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Alterssicherung in Europa/im internationalen Vergleich | Rentenpolitik | bpb.de

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Alterssicherung in Europa/im internationalen Vergleich Rentenpolitik kompakt

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

/ 5 Minuten zu lesen

In der EU gilt der Grundsatz der nationalen Zuständigkeit der Länder in der Rentenpolitik. Vor dem Hintergrund der Finanz-, Banken- und Verschuldungskrise hat die EU ein Instrumentarium zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung eingeführt. Um was geht es?

EU-Flagge und Flaggen der EU-Mitgliedstaaten im Europagebäude in Brüssel. In allen Ländern der Europäischen Union stellt die Alterssicherung den Kern des Wohlfahrtsstaates und des Systems der sozialen Sicherung dar. (© picture-alliance, NurPhoto)

Andere Länder als Vorbild?

Der Verweis auf andere Länder und dort durchgeführte Rentenreformen gehört zu den häufigsten Argumenten in rentenpolitischen Debatten: Land x oder Land y werden schnell zu "Vorbildern" stilisiert, ohne dass in den Diskussionen auch nur annähernd ausreichende Informationen über Architektur und Funktionsweisen der dortigen Alterssicherungssysteme vorliegen. Dabei gilt: Alterssicherungssysteme sind in praktisch allen fortgeschrittenen Ländern der Welt hoch komplexe Systeme. Ihre Entstehung und Entwicklung folgt langfristig bestimmten Pfaden, so dass nicht ohne weiteres einzelne Elemente oder Reformen auf andere Länder übertragen werden können. Dennoch kann ein Blick über den Tellerrand Anregungen geben und helfen, die Richtung von Maßnahmen zu bestimmen.

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern beziehen sich im Besonderen auf folgende Aspekte: Die abgedeckten Leistungsbereiche (Alterssicherung, Hinterbliebenensicherung, Invaliditätssicherung, Rehabilitation), die Sicherungsziele und -niveaus, die institutionelle Ausgestaltung, den gesicherten Personenkreis, die Anspruchsvoraussetzungen, die Leistungsanpassung und das Finanzierungsverfahren. In keinem Land gibt es ein einheitliches, alle Bereiche und Ziele der Alterssicherung der gesamten Bevölkerung abdeckendes System. Immer setzt sich die Alterssicherung aus einem spezifischen Mix von Einzelsystemen zusammen, die oft auch als Schichten der Alterssicherung bezeichnet werden. Zu unterscheiden ist hier zwischen allgemeinen bzw. Regelsystemen, zusätzlichen Systemen und ergänzenden privaten Systemen. In diesem Mix kommt es zu einem Zusammenspiel von verdienstabhängigen und verdienstunabhängigen Leistungszielen. Auch bei der Finanzierung verbinden sich das Kapitaldeckungsverfahren, im Bereich der betrieblichen und privaten Altersvorsorge, und das Umlageverfahren, bei den allgemeinen und verdienstabhängigen Systemen.

Alle Länder weisen eine Form der Einkommenssicherung für ältere Menschen auf, deren Primärziel darin besteht, Armut zu verhindern. Erfasst wird in der Regel die gesamte (Wohn)Bevölkerung; Leistungsanspruch und Leistungsniveau hängen nicht vom Erwerbsstatus und der Höhe des vormaligen Einkommens ab. Die Finanzierung erfolgt über Steuern und im Umlageverfahren. Alle Länder sehen zugleich Systeme vor, die älteren Menschen eine als angemessen angesehene Ersatzquote ihres vor der Rente bezogenen Einkommens sichern sollen. Diese erwerbs- und verdienstabhängigen Regelsysteme sind als obligatorische Sozialversicherungen ausgestaltet, sie erfassen entweder die gesamte Erwerbsbevölkerung (Volksversicherung) oder auch nur die abhängig Beschäftigten bzw. einzelne Gruppen der abhängig Beschäftigten. Die Höhe der Rente hängt von der Dauer der Beschäftigung und Beitragszahlung sowie der Höhe des letzten oder des durchschnittlichen Erwerbseinkommens ab. Diese Äquivalenzbeziehung zwischen Rente und Vorleistungen kann streng ausfallen oder durch Elemente des sozialen Ausgleichs (Umverteilung), etwa durch die Gewährleistung von Mindestrenten, stark abgemildert werden. Die Höhe der Einkommensersatzquote hängt vom Leistungsniveau ab. Die Finanzierung erfolgt in der Regel über Beiträge und ergänzende Steuerzuschüsse.

Zusatzsysteme zielen auf die Aufstockung der Renten entweder aus erwerbsbezogenen Regelsystemen, deren Niveau aber alleine nicht ausreicht, um einen angemessenen Einkommensersatz sicherzustellen, oder aus verdienstunabhängigen Systemen (Grundrenten). Sie finanzieren sich über Beiträge und basieren auf dem Kapitaldeckungsverfahren. Die Rentenberechnung erfolgt hier nach dem Äquivalenzprinzip.

In allen Ländern der Europäischen Union stellt die Alterssicherung den Kern des Wohlfahrtsstaates und des Systems der sozialen Sicherung dar. Das wird deutlich, wenn man die finanziellen Dimensionen betrachtet. Allerdings sind auch hier die Unterschiede zwischen den Ländern erheblich. Entscheidend für die Einkommens- und Versorgungslage der älteren Generation sind aber nicht allein die institutionellen Ausgestaltungsvarianten der Alterssicherung und die Höhe der getätigten Ausgaben. Es kommt darauf an, ob und inwieweit die jeweiligen nationalen Systeme im Zusammenwirken ihrer Komponenten die Ziele Armutsvermeidung und Lebensstandardsicherung erreichen: So gibt es Länder mit sehr hohen Quoten der Altersarmut und Länder mit einer geringen Betroffenheit. Zugleich zeigen sich große Abweichungen beim Leistungsniveau (in Relation zum vormaligen Erwerbseinkommen). So weist Österreich ein wesentlich höheres Niveau als Deutschland auf.

Unterschiede zwischen den europäischen Ländern zeigen sich nicht nur hinsichtlich der Konstruktionsprinzipien und Leistungen der Alterssicherungssysteme, sondern auch hinsichtlich des Rentenalters: Wie lange muss gearbeitet werden, ab wann besteht der Anspruch auf eine Altersrente? Der demografische Wandel wirkt sich in allen Ländern aus. Insofern gibt es in jedem Land der EU seit Jahren eine intensive und in der Regel kontroverse Debatte über die Frage, ob und inwieweit es auf kürzere, mittlere und längere Sicht zu einer Anhebung der Altersgrenzen kommen soll und wird. In vielen Ländern kommt es zu einer schrittweisen Heraufsetzung der Regelaltersgrenzen auch über die 65 Jahre hinaus. Die zwischen Männern und Frauen abweichenden Altersgrenzen werden weitgehend eingeebnet.

Alterssicherung und die Europäische Union

Die EU ist bis heute in ihrem Kern eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, aber keine Sozialgemeinschaft. Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU ist eindeutig festgelegt, dass Maßnahmen der EU in die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsstaaten allenfalls nachrangig eingreifen dürfen. Es gilt der Grundsatz der Subsidiarität. Der Grundsatz, dass die Sozialpolitik, auch und gerade in der Alterssicherung, in die ausschließliche Zuständigkeit der EU-Mitgliedsstaaten fällt, weicht seit einigen Jahren allerdings auf. Vor dem Hintergrund der Finanz-, Banken- und Verschuldungskrise hat die EU ab 2010 ein Instrumentarium zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung eingeführt, das mit Sanktionen (Strafzahlungen der betroffenen Staaten) versehen ist und das erhebliche Rückwirkungen auf die Rentenpolitik der Mitgliedsstaaten hat). In der Mitte eines jeden Jahres veröffentlicht der Europäische Rat, basierend auf den Berichten der Kommission, die länderspezifischen Empfehlungen zur Lage der öffentlichen Haushalte und zu den Wachstums- und Beschäftigungsaussichten. Diese Empfehlungen beziehen sich insofern auf die Alterssicherung, da die Ausgaben der Rentensysteme einen zentralen Posten in den öffentlichen Haushalten darstellen. Die Empfehlungen zielen darauf ab, die Rentenausgaben zu begrenzen, Beitragssatzsteigerungen zu verhindern und die Altersgrenzen anzuheben. Die Empfehlung zur Heraufsetzung der Regelaltersgrenze in den Rentensystemen − und zwar in automatischer Ankopplung an die Entwicklung der Lebenserwartung − findet sich mittlerweile durchgängig in den EU-Dokumenten. Auch mahnt die EU regelmäßig einen Ausbau der kapitalgedeckten privaten und betrieblichen Altersvorsorgesysteme an − ungeachtet der Verwerfungen auf den Kapitalmärkten und der anhaltenden Niedrigzinsphase.

Alterssicherung und grenzüberschreitende Beschäftigung

In einer auch durch Arbeitsmigration zunehmend verflochtenen Welt, und insbesondere in den Ländern der Europäischen Union (EU), stellt sich für immer mehr Menschen die Frage, welche Folgen es hat, wenn sie in ihrem Leben in verschiedenen Ländern gearbeitet bzw. dort in Alterssicherungssysteme einbezahlt haben, die auch und gerade in Europa sehr unterschiedlich sind. Zudem nimmt die Altersmigration zu. Immer mehr Rentner ziehen im Ruhestand in andere Länder. Aus dieser zwischenstaatlichen Mobilität erwachsen Probleme für die soziale Absicherung. Zentral sind dabei die Fragen, in welchem Land soziale Ansprüche und Leistungen erworben werden und Beiträge und Steuern gezahlt werden müssen, und ob die Ansprüche und Leistungen bei einer Rückkehr in das Heimatland oder bei einem Wechsel in ein drittes Land "mitgenommen" werden können.

Zur Sicherstellung des Grundsatzes der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat sich ein EU-Gemeinschaftsrecht entwickelt. Dieses regelt insbesondere die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer durch Abstimmung bzw. Anrechnung der Sicherungsansprüche aus den nationalen Sicherungssystemen bei grenzüberschreitender Beschäftigung. Zu den Aufgaben der EU gehören darüber hinaus die Binnenmarktregelungen für die private Altersvorsorge und der Schutz von Betriebsrentenansprüchen gegen Auswirkungen des Strukturwandels (vor allem bei Insolvenzen).

Weitere Inhalte

Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.