In den letzten 50 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland für ein neugeborenes Mädchen von rund 72 auf rund 83 Jahre, für einen neugeborenen Jungen von rund 66 auf gut 78 Jahre gestiegen. Im Durchschnitt sind Ältere heute auch unbestreitbar fitter als Personen gleichen Alters vor Jahrzehnten.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich mit dem Paradigmenwechsel weg von einer Frühverrentungspolitik und hin zu einer Politik der Steigerung der Erwerbstätigkeit Älterer (bzw. genereller einer Politik des "aktiven Alters"), das öffentlich diskutierte Bild von der Leistungsfähigkeit Älterer gewandelt hat. Nicht mehr von einem frühzeitigen Abbau der Leistungsfähigkeit Älterer, sondern von einem Leistungswandel ist die Rede; es werden die besonderen Fähigkeiten Älterer hervorgehoben. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob parallel zur steigenden Lebenserwartung die Fähigkeit wächst, auch tatsächlich länger – bis hin zum 67. Lebensjahr und darüber hinaus – zu arbeiten. Sind ältere Arbeitnehmer:innen in ihrer Gesamtheit hinsichtlich ihrer körperlichen und psychischen Konstitution sowie – davon abgeleitet – hinsichtlich ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit dazu in der Lage?
Leistungsfähigkeit im Alter – Aspekte der Messung
Die kognitive Leistungsfähigkeit im Erwachsenenalter wird in der psychologischen Forschung zunächst unter dem Aspekt des Verlaufs der kristallinen und der fluiden Intelligenz betrachtet. Erstere beschreibt die erfahrungsgebundene Intelligenz, d. h. die Fähigkeit zur Lösung vertrauter kognitiver Probleme, letztere beschreibt die Mechanik der Intelligenz, d. h. kognitive Basisoperationen, die vor allem für die Bewältigung neuartiger kognitiver Probleme notwendig sind.
Für diese beiden Dimensionen ist ein differenzieller Verlauf charakteristisch, der in Ansätzen bereits im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter erkennbar ist: Während die Leistungsfähigkeit in der kristallinen Intelligenz über weite Abschnitte des Erwachsenenalters erhalten bleibt oder sogar weiter zunimmt, geht die Leistungsfähigkeit in der fluiden Intelligenz – bedingt durch abnehmende Plastizität und zunehmende Schädigungen des Zentral-Nerven-Systems – zurück.
Quelle: Kruse (2000), S. 72.
Im Ergebnis dieser Forschungsergebnisse wird demnach angenommen, dass die Beschäftigten hinsichtlich ihrer kristallinen Intelligenz heute eher in der Lage sind, länger zu arbeiten als in der Vergangenheit. Ältere sind danach zwar nicht genauso, sondern anders (und höchst unterschiedlich) leistungsfähig. Dagegen nimmt die fluide Intelligenz, die für die schnelle Bewältigung neuartiger kognitiver Probleme wichtig ist, deutlich früher ab, wobei auch dies sich unter günstigen Bedingungen ein Stück weit hinausschieben lässt.
Ein entscheidendes Problem, das mit der Abwendung vom Defizitmodell des Alters hin zum Kompetenzmodell verbunden ist, ist die mangelnde Differenzierung dieser an sich, für den Durchschnitt der Beschäftigten, wohl zutreffenden Argumentationsketten: Nicht in allen Berufen und Branchen führt der wirtschaftsstrukturelle Wandel zu abnehmenden Arbeitsbelastungen. Nicht jede(r) Beschäftigte hat Arbeitsbedingungen, die es erlauben würden länger zu arbeiten. Es gibt in diesen Fragen eine erhebliche Streuung zwischen Individuen respektive Gruppen.
Der alterungsbedingte Leistungswandel wirkt sich für bestimmte Beschäftigtengruppen nachteilig aus: Im betrieblichen Alltag werden die beruflichen Chancen all jener Älteren beeinträchtigt, die in solchen Berufen und Tätigkeitsfeldern eingesetzt sind, bei denen die mit dem Alter eher rückläufigen Leistungsmerkmale ein besonderes Gewicht haben.
Besonders gefährdet sind deswegen Beschäftigte, die belastungsintensive Tätigkeiten ausüben
mit starken körperlichen Belastungen verbunden sind (z. B. körperliche Schwerarbeit oder einseitige Belastungen),
einem hohen Arbeitstempo unterliegen (z. B. Band- und Akkordarbeit),
mit ungünstigen Arbeitszeitregelungen (Wechselschicht- und Nachtarbeit) zusammenhängen,
unter ungünstigen Arbeitsumgebungseinflüssen (z. B. Hitze, Lärm, Nässe, Schmutz) durchgeführt werden müssen.
Für zahlreiche Berufe und Arbeitsplätze gibt es insofern begrenzte Tätigkeitsdauern, d. h. faktische Höchstaltersgrenzen, die eine Weiterarbeit bis zum 65. und erst recht bis zum 67. Lebensjahr praktisch unmöglich machen (so z. B. in der Alten- und Krankenpflege, in Montagebereichen der Automobilindustrie, im Transport- und Verkehrswesen oder im Bauhaupt- und Baunebengewerbe).
Auch bei den Altersübergangswegen spielt die Gruppenspezifität der berufs-/tätigkeitsbezogenen Arbeitsbelastungen eine große Rolle. So führen langjährige körperliche Schwerarbeit oder hohe psychische Arbeitsbelastungen bei geringer Handlungsautonomie dazu, dass in den betroffenen Gruppen besonders viele Beschäftigte nicht bis zum 65. oder gar 67. Lebensjahr arbeiten können.
Ausdrücklich ist an dieser Stelle auch noch darauf hinzuweisen, dass die oben angesprochene gängige Vorstellung sich als Mythos erweist, dass die Arbeitsbedingungen sich auch heute noch, evtl. auch einhergehend mit dem wirtschaftsstrukturellen Wandel, im 'Selbstlauf' weiter verbessern würden. Differenzierte Analysen zeigen, dass sich vielmehr nur die Belastungsschwerpunkte verschieben und es zu Verschiebungen auch zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen kommt.
Auch die Bundesregierung konzediert dies: "Die körperlichen Anforderungen haben sich seit Mitte der 1980er Jahre kaum verändert… Eine deutliche Zunahme findet sich dagegen bei den psychischen Anforderungen"
Betriebliche Interessen und Strategien
Die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre wirft direkt die Frage auf, inwieweit die Betriebe ein Interesse haben, ältere Beschäftigte länger zu halten bzw. ältere Bewerber vom externen Arbeitsmarkt überhaupt einzustellen. Eine pauschale Antwort auf diese Fragen verbietet sich. Zunächst ist festzustellen, dass es viele Unternehmen gibt, die – vor allem vor dem Hintergrund des hohen Fachkräftebedarfs - ihre älteren Mitarbeiter:innen wertschätzen und auch Ältere vom externen Arbeitsmarkt einstellen.
Aber immer noch gibt es Betriebe, die eine jugendzentrierte Personalpolitik betreiben – vor allem gegenüber älteren Bewerbern vom externen Arbeitsmarkt. Sehr stark hängt diese Frage im konkreten Fall auch von der Position/Tätigkeit ab, um deren Besetzung es geht. Entscheidend ist zudem, ob ein Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen Personal abbaut.
Andererseits lässt sich das Argument, Ältere kämen den Betrieben teurer als Junge, nur eingeschränkt bestätigen. So haben Ältere zwar klar mehr Arbeitsunfähigkeitstage als Junge. Sie sind aber deutlich seltener arbeitsunfähig; ihre Fehlzeiten sind dafür viel länger, insbesondere kurz vor dem Erwerbsaustritt. Einen erheblichen Anteil der dadurch entstehenden Kosten tragen dann, nach dem Ende der Entgeltfortzahlung, die Krankenkassen.
Ebenfalls gibt es in Deutschland kaum eine altersbezogene Senioritätsentlohnung, sondern nur häufig eine von der Betriebszugehörigkeitsdauer abhängige Senioritätsentlohnung, die eher bei Höherqualifizierten ausgeprägt ist. Für Betriebe wird eine Verjüngung der Belegschaft daher nur dann zu Kosteneinsparungen führen, wenn sie die Älteren durch Junge ersetzen; speziell solche die besonders billig sind (Praktikanten, befristet Beschäftigte etc.).
Unter dem Begriff Senioritätsentlohnung werden in der öffentlichen Debatte fälschlicherweise zwei verschiedene Dinge synonym benutzt: Erstens eine altersabhängig ansteigende tarifliche Bezahlung, wie sie früher in Deutschland in einzelnen Tarifverträgen, vor allem im BAT (Bundesangestelltentarifvertrag des Öffentlichen Dienstes) verankert waren. Soweit es eine solche altersbezogene Senioritätsentlohnung überhaupt gab, wurde sie in den letzten Jahrzehnten weitgehend eingeschränkt.
Zweitens eine mit der Dauer der Unternehmenszugehörigkeit verbundene Entgeltsteigerung. Dabei galt lange Zeit ein Konsens, dass die Einstiegslöhne Jüngerer unterhalb ihrer Produktivität liegen sollten, um dann mit zunehmender Dauer der Unternehmenszugehörigkeit (auch über die Produktivität im Alter hinaus) anzusteigen. Mit diesem "impliziten Vertrag" versuchten die Unternehmen, Mitarbeiter auf Dauer an sich zu binden. Dagegen ist es eigentlich im wohlverstandenen Interesse von Unternehmen, sich auf ein im Schnitt demografisch deutlich älter werdendes Angebot an Arbeitskräften (und die Alterung ihrer Belegschaft) einzustellen. Der Anteil Älterer (hier definiert als 50- bis 64-Jährige) wird für einige Jahrzehnte erheblich höher sein als Anfang des Jahrhunderts. Ein Wettbewerb auf dem Personalmarkt für Junge könnte dagegen absehbar durchaus eintreten.