Hinterbliebenenrenten 2022
Die Hinterbliebenenrenten machen 2022 rund 22 Prozent aller gezahlten Renten und 15,0 Prozent der gesamten Rentenausgaben aus.
Funktion von Hinterbliebenenrenten
Auch heute noch unterscheiden sich Männer und Frauen stark hinsichtlich ihrer Erwerbsbeteiligung. Die Berufstätigkeit von Frauen, gerade von Ehefrauen und Müttern, nimmt seit Jahren zu. Das traditionelle Modell der Hausfrauen- und Versorgerehe, bei dem die Frau sich ausschließlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert und kein eigenes Einkommen hat, dominiert heute nicht mehr. Aber von der Gleichstellung der Geschlechter sind wir noch weit entfernt. Es dominiert das Modell der modifizierten Versorgerehe: Der Mann ist hauptzuständig für den Einkommenserwerb, die Frau verdient deutlich weniger und ergänzt − häufig auf der Basis von Teilzeitarbeit − das Familieneinkommen.
Damit hängen das Familieneinkommen und zugleich die materielle und soziale Sicherung der Frauen mehr oder minder stark vom Einkommen des Mannes bzw. im Alter von der Rente des Mannes ab. Entfällt durch den Tod des Mannes sein Einkommen oder seine Rente, geraten die Familienangehörigen, die Ehefrau und die Kinder, in eine existentielle Notlage. Solange diese Geschlechter- und Arbeitsmarktverhältnisse so sind, bedarf es zwingend einer Hinterbliebenenversorgung. Durch die Zahlung von Witwen- und Waisenrenten (und seit 1987 auch Witwerrenten) soll im Fall des Todes eines Versicherten oder Rentners für die Existenzsicherung der Hinterbliebenen gesorgt werden.
Hinterbliebenenrenten (in der Gesetzessprache "Renten wegen Todes") haben insofern eine Unterhaltsersatzfunktion (vgl. Kasten). Sie sind ein unverzichtbares Element des solidarischen Ausgleichs in all jenen Alterssicherungssystemen, in denen Rentenzahlung und Rentenhöhe an eine Erwerbstätigkeit und die Höhe des Erwerbseinkommens gebunden sind (also z. B. keine "pauschale Grundrente" an alle gezahlt wird).
Die Funktion von Hinterbliebenenrenten
"Den Renten wegen Todes kommt grundsätzlich die Funktion zu, den Unterhalt, zu dem der verstorbene Versicherte gegenüber seinen Hinterbliebenen zu leisten verpflichtet war, auch weiterhin für die berechtigten Hinterbliebenen sicherzustellen. Das Prinzip des Unterhaltsersatzes ist der konzeptionelle Leitgedanke für das Recht der Renten wegen Todes".
Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2012, S. 364.
Ein historischer Rückblick
Renten wegen Todes waren in der ursprünglichen Bismarck'schen Invaliditäts- und Alterssicherung für Arbeiter von 1889/91 noch nicht vorgesehen. Es gab jedoch bereits lange zuvor in Vorläuferformen der Sozialversicherung (bei Bergleuten und Handwerkskassen, lokalen Unterstützungskassen) vereinzelte entsprechende Regelungen. "Diese Kassen standen aber nur Mitgliedern mit relativ sicheren und hohen Wochenlöhnen offen. Fabrikarbeiter und Tagelöhner konnten die Beiträge nicht aufbringen"
Ab Anfang des letzten Jahrhunderts wurde dann aber schrittweise, wie z. B. ab 1907 bei den Seeleuten, eine Witwen- und Waisenabsicherung eingeführt. Mit der Reichsversicherungsordnung von 1911/12 für Arbeiter und dem Versicherungsgesetz für Angestellte von 1911/13 wurden Hinterbliebenenrenten schließlich in der Breite installiert - mit allerdings wichtigen Unterschieden zwischen Arbeiter- und Angestelltenwitwen: Während die Arbeiterwitwen nur unter der Bedingung eine Rente zustand, wenn sie selbst erwerbsunfähig/invalide waren, wurde bei den Angestelltenwitwen Erwerbsarbeit nicht eingefordert - für die (besser gestellten) Witwen von Angestellten galt Arbeit als nicht zumutbar. Erst 1927 erfolgte eine Gleichstellung der Arbeiterwitwen (vgl.
Mit der Einführung der dynamischen Rente (Rentenreform 1957) wurde die Konzeption des Hinterbliebenenrechts im Grundsatz nicht geändert, Allerdings wurden mit der Reform die Renten allgemein und damit auch die Witwenrenten erheblich erhöht. Von grundsätzlicher und zukunftsweisender Bedeutung ist dagegen die Reform durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz von 1985/86, das durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1975 erzwungen wurde: Hatten zuvor nur Frauen einen unbedingten Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente und Männer nur dann einen Anspruch auf eine Witwerrente, wenn die verstorbene Ehefrau überwiegend das Familieneinkommen verdiente, so wurden ab 1986 Witwen und Witwer gleichgestellt. Um die dadurch entstehende Ausweitung der Rentenausgaben zu begrenzen und zugleich eine Überversorgung von einzelnen Hinterbliebenen zu Lasten der Versichertengemeinschaft zu vermeiden, wurde eine Einkommensanrechnung mit einer Freibetragsregelung eingeführt. Ein weiterer Schritt zur Gleichstellung von Geschlechtern und Lebensformen wurde 2005 gemacht: Seitdem erhalten auch eingetragene Lebenspartner:innen beim Tod des Partners/der Partnerin Leistungen der Hinterbliebenenversorgung. Das gilt gleichermaßen auch für Partner:innen einer gleichgeschlechtlichen Ehe, die seit 2017 möglich ist.
Rentenarten und Anspruchsvoraussetzungen
Die Hinterbliebenenrente wird grundsätzlich lebenslang – bei Waisen bis zur Volljährigkeit bzw. bis zum Ende der Ausbildung (maximal bis zum 27. Lebensjahr) − gezahlt. Für Witwen- und Witwerrenten gelten im Fall einer neuen Eheschließung Sonderregelungen.
Kleine und große Witwen/Witwerrente
Die Witwen- bzw. Witwerrente hängt in ihrer Höhe vor allem von dem Rentenanspruch des/der Versicherten und vom Alter des/der Hinterbliebenen ab. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Witwen/Witwern, die das 45. Lebensjahr bereits vollendet haben und jüngeren Hinterbliebenen. Bei jüngeren Hinterbliebenen wird davon ausgegangen, dass der/dem Hinterbliebenen die Aufnahme einer eigenen Erwerbstätigkeit (wieder) zugemutet werden kann, sofern nicht Kinder erzogen werden oder Invalidität vorliegt.
Ist die hinterbliebene Person jünger als 45 Jahre, so wird eine kleine Witwen-/Witwerrente gezahlt (25 Prozent der Rente wegen voller Erwerbsminderung des/der Verstorbenen). Der Bezug der "kleinen Witwen/Witwerrente“ ist auf zwei Jahre begrenzt. Sofern später aber ein Grund für die Gewährung einer großen Witwenrente eintritt, wird die große Rente gezahlt.
Ist die/der Hinterbliebene bereits 45 Jahre alt oder älter (oder erreicht nach dem Eintreten des Hinterbliebenenfalls das 45. Lebensjahr), so besteht Anspruch auf die große Witwen-/Witwerrente, die 55 Prozent der Versichertenrente bzw. der Rentenanwartschaften der/des Verstorbenen beträgt. Gleichermaßen erhalten Hinterbliebene die große Witwen-/Witwerrente, wenn sie noch ein minderjähriges oder behindertes Kind erziehen oder selbst erwerbsgemindert sind. Hat der/die Verstorbene zum Zeitpunkt seines/ihres Ablebens selbst noch keine Versichertenrente erhalten, so errechnet sich die Hinterbliebenenrente aus einer entsprechenden unterstellten Rente wegen voller Erwerbsminderung. Tritt der Tod vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze ein, so werden Abschläge in Anrechnung gebracht (maximal 10,8 Prozent). Hat der Ehegatte/die Ehegattin bereits eine um Abschläge gekürzte Rente bezogen, so berechnet sich die Hinterbliebenenrente aus dem gekürzten Betrag.
Der 2001 von 60 auf 55 Prozent reduzierte Leistungssatz gilt aus Vertrauensschutzgründen nicht für Hinterbliebenenrenten, die bereits am 31.12.2001 bestanden haben bzw. bei Ehen, die bereits zu diesem Zeitpunkt bestanden und in denen einer der beiden Ehegatten bereits das 40. Lebensjahr vollendet hat, d. h. vor 1962 geboren wurde. Für die genannten Fälle bleibt es also bei einer großen Witwen-/Witwerrente von 60 Prozent.
Eigene Einkommen der/des Hinterbliebenen werden auf die Hinterbliebenenrente angerechnet (vgl. Rentenberechnung).
Kinderzuschlag
Die Witwer/Witwenrenten nach neuem Recht (55 Prozent) werden um Kinderzuschläge aufgestockt, wenn Kinder erzogen worden sind. Hat der überlebende Ehegatte ein Kind in dessen ersten drei Lebensjahren erzogen, so erhöht sich die Witwen-/Witwerrente nach dem Sterbevierteljahr um einen Kinderzuschlag. Der Kinderzuschlag dient als Ausgleich für die Niveauabsenkung der Witwenrente bei Neufällen. Er wird Altfällen, die davon nicht betroffen sind, nicht gewährt.
Der Kinderzuschlag errechnet sich durch die Anerkennung zusätzlicher persönlicher Entgeltpunkte für maximal drei Jahre. Bei 36 Monaten Kindererziehung beträgt der Zuschlag zwei Entgeltpunkte (das entspricht im zweiten Halbjahr 2023 monatlich 75,20 €/alte und neue Länder. Für jedes weitere Kind wird ein Entgeltpunkt angerechnet.
Infolge der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre (schrittweise und beginnend ab 2012) (vgl.
Sterbevierteljahr
Unbenommen der Art der Witwen-/Witwerrente (große oder kleine) erhält die/der Hinterbliebene in den ersten drei Monaten nach dem Tod des/der Versicherten ("Sterbevierteljahr“) grundsätzlich die volle Rente des/der Versicherten.
Erziehungsrente
Neben den Witwen- bzw. Witwerrenten gewährt die gesetzliche Rentenversicherung auch Erziehungsrenten. Diese leiten sich bei Geschiedenen (in den neuen Bundesländern für Scheidungen nach dem 1. Juli 1977) aus der Versicherung des überlebenden früheren Partners ab und sollen den durch Tod entfallenen Unterhalt ersetzen. Erziehungsrenten werden an die Anspruchsberechtigten ausbezahlt, wenn sie wegen Kindererziehung keine Berufstätigkeit ausüben können. Sie enden mit dem 18. Lebensjahr des jüngsten zu erziehenden Kindes.
Versorgungsausgleich
Einen Sonderfall zur Hinterbliebenenversorgung durch Witwen-/Witwerrenten stellt bei Scheidungen der Versorgungsausgleich dar. Bei diesem werden vom Grundprinzip her die während einer Ehe (oder eingetragenen Partnerschaft) erworbenen Renten- bzw. Versorgungsanrechte gleichmäßig auf beide Partner aufgeteilt.
Waisenrente
Kinder von verstorbenen Versicherten die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (oder sich noch – bis zum vollendeten 27. Lebensjahr, gegebenenfalls verlängert um Wehr-/Ersatzdienstzeiten – in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden oder behindert sind) erhalten eine Waisenrente. Lebt noch ein unterhaltspflichtiger Elternteil, so wird eine Halbwaisenrente bezahlt.
Waisenrenten betragen 10 bzw. 20 Prozent (Vollwaisen) der Versichertenrente, ergänzt um beitragsunabhängige Zuschläge, die in einer komplexen Berechnung von der Versicherungsdauer des/der Verstorbenen abhängen.
Rentensplitting statt Hinterbliebenenrente
Im Fall der Einkommensanrechnung kann das Berechnungsverfahren bei der Hinterbliebenenrente zu einer ungerechten bzw. einer als ungerecht empfundenen Ungleichbehandlung zwischen den Ehepartnern führen. Wird nämlich der Mann nach dem Tod seiner Frau Witwer, dann stellt sich seine Gesamtversorgungslage deutlich besser da als im umgekehrten Fall, bei dem die Frau Witwe wird. Denn da die Renten(-anwartschaften) des Mannes in aller Regel höher sind als die der Frau und die eigenen Anwartschaften immer unangetastet bleiben, bezieht der Mann selbst dann eine höhere Gesamtrente, wenn die Hinterbliebenenrente voll angerechnet wird.
Diese Ungleichbehandlung kann durch ein freiwilliges Rentensplitting-Verfahren vermieden werden. Dies ist von Vorteil, wenn die Frau hohe eigene Anwartschaften hat. Voraussetzung für dieses Verfahren, das alternativ zur Witwen-/Witwerrente wahrgenommen werden kann, ist allerdings, dass beide Partner beantragen, dass die in der Ehezeit gemeinsam erworbenen Rentenansprüche zwischen ihnen aufgeteilt werden. Die übereinstimmende Beantragung des Rentensplittings kann erst erfolgen, wenn beide Partner erstmalig Anspruch auf eine volle Altersrente haben oder zumindest ein Partner diesen Anspruch hat und der andere Ehegatte das 65. Lebensjahr vollendet hat. Mit dieser verbindlichen Entscheidung für das Rentensplitting wird eine spätere Witwen- oder Witwerrente ausgeschlossen. So lange beide Partner noch leben, erhalten beide ihre eigene - durch das Splitting aber veränderte - Versichertenrente.
Vorteile gibt es meist für Frauen, deren durch Rentensplitting erworbenen Rentenansprüche im Gegensatz zur Hinterbliebenenrente nicht der Einkommensanrechnung unterliegen. Auch bei einer möglichen Scheidung und späteren Wiederheirat mit einem anderen Partner entfallen diese erworbenen Rentenansprüche nicht. Das Rentensplitting ist zulässig, wenn die Ehe nach dem 31.12.2001 geschlossen worden ist oder die Ehe am 31.12.2001 bestand und beide Ehegatten nach dem 1.1.1962 geboren sind.