Rentenreform 1992
1989 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine erneute, größere Rentenreform, die aber wegen des Mauerfalls und der Deutschen Einheit erst 1992 wirksam wurde. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 wurde das neue SGB VI zeitgleich in den neuen Ländern eingeführt (vgl. Kasten; zu den Regelungen für die neuen Bundesländer Renten in den neuen Bundesländern).
Wichtigste Elemente des Rentenreformgesetzes 1992 waren die Bindung der Rentenanpassung an die Nettolohnentwicklung und die Anhebung der Altersgrenze auf generell 65 Jahre (Ausnahme: Schwerbehinderte). Vorzeitiger Renteneintritt wurde mit (versicherungsmathematisch neutralen) Abschlägen belegt (vgl.
Chronik der Rentenversicherung seit 1990
1990 | Rentenangleichungsgesetz (Bundestag) und Gesetz über die Sozialversicherung (Volkskammer); Einigungsvertrag |
1991 | Rentenüberleitungsgesetz und weitere Regelungen im Kontext der Deutschen Einheit |
1992 | Inkrafttreten Rentenreformgesetz (u. a. Rentenanpassung gemäß Nettolohnentwicklung, stufenweise Anhebung Altersgrenzen, Einführung von Rentenabschlägen) |
1996 | Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz; Beitragsentlastungsgesetz; Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand |
1999 | Rentenreformgesetz (Heraufsetzung vorgezogener Altersgrenzen, Abschläge bei vorzeitigem Rentenbezug, Verbesserungen bei Kindererziehungszeiten) |
2000 | Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit |
2001 | Altersvermögensergänzungsgesetz und Altersvermögensgesetz (v. a. Förderung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge, Absenkung des Rentenniveaus) Gesetz zur Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter |
2004 | Alterseinkünftegesetz (stufenweise Umstellung auf nachgelagerte Besteuerung) |
2004 | RV-Nachhaltigkeitsgesetz (Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors in die Rentenanpassungsformel) |
2004 | Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung (Neue Organisationsstruktur der gesetzlichen Rentenversicherung, Überwindung der Trennung zwischen Angestelltenversicherung und Arbeiterrentenversicherung) |
2007 | RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (Stufenweise Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre ab 2012) |
2010 | Haushaltsbegleitgesetz (Streichung der Rentenversicherungsbeiträge für Bezieher:innen von ALG II) |
2013 | Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Förderung der privaten Altersvorsorge (u.a. Einführung eines Produktionsinformationsblatts) |
2014 | Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz (Befristete Einführung einer abschlagsfreien Altersgrenze ab 63 Jahren, Einführung eines zweiten Kindererziehungsjahres für Geburten vor 1992 („Mütterrente“), Ausweitung der Zurechnungszeiten für neu zugehende EM-Renten) |
2016 | Flexi-Rentengesetz (Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand, Stärkung von Prävention und Rehabilitation) |
2017 | EM-Leistungsverbesserungsgesetz (Ausweitung der Zurechnungszeiten) |
2017 | Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz (Einheitliche Rentenwerte in den alten und neuen Bundesländern ab 2025; Abschmelzung des Umrechnungsfaktors) |
2017 | Betriebsrentenstärkungsgesetz (Grundlegender Richtungswechsel in der betrieblichen Altersversorgung: Ermöglichung von reinen Beitragszusagen (Sozialpartnermodell), Anhebung des steuerfreien Dotierungsrahmens, Förderbetrag für Geringverdiener und weitere Veränderungen |
2018 | Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz (Ausweitung der Zurechnungszeiten, Mütterrente II, Einführung einer doppelten Haltelinie für Rentenniveau (48 %) und Beitragssatz (20 %) bis 2025) |
2020 | Grundrentengesetz (Einführung eines Grundrentenzuschlags für langjährig Versicherte) |
Bis 2014: Leistungseinschränkungen
Die Rentengesetzgebung seit 1992 ist in hohem Maß durch Einsparmaßnahmen geprägt. Diese wurden in einer Reihe zeitlich eng getakteter Einzelgesetze beschlossen, die oft nur Teilgruppen der Versicherten trafen, in der Summe aber nicht unerhebliche Leistungseinschränkungen bedeuten. Daneben gab es aber auch einzelne Maßnahmen, die alle Versicherten betrafen, so z. B. und vor allem die Absenkung des Leistungsniveaus durch die Neuberechnung des aktuellen Rentenwertes. Generell gilt − und das ist insbesondere vor dem Hintergrund der politisch gewollten Absenkung des Lohnersatzniveaus der gesetzlichen Renten bei gleichzeitiger Förderung freiwilliger betrieblicher und privater Vorsorge zu sehen −, dass dem Ziel der Beitragssatzstabilität oberste Priorität eingeräumt wurde.
Hervorhebenswert sind an dieser Stelle - und durchaus im letztgenannten Sinne - die erheblichen Leistungseinschränkungen durch erstens das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus dem Jahr 2000 und zweitens ("Rente mit 67") das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz von 2007 (vgl.
QuellentextDie Rentenreform 2001 als tiefer Einschnitt
"Der mit dieser - so Riester - "für unser Land überlebensnotwendigen Reform" durchgesetzte Paradigmenwechsel manifestierte sich vor allem in folgenden Aspekten:
Dominanz des Ziels der Beitragssatzstabilität, damit Realisierung einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik und Abkehr von einem Leistungsziel.
Entkoppeln der Entwicklung der Renten von der Lohnentwicklung.
Partieller Ersatz der umlagefinanzierten durch kapitalmarktabhängige (geförderte) Alterssicherung, also nicht mehr − wie bislang − primär Ergänzung der Umlagefinanzierung durch betriebliche und private Alterssicherung.
Schrittweises Auslaufen der Hinterbliebenenversorgung".
Schmähl (2011b), S. 213.
Leistungsverbesserungen ab 2014: Umkehr der Kürzungspolitik
Nach langen Jahren von überwiegend starken und nachhaltig wirkenden Leistungseinschränkungen und nach dem rentenpolitischen Stillstand in der 17. Legislaturperiode 2009 - 2013 hat die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD mit dem Rentenversicherung-Leistungsverbesserungsgesetz von 2014 deutliche Verbesserungen im Leistungskatalog der Rentenversicherung auf den Weg gebracht. Es kommt damit wieder stärker eine sozialpolitische Orientierung zum Tragen, die die Leistungsziele der Rentenversicherung ins Blickfeld nimmt und sich nicht länger ausschließlich an fiskalischen Größen orientiert und die versucht, Beiträge und Leistungen wieder in Einklang zu bringen - und zwar auch für die ältere Generation.
Die Maßnahmen im RV-Leistungsverbesserungsgesetz
Mütterrente
Abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren für einen Übergangszeitraum
Verbesserung bei den Erwerbsminderungsrenten (Ausweitung der Zurechnungszeiten)
haben im Ergebnis für viele Rentner:innen zu höheren Renten geführt. Allerdings ist damit kein Wechsel in der Alterssicherungspolitik in Richtung auf eine nachhaltige Gewährleistung der beiden Leistungsziele "Armutsvermeidung" und "Lebensstandardsicherung" eingeschlagen worden. Die Absenkung des Rentenniveaus und damit einhergehend die Fixierung am Beitragssatzziel bleibt unangetastet, aber mit der Festlegung einer doppelten Haltelinie für Rentenniveau (48 %) und Beitragssatz (20 %) bis 2025 wurde eine zwischenzeitliche Stabilisierung erreicht.
Von erheblicher Bedeutung sind auch zwei Gesetze, die 2017, am Ende der zweiten großen Koalition, verabschiedet worden sind:
Mit dem Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz ist die langjährige Debatte über die Art und Weise der Angleichung der Ost- an die Westrenten zum Abschluss gekommen. In einem bis 2025 andauernden Prozess werden die Rentenwerte in den alten und neuen Bundesländern schrittweise angeglichen, zugleich wird der Umrechnungsfaktor aufgehoben.
Das Betriebsrentenstärkungsgesetz zielt auf eine Verbreiterung der Betriebsrenten, insbesondere für Beschäftigte mit geringen Einkommen und für Klein- und Mittelbetriebe. Dazu sollen u.a. dienen
Ermöglichung von reinen Beitragszusagen
Optionsregelungen (Sozialpartnermodell),
Anhebung des steuerfreien Dotierungsrahmens,
Förderbetrag für Geringverdiener
Freibeträge bei der Grundsicherung im Alter
Mit der Einführung der sog. Grundrente ab 2021 wurde ein weitreichender Reformschritt vollzogen: Niedrigrenten werden für langjährig Versicherte durch einen Grundrentenzuschlag aufgestockt. Angeknüpft wird dabei an der bereits für Versicherungszeiten vor 1992 geltenden Regelung der „Rente nach Mindesteinkommen bzw. Mindestentgeltpunkten“. Im grundlegenden Unterschied zu dieser Vorgängerregelung kommt es bei der Grundrente jedoch zu einer Einkommensanrechnung.
Resümiert man die Geschichte der Rentenversicherung in Deutschland, so kann man feststellen:
Trotz mancher Probleme ist die Geschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung eine Erfolgsstory - nicht zuletzt hat sie zu einer erheblichen Reduzierung der Altersarmut beigetragen und das "soziale Risiko" Alter deutlich entschärft. Dies trotz zweier Weltkriege und der erheblichen Kosten der Wiedervereinigung.
Das System GRV hat sich − trotz der massiven Eingriffe im Dritten Reich und auch die vorübergehende Aufspaltung in zwei sehr verschiedene Alterssicherungssysteme im Nachkriegsdeutschland − als recht stabil erwiesen (in Bezug auf einige Organisationsreformen auch manchmal als etwas träge). In jedem Fall kann die These von der Pfadabhängigkeit von Systemen am Beispiel der Rentenversicherung als bestätigt gelten.
Genauso lässt sich − speziell mit Blick auf das Leistungsrecht der GRV − aber auch zeigen, wie stark die verschiedenen Epochen, Reformen und Einzelmaßnahmen in der Alterssicherungspolitik von den ökonomischen Rahmenbedingungen, politischen Großwetterlagen und ideologischen Deutungsmustern geprägt sind.
In Abwandlung an einen bekannten Slogan kann man feststellen: Eine gute Wirtschaftspolitik ist nicht automatisch die beste Sozialpolitik − aber sie ist eine wichtige Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik.