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Rente erst ab 70? Altersgrenzen, Alterserwerbstätigkeit

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

/ 4 Minuten zu lesen

Forderungen nach einer weiteren Anhebung der Regelaltersgrenze, etwa auf 70 Jahre, spielen in der wissenschaftlichen wie politischen Diskussion eine zunehmende Rolle. Zudem solle die Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung angekoppelt werden. Welche Gründe sprechen dafür, aber auch dagegen?

Ältere Frau bei der Weinlese im Weinberg. Um die Rente auch in Zukunft zu sichern schlagen einige Experten vor, das Renteneintrittsalter auf 71 bzw. 75 Jahre anzuheben. (© picture-alliance, blickwinkel)

In der aktuellen wissenschaftlichen wie politischen Debatte über die langfristige Finanzierungsfähigkeit der Rentenversicherung gewinnt die Forderung an Gewicht, die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze auch über das Jahr 2030 hinaus, wenn also die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre erreicht ist, fortzusetzen. Um den zu erwartenden kontinuierlichen Anstieg von fernerer Lebenserwartung und Rentenbezugsdauer (zumindest teilweise) ausgleichen, sei deshalb die weitere Anhebung der Regelaltersgrenze unverzichtbar. Hinsichtlich der für erforderlich gehaltenen Höhe der Regelaltersgrenze variieren die Vorstellungen:

Im Grundsatz zielen die skizzierten Vorschläge und Forderungen auf die Zeit nach 2030 ab. Dieser lange Zeitraum könnte Anlass sein, die Entwicklung einfach abzuwarten. Allerdings wäre dies wenig empfehlenswert. Denn zum einen sind rentenpolitische Maßnahmen mit langfristigen Wirkungen verbunden, die ebenso langfristig vorbereitet werden müssen. Zum anderen enden die amtlichen Vorausberechnungen (in den jährlichen Rentenversicherungsberichten) über das Rentenniveau und die Beitragssätze nach der Gesetzeslage im Jahr 2030 – also bereits in wenigen Jahren.

Deshalb ist zu prüfen, was die Daten und Entwicklungstrends von Lebenserwartung und Mortalität wirklich aussagen. Es handelt sich um Durchschnittswerte (arithmetische Mittel), die nicht weiter differenzieren. Aus der Fülle von internationalen und auch deutschlandspezifischen Untersuchungen lässt sich entnehmen, dass sowohl der Gesundheitszustand als auch das Mortalitätsrisiko eng mit dem sozialen Status der Menschen zusammenhängen. Dies gilt für die mittlere Lebenserwartung (bei der Geburt) als auch für die fernere Lebenserwartung (etwa ab Erreichen des 60. oder 65. Lebensjahres): Je niedriger der Status – gemessen an Merkmalen wie Einkommen, Qualifikation, Lebensbedingungen und Art der Berufstätigkeit – desto größer sind die Risiken zu erkranken und auch früh zu versterben. Gerade im fortgeschrittenen Lebensalter prägen sich diese sozialen Ungleichheiten im besonderen Maße aus, da sich die physischen und psychischen Belastungen – verbunden mit geringeren materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen – über den Lebens- und Erwerbsverlauf hinweg kumulieren. Die Zugewinne der ferneren Lebenserwartung fallen deswegen in den unteren Statusgruppen deutlich geringer aus als in den mittleren und vor allem in den höheren Statusgruppen .

So kommen Auswertungen auf der Datenbasis des Sozio-Ökonomischen Panels , die die relative Position der Bevölkerung im Einkommensgefüge zum Maßstab nehmen, zu dem Ergebnis, dass die Abstände der mittleren Lebenserwartung zwischen der obersten und untersten Einkommensposition bei 10,8 Jahren (Männer) bzw. 8,4 Jahren (Frauen) liegen. Bei der ferneren Lebenserwartung ab 65 betragen die Spannen 7,4 Jahre (Männer) bzw. 6,3 Jahre (Frauen).

Lebenserwartung bei Geburt und ab einem Alter von 65 Jahren nach Einkommensposition (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Auch aus den Daten der Rentenversicherung lassen sich diese Unterschiede entnehmen. Sie fallen – bezogen nur auf die Arbeitnehmer:innen und begrenzt auf Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze – etwas moderater, aber immer noch deutlich aus. Vergleicht man die höchste und die niedrigste Einkommensgruppe (gemessen an der Summe der persönlichen Entgeltpunkte) zeigt sich bei der ferneren Lebenserwartung ab dem 65. Lebensjahr eine Differenz von 3,5 Jahren (Frauen) und 5,3 Jahren (Männer) .

Insofern führen pauschale Aussagen leicht in die Irre. Nicht alle Älteren haben die positive Entwicklung der Lebenserwartung im gleichen Maße mitgemacht, und werden sie auch in Zukunft nicht mitmachen. Und auch die Vorstellung, dass sich die Arbeitsbedingungen, einhergehend mit dem wirtschaftsstrukturellen Wandel, im 'Selbstlauf' weiter verbessern würden, erweist sich als fragwürdig. Differenzierte Analysen zeigen, dass sich vielmehr Belastungsschwerpunkte verschieben und es zu Verschiebungen auch zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen kommt. Auffällig ist vor allem die deutliche Zunahme bei den psychischen Anforderungen und Belastungen.

Dynamisierung der Altersgrenzen?

Zu einem grundliegenden Umbruch bei der Regelung der Altersübergänge käme es, wenn der Prozess der Anhebung der Altersgrenzen an den Anstieg der ferneren Lebenserwartung gekoppelt würde. Für diese Art der Dynamisierung wird vermehrt plädiert . Konkret schlägt z. B. Börsch-Supan eine 3 zu 2 Regel vor: Bei einer Erhöhung der Lebenserwartung um 3 Jahre solle sich die Regelaltersgrenze um 2 Jahre erhöhen.

Dabei handelt es sich keineswegs um eine rein deutsche Debatte: Eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung gibt es bereits in einigen EU-Staaten (so Dänemark, Estland, Italien und Niederlande) und wird von der OECD und von der EU-Kommission empfohlen.

Der Vorschlag erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Auch sind Dynamisierungsregelungen für die Rentenversicherung (Rentenformel und Rentenanpassungsformel) nichts Neues. Gleichwohl ist nicht nur ungewiss, welche – wie diskutiert – Arbeitnehmer:innen hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Konstitution und ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit auch tatsächlich in der Lage sind, länger zu arbeiten. Unklar ist zudem, wie sich der Arbeitsmarkt über 2030 hinaus entwickelt.

Die Anhebung des Rentenalters wäre bei einer Dynamik nicht mehr das Ergebnis eines konkreten politischen Willensbildungsprozesses. Die Politik hat sich jedoch laufend mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu befassen und muss entsprechend reagieren. Durch eine vorgegebene automatische Anpassung könnte den Besonderheiten der Alterssicherung und der jeweiligen demografischen und ökonomischen Entwicklung nicht mehr Rechnung getragen werden . Eine solche Entmachtung von Politik und Parlament führt dazu, Regelungen, die für die Lebenslage der Mehrheit der Bevölkerung grundlegend sind, ohne Rücksicht auf die konkreten Folgen als "alternativlos" erscheinen zu lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lampert u.a. 2014; Lampert u.a. 2016.

  2. Lampert u.a. 2011, S. 248.

  3. Lauterbach u.a. 2006.

  4. Vgl. u.a. Deutsche Bundesbank 2016, S. 10; Wissenschaftlicher Beirat 2016; Sachverständigenrat, 2016, S. 305.

  5. 2017; Börsch-Supan 2018.

  6. Vgl. Rische 2013, S. 216.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Gerhard Bäcker, Ernst Kistler für bpb.de

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Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.