen von Diskriminierung. Nicht zuletzt diese Themenvielfalt führte Ende 1995 zur Umbenennung in Bündnis Aktiver Fußballfans (BAFF).
Wichtige Mittel der Interessenvertretung waren dabei zum Beispiel die eigenen Szenepublikationen, Aktionen mit Bannern, Flugzetteln und Unterschriftenlisten in und um Stadien, Fankongresse, thematisch unterlegte Konzertveranstaltungen, lokale Gremien- und Lobbyarbeit in den Fanszenen sowie gezielte Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Zusammen mit ähnlichen Initiativen aus dem Fanzine- und Fanclubumfeld und sozialpädagogisch orientierten Fanprojekten waren das BAFF und andere lokale Faninitiativen mit ihren Aktionen besonders in den 1990er Jahren in fanmultiplikatorisch und gesellschaftsdiskursiv prägender Hinsicht wichtige Vorreiter für partizipativere und menschenrechtsorientiertere Fankulturen. Ihr zum Teil ironisch-distanzierter, humorvoller Einsatz für ein Self-Empowerment junger Fußballfangruppen passte sich ungewollt in die einsetzende Gentrifizierung des Fußballs ein: Ihr menschenrechtsorientiertes Engagement implizierte auch kulturalisierende Momente, die dem Produkt Fußball in seinem feuilletonisierten Image und damit der Ansprache neuer Zuschauergruppen durchaus zuträglich waren.
Quelle: Gerd Dembowski, APUZ
Für das Verhältnis zwischen der Vereinsführung des FC St. Pauli und den organisierten Fans bedeutet dies auch in den folgenden Jahren immer wieder eine Spannungsprobe. Viele Entscheidungen wurden von Teilen der Fanszene nicht mitgetragen oder kritisiert. In der Folgezeit wuchs auch die Zahl "oppositioneller" Vereinsmitglieder, die sich zum Beispiel in der Arbeitsgemeinschaft interessierter Mitglieder (AGiM) (Externer Link: www.fcstpauli.com/home/verein/gremien/agim) formierten und so eine kritische Stimme in den Gremien des Vereins bilden konnten.
Die Kommerzialisierung des Fußballs und des FC St. Pauli
Seit der Einführung der Bundesliga und der damit verbundenen Professionalisierung des Fußballsports vollzog sich eine Kommerzialisierung des Fußballs. Die einzelnen Schritte dieser werden beschrieben im Interner Link: Text von Joern Quitzau in diesem Dossier.
Für Fußballfans wurde diese Entwicklung spätestens Anfang der 1990er-Jahre spürbar. Durch das bereits in den 1980er-Jahren aufgekommene Privatfernsehen wurden nun sehr viel mehr Bundesligaspiele im Fernsehen (und im Pay-TV) ausgestrahlt. Für die Ausstrahlungsrechte der Bundesliga wurden von den Medienunternehmen immer wieder neue Rekordsummen gezahlt. In den 1990er-Jahren sollte auch der Stadionbesuch wieder attraktiver werden. Das Motto: "Weg von den schmuddeligen 'Working Class'-Stehrängen, hin zu Mittelstands-Yuppies in den Schalensitzen der 'All-Seater-Tribünen'". Gleichzeitig fand eine zum Zeitgeist der 1990er-Jahre passende "Eventisierung" des Fußballs statt, welche den Stadionbesuch als "Event" anpries. Der Fußball wurde in der Folge für ein breiteres Publikum interessant und die Vereine lockten mit exklusiven VIP-Logen oder Business Seats neue zahlungskräftige Kundinnen und Kunden an. Diese Entwicklung forcierte sich vor allem durch die Vergabe der FIFA-Westmeisterschaft 2006 nach Deutschland, denn diese beschleunigte den Um- beziehungsweise Neubau alter Stadien zu modernen Fußballarenen.
Der FC St. Pauli war von dieser Entwicklung zunächst nicht vollständig betroffen. Zwar absolvierte der Verein in dieser Zeit mehrere Spielzeiten in der Bundesliga, aber ein Stadionausbau wurde nicht realisiert. Auch dies ist ein Faktor, welcher den "Mythos St. Pauli" bereicherte, denn das Millerntorstadion hat in jenen Jahren (Umbau erst sukzessive ab 2007) eher den Charakter einer "Bruchbude" mit mehreren Stehplatztribünen. Vor allem Stimmung und Atmosphäre im Millerntorstadion wurden im Vergleich zu anderen (Sitzplatz-)Stadien von vielen Seiten immer als besonders charakteristisch eingeschätzt und trugen ebenfalls ihrem Teil zum Mythos bei. Fußballromantiker/-innen und "Groundhopper" waren begeistert und reisten zum Teil sogar aus dem Ausland an.
Der vermarktete Mythos
Doch auch der Vereinsführung blieb der "Mythos St. Pauli" nicht verborgen. Mit dem beginnenden neuen Jahrtausend wurde das Markenpotenzial des FC St. Pauli sichtbar. Nach einem Heimsieg gegen Bayern München (damals Weltpokalsieger) wurde (von der Agentur "Upsolut Sports", die mit dem FC St. Pauli im Merchandising zusammenarbeitet) ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Weltpokalsiegerbesieger" auf den Markt gebracht. Ursprünglich sollten 400 davon verkauft werden, nach drei Monaten waren es schon 25.000.
Quellentext'Non established since 1910'
Der professionellen Vermarktung vorausgegangen war eine Analyse (…) typischer Eigenschaften [des Vereins]. Dies waren die Attribute kämpferisch, rebellisch, (selbst)ironisch, weltoffen und provokant. Diese einfach formulierten Merkmale sind der Schlüssel für die erfolgreiche Positionierung des Vereinsimages auf dem Markt. (…) Abzuleiten daraus ist der heute bevorzugte Claim 'Non established since 1910', der beinhaltet, was der Verein (…) von sich behaupten möchte: Anders zu sein, nicht wie alle Anderen".
Quelle: Schmidt 2008, S. 176
Das alternative Image, das dem Verein von der Fanszene aufgestülpt wurde, nutzte der Verein nun als erfolgreiche Marketingstrategie. Dazu gehörte auch eine adäquate Produktpalette: Neben klassischen Fanartikeln finden sich in den St.-Pauli-Fanshops auch Streetwear-Kollektionen, Artikel mit regionalem Bezug und es gibt es klare Ausrichtung auf weibliche Fans. Zum Markenzeichen wurden aber vor allem T-Shirts und Pullover, die das (oben erwähnte) Totenkopfsymbol ziert. Inzwischen verkauft der FC St. Pauli eine ganze Reihe von Produkten mit diesem Aufdruck – vom Toaster über die Christbaumkugeln bis hin zum Baby-Schnuller oder der Badeente. Wichtig zu erwähnen ist, dass diese Merchandising-Produkte sich vor allem an neue Käuferschichten richten. Unter den alteingesessenen und organisierten Fans werden diese gern als "Mode-Fans" bezeichnet und häufig wird jenen unterstellt, sich nur für St. Pauli zu interessieren, weil das gerade "in" ist.
Das angesprochene Marketing- beziehungsweise Corporate-Identity-Konzept funktionierte in der jüngeren Vergangenheit ausgezeichnet. "Neu in der Spitze [im Ranking des Merchandising Umsatzes] vertreten war 2010/11 der FC St. Pauli, der nach seinem Aufstieg in die Bundesliga zusammen mit der Agentur 'Upsolut Sports' zwischen neun und zehn Millionen Euro im Merchandising einnahm".
Dies ist insofern bemerkenswert, als dass der FC St. Pauli (als kleiner Stadteilverein) in diesem Ranking vor diversen großen Bundesligaklubs rangiert. Bemerkenswert ist auch, dass unter anderem der Verkauf von Merchandising-Artikeln den Verein in seinen "schwersten Stunden"‘ rettete.
Die "Retter"-Kampagne
Nach zwei Abstiegen in Folge von der Bundesliga in die (damalige) Regionalliga drohte dem FC St. Pauli im Mai 2003 der Lizenzentzug und die Zahlungsunfähigkeit. "Der Kiez-Klub musste, um die Auflagen der DFL zu erfüllen, innerhalb von 14 Tagen (…) zwei Millionen Euro auftreiben, um eine Lizenz für die Regionalliga zu bekommen".
Das Präsidium appellierte "Rettet den FC St. Pauli" und startete eine Kampagne zur Rettung des Kiez-Klubs. Der Verein brachte eine Sonderedition des "Weltpokalsiegerbesieger"-T-Shirts mit dem Zusatz "Retter" auf den Markt, welches sich in diesen zwei Wochen "46.000 Mal verkaufte", insgesamt erbrachten 130.000 verkaufte T-Shirts einen Reingewinn von 1.149.000 Euro. Eine enorme Hilfsbereitschaft von allen Seiten wurde dem FC St. Pauli zuteil. Der FC Bayern München trat (was sicherlich nicht selbstverständlich ist) zu einem Freundschaftsspiel an und verzichtete auf sämtliche Einnahmen zugunsten der "Rettung". Der Plan des Präsidiums ging auf: Der Verein erhielt die Lizenz.
Verrat der Ideale?
Gerade im Zusammenhang mit der "Retterkampagne" des FC St. Pauli wurde jedoch vonseiten einiger Fangruppen Kritik an der Art und Weise der Durchführung und an involvierten Personen/Institutionen laut. Das von Fans herausgebrachte Fanzine "Übersteiger" titelte: "Sind wir noch zu retten?" Auf dem Titelfoto wird der Verkauf von "Retter-Shirts" durch eine Fast-Food-Kette und der Verkauf von Dauerkarten durch den damaligen CDU-Bürgermeister Ole von Beust im Zuge der "Retterkampagne" persifliert. Jene Fans witterten in der Zusammenarbeit mit der konservativen CDU und der Fast-Food-Kette einen Verrat an der Identität und den Idealen des Kiez-Klubs.
Dieses Beispiel steht wie kein zweites für das ambivalente Verhältnis zwischen Fans und Verein (wie auch für die Ambivalenz der Fanszene selbst), was daran deutlich wird, dass die Auswirkungen der "Retterkampagne", nämlich das sportliche und wirtschaftliche Überleben des Vereins, logischerweise in der Fanszene sehr begrüßt wurde, aber die Art und Weise, wie dies geschah, mitunter als nicht akzeptabel eingestuft wurde. Um diesen Gedanken zuzuspitzen: Viele St.-Pauli-Fans missbilligen die kommerzielle Vermarktung des alternativen St.-Pauli-Images. Allerdings hat sich der FC St. Pauli unter anderem gerade durch die Vermarktung dieses alternativen Images als eine Marke im deutschen Profifußball etabliert. Die Strahlkraft dieser Marke zieht immer wieder neue Fans, Kundinnen und Kunden an. Die Konsolidierung der Vereinskasse ist mittlerweile abgeschlossen.
Somit ist mittlerweile auch der FC St. Pauli im modernen Fußball angekommen. Inzwischen ist das Stadion nach den heutigen Ansprüchen umgebaut worden; VIP-Logen und Business Seats haben auch hier ihren Platz gefunden. Ein anonymer Fan bringt die Meinung vieler auf den Punkt: "Die Leute auf den Business Seats bewegen sich nur, um schnell an die Schnittchen zu kommen. Die sind beliebig und austauschbar. Die kommen nicht aus Sympathie zum Verein, sondern weil es gerade angesagt ist, sich so einen Platz zu kaufen". Dies konnte auch durch die zum Teil opponierende Fanszene nicht verhindert werden. Expräsident Corny Littmann bringt die Lage des Vereins auf diese Formel: "Wenn wir konkurrenzfähig sein wollen, müssen wir uns den Gesetzmäßigkeiten der Branche anpassen, allerdings unter Wahrung unserer Identität. Warum sollen wir das Rad zurückdrehen?"
Aber Proteste und Kritik seitens der aktiven Fans erzielen auch immer wieder Erfolge, die an anderen Bundesligastandorten nicht unbedingt möglich erscheinen. So wurden zum Beispiel von der Mitgliederversammlung Pläne zum Verkauf des Stadionnamens ebenso dauerhaft untersagt wie der Einsatz von Striptease-Tänzerinnen in einer Loge, die von einer "Show Bar" angemietet wurde. Die Antragstellter/-innen argumentierten hier mit dem Verstoß gegen die Stadionordnung Paragraf 6 Stichwort: "Sexismus"). Eingebracht wurden diese Anträge unter anderem durch eine Petition der Fangruppe "Sozialromantiker St. Pauli".
Die Wahrung der Identität und die Vermarktung des FC St. Pauli erweisen sich immer wieder als Drahtseilakt. Die Differenzen zwischen der kommerziellen Vermarktung des Vereins und den romantischen Vorstellungen vom Fußball vergangener Zeiten werden auch in Zukunft aufeinanderprallen. Eine Lösung dieses Problems scheint eher nicht in Sicht. Allerdings, und das zeigt das Beispiel des FC St. Pauli auch sehr deutlich, lassen sich häufig gute Kompromisse finden. Daher sollte es grundsätzlich immer ein Anliegen der Fans sein, die demokratischen Konstrukte (zum Beispiel die Mitgliederversammlung) in ihrem Vereinen zu stärken und zuweilen gegen unpopuläre oder unerwünschte Entscheidungen der Vereinsführung zu protestieren.
Thomas Praßer ist Diplom Kulturarbeiter und Doktorand der Universität Bielefeld.
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