Es wird eng: Bis 2050 könnten zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Was das für das westafrikanische Niger, aber auch für Europa bedeutet. Eine Reportage.
"Ich habe nur vier", sagt Salamatou Baubacan. Vier Kinder tauchen aus der kreisrunden Ziegelhütte auf, stellen sich neben ihre Mutter, blinzeln unter dem Strohdach in die vom Himmel sengende Mittagssonne. Vier Kinder, das klingt immer noch beachtlich für eine gerade 20-Jährige. Doch dann treten Kind Nummer fünf, Kind Nummer sechs und Kind Nummer sieben durch die Wellblechtür: Wenn Fremde, noch dazu Weiße, sie danach fragen, ist Salamatou Baubacan ihr Kinderreichtum ziemlich unangenehm. Sie verschweigt dann die Hälfte ihres Nachwuchses.
Reich ist, wer viele Kinder hat
Tatsächlich hat die junge Frau aus Niger bereits acht Kinder auf die Welt gebracht, das erste starb noch im Mutterleib, die Jüngsten sind Zwillinge. Ihre Eltern hatten Salamatou Baubacan mit elf verheiratet, mit 13 wurde sie zum ersten Mal schwanger. Nach ihren eigenen Wünschen hat sie nie jemand gefragt. Inzwischen ist sie 20 und immer noch jung, ihr Mann ist schon 42. Salamatou Baubacan wird weitere Kinder bekommen: "Für uns gibt es keine Grenze. Inschallah, so Gott will, werden wir noch mehr Kinder bekommen." Verhüten? Kommt nicht infrage. Die Familie lebt im Landkreis Kollo, im ländlichen Niger gelten Kinder als Arbeitskräfte, Statussymbol und Altersversorger. Reich ist hier nicht, wer viel Geld sein eigen nennt. Reich ist, wer viele Kinder hat. Kinder verschaffen den Eltern Respekt.
Mütter mit sechs, neun oder 15 Kindern sind keine Seltenheit in dem westafrikanischen Staat. Niger ist das Land mit der weltweit höchsten Geburtenrate, eine Frau bekommt im Durchschnitt 7,3 Kinder. Niger ist ein Extrembeispiel, aber das Land steht dennoch stellvertretend für viele afrikanische Staaten südlich der Sahara: Seine Bevölkerung wächst trotz hoher Kindersterblichkeit rasant, weit stärker als noch vor wenigen Jahren erwartet. Im Herbst haben die Vereinten Nationen (UN) ihre Vorhersagen, wie viele Menschen auf der Erde künftig leben werden, erneut korrigieren müssen, nach oben. Die Weltbevölkerung wird demnach bis 2050 um 2,2 Milliarden anwachsen, auf dann 9,8 Milliarden Menschen. Was dies im Zeitalter neuer und weltweiter Migrations- und Flüchtlingsbewegungen bedeutet, liegt auf der Hand – auf der Erde wird es enger werden. Auch in Europa.
Merkel: "Wir müssen uns zentral mit Afrika beschäftigen"
Der Hauptgrund für das starke Bevölkerungswachstum liegt in Afrika. Derzeit leben etwa 1,25 Milliarden Menschen auf dem Kontinent. In zwölf Jahren werden es laut UN-Prognose 1,6 Milliarden sein, Mitte des Jahrhunderts 2,5 Milliarden – doppelt so viele wie heute. Es sind Menschen, die Schulen, Ärzte, Arbeitsplätze brauchen, Menschen, die Hoffnungen haben, eine Zukunft suchen. Im Nahen Osten sieht es nicht besser aus. Frauen im Irak, in Jemen oder in den Palästinensergebieten gebären im Durchschnitt vier Kinder. Das Bevölkerungswachstum auf Europas Nachbarkontinent Afrika und in der Nachbarregion Nahost ist dramatisch.
Entwicklung der Weltbevölkerung (1900 bis 2015)
Die Entwicklung besorgt Politiker, Entwicklungshelfer, Gesundheits- und Bildungsexperten, Wissenschaftler. Wenn angesichts von Bevölkerungszunahme und Klimawandel die falschen Entscheidungen getroffen würden, "riskiert der Kontinent eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe", warnt das UN-Kinderhilfswerk Unicef. Angela Merkel sieht es ähnlich. Es gebe für die steigende Zahl der Afrikaner in vielen Regionen des Kontinents zu wenig Wirtschaftswachstum, sagte die Kanzlerin jüngst. Sie forderte: "Wir müssen uns zentral mit Afrika beschäftigen."
Lange hatten Bevölkerungsexperten Zuversicht verbreitet, sie sahen erste Früchte von Fortschritt und Entwicklung. Je weiter die Staaten sich modernisieren, je wohlhabender sie werden, desto kleiner werden die Familien: Die Geburtenraten in vielen sich entwickelnden Ländern fielen. Auch dort, wo man es nicht vermutet hätte, in Indien, Brasilien oder Iran. Die Menschheit werde 2050 bei der Bevölkerungszahl mit neun Milliarden ihren Höhepunkt erreichen, hatte 2009 die Zeitschrift Economist geschrieben. 2018 erweist sich das als überholt.
"Das waren die Zeiten des Optimismus. Es gab lange die Hoffnung, dass alles gut wird", sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Er befürchtet: "Inzwischen muss man damit rechnen, dass die Menschheit erst gegen Ende des Jahrhunderts aufhört zu wachsen – womöglich später." Eher später, schätzen mittlerweile auch die UN. In Niger, wo heute etwa 21 Millionen Menschen leben, dürfte man im Jahr 2050 bei 66 Millionen angekommen sein. "Das geben die Ressourcen des Landes nicht her", warnt Klingholz. "Die meisten müssen auswandern oder sie werden an Hunger oder durch Krankheiten sterben."
Von der kargen Ernte kann sich eine Familie kaum ernähren
Salamatou Baubacan kocht vor ihrer Hütte über einem Holzfeuer Reis, sie ahnt von all dem nichts, sie muss tagtäglich ihr schweres Leben leben. Der Boden ihres Grundstücks ist hart wie Stein, ihr Mann Hamidou und sie haben den Wüstensand festgestampft, eine Lehmmauer und einen Zaun aus Zweigen um den kleinen Hof mit der Hütte gebaut. In dieser Hütte leben die Familie. Das Ehepaar und die sieben Kinder teilen sich einen Raum von zehn Quadratmetern. Sie haben zwei große Betten und eine Kommode hineingezwängt, die Türen hängen schief in den Angeln. Zum Schlafen drängen sich fünf Kinder auf dem einem Bett, über der Matratze baumelt ein löchriges Moskitonetz, es bietet kaum Schutz gegen die Mücken, die Malaria übertragen. Die Eltern und die übrigen zwei Kinder schlafen in dem anderen Bett, sie müssen ganz ohne Netz auskommen.
Den Staub zusammenzukehren, der sich auf alles und jeden in der Hütte legt, wäre sinnlos. In der Sahelzone geht die Steppe nahtlos in die Sahara über, der Sand ist überall, dringt durch jede Ritze, bedeckt Haare, Haut und Kleider. Wegen der Versteppung lassen sich nur auf drei Prozent der endlosen Landschaften Nigers Getreide, Gemüse oder anderen Nutzpflanzen anbauen. Familie Baubacan hat dabei noch Glück – sie lebt nahe dem Fluss Niger. Der überspült in der Regenzeit die Felder. Hamidou Baubacan baut in den Auen Kartoffeln, Papayas und Reis an. Doch mit der kargen Ernte kann er die Familie kaum ernähren. Seit einigen Jahren setzt die Regenzeit verspätet ein, der Fluss bleibt länger trocken, die Pflanzen auf den Feldern verdorren, die Baubacans hungern. Ein Zwilling wog bei der Geburt gerade einmal 1500 Gramm, bei den Nachbarn starb ein Baby an Unterernährung.
Was sich Salamatou Baubacan wünscht? "Meine Kinder sollen ein gutes Leben haben und immer genug zu essen", sagt sie. Wovon all ihre Kinder wirklich leben sollen, weiß sie nicht. Das Feld am Fluss kann nicht alle ernähren. "Vielleicht müssen meine Kinder woanders ihr Glück suchen." Die Bauersfrau hat gehört, dass das Leben außerhalb Nigers besser sein soll; sie verdrängt, dass sie ihre Kinder vielleicht in die Fremde schicken muss.
Auswirkungen von Trockenheit und Terrorismus
Afrika ist ein junger Kontinent, in Niger ist die Hälfte der Einwohner 15 oder weniger Jahre alt. Das Land ist kein Einzelfall. Um allen Afrikanern Arbeit zu geben, müsste man auf dem Kontinent 20 Millionen zusätzliche Jobs schaffen, rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) vor – pro Jahr. Das wird nicht passieren. Viele afrikanische Staaten haben zwar ein beeindruckendes Wachstum hingelegt, doch die Bevölkerung wächst in einigen Ländern noch schneller. So steigt die Zahl der Armen wieder, in Nigeria, im Kongo, in Niger.
Armut herrscht in all diesen Staaten nicht nur auf dem Land, sie plagt auch Städte und Metropolen. In einem Hinterhof in Nigers Hauptstadt Niamey ducken sich zwei Verschläge an eine Hauswand, Holz und Pappe schützen notdürftig gegen die Güsse der Regenzeit, Hühner scharren auf dem Sandboden, ein Kind schreit. Omar, der Sohn von Hamidou und Rowkeiya Aboubacar, zieht seine Mutter am Ärmel. Die 30-Jährige löst Milchpulver in Wasser auf, gibt dem Zweijährigen zu trinken. Omar ist zu klein für sein Alter, der Bauch ist aufgebläht, er ist unterernährt.
Vor vier Jahren sind die Aboubacars aus einem Dorf im Süden in die Hauptstadt gezogen. "Es gab keine Arbeit, kaum Wasser, auf den Feldern wuchs nichts mehr", sagt die Mutter. Ihnen blieb nur die Millionenstadt Niamey. Auch Omars Haut und Haare sind vom Sand verkrustet, die Mutter bekommt den Jungen mit der wässrigen Milch nicht satt, Tränen lösen Staub von seinen Wangen. Die Sahelzone wächst unaufhaltsam, die Sahara frisst sich nach Süden vor, bedingt durch den weltweiten Klimawandel. In Niger und damit mitten in der Sahelzone sind Klimawandel und Erderwärmung in voller Härte zu spüren. Hauptverantwortlich sind die Industrie- und Schwellenländer, die den Löwenanteil der Treibhausgase ausstoßen. Aber die Menschen in der Sahelzone tragen ihren Teil bei. Sie holzen die dürren Steppenbüsche ab, schleppen sie zu Bündeln verschnürt auf die Märkte, verkaufen sie als Feuerholz. Sie fördern so die Erosion durch Wind und Regen, machen der Wüste den Weg frei.
Zu den Plagen Hitze und Trockenheit kommen die Dschihadisten. Die Militanten von Boko Haram, Ansaru und al-Qaida legen Minen, entführen junge Mädchen und Ausländer, machen den Alltag gefährlich, die Regierung ist machtlos. Der Terror ist einer der Gründe, warum die Aboubacars in die Hauptstadt gezogen sind. Sie hatten Glück: "Mein Mann arbeitet als Hausmeister und Gärtner in einem Studentenheim. Wir haben im Hinterhof ein Zimmer und die zwei Verschläge", sagt Rowkeiya. Auch wenn die Familie kaum etwas besitzt, geht es ihr in der Stadt besser als auf dem Land. "Hier müssen wir nicht um unsere Sicherheit fürchten. Und wir bekommen Lebensmittel."
Ihr Dorf mag Rowkeiya Aboubacar verlassen haben, aus ihrem Heimatland würde sie nie weggehen. Sie liebt Niger. Neben Mutter, Vater und Sohn leben sechs Verwandte im Hinterhof. Der Neffe Amidou findet keinen Job, er ist ungeduldig und unzufrieden. Der 18 Jahre alte Elektriker glaubt, dass anderswo alles besser ist, dass er weit weg von seiner Heimat eine Chance hat: in Europa.
"Migrationspotenzial in Millionenhöhe"
Wie Amidou denken, hoffen viele. Immer mehr junge Nigrer wollen weg, verlassen die Dörfer. Nigers demokratisch gewählter Präsident Mahamadou Issoufou hat ehrgeizige Entwicklungsziele, aber mit dem Versprechen einer besseren Zukunft allein kann er seine Bürger nicht aufhalten. Die suchen ihr Glück längst in südlichen Nachbarländern wie Nigeria, Ghana oder der Elfenbeinküste, arbeiten dort als Händler, Bauarbeiter oder Taxifahrer. Andere machen sich gleich auf den Weg nach Europa.
Das US-Institut Gallup befragt alle paar Jahre weltweit mehr als eine halbe Million Menschen, ob sie auswandern wollen. In den Staaten südlich der Sahara würde fast jeder dritte Erwachsene in ein anderes Land ziehen, wenn es möglich wäre. In Nordafrika und den Ländern des Nahen Ostens war es jeder fünfte. Als Wunschziel gaben die potenziellen Migranten am häufigsten die USA an. Und dann Deutschland.
Nicht jeder, der vom Auswandern träumt, macht sich auf. Grenzschützer, geldgierige Menschenschmuggler und die Angst vor dem Tod im Mittelmeer halten die meisten am Ende ab. Trotzdem zeigt die Umfrage, wie viele Menschen sich aufmachen könnten. Ein Rechenbeispiel: Die UN erwarten, dass die Zahl der Afrikaner bis zum Jahr 2030 um rund 350 Millionen wachsen wird. Würde von ihnen, – wie derzeit – jeder Dritte auswandern wollen, wären dies 117 Millionen potenzielle Migranten. Wenn sich nur jeder Hundertste davon auf den Weg macht, wären dies fast 1,2 Millionen Menschen im Jahr – das sind so viele, wie Europa im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 aufgenommen hat.
"Wir haben ein Migrationspotenzial in Millionenhöhe", sagt Entwicklungsexperte Klingholz über Afrika. Ob der Ernstfall eintreten werde, könne niemand vorhersagen. Dies hänge auch davon ab, ob bevölkerungsreiche Länder wie Ägypten, Nigeria oder Äthiopien politisch wenigstens halbwegs stabil blieben. Doch die Migranten kommen jetzt schon. Alessandra Morelli, Beauftragte des UNHCR-Kommissariats für Flüchtlingsfragen in Westafrika, sagt: "Wer kann einen jungen Mann mit Hunger im Bauch und Ideen im Kopf aufhalten?"
Hoffnung Europa
Junge Männer mit Hunger im Bauch und dem Wunsch nach Zukunft gibt es Ungezählte. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, kann in jedem beliebigen Dorf in Niger anhalten. Ein paar Kilometer von Salamatou Baubacans Hütte entfernt ist der Dorfälteste Hamidou Bonyamari so etwas wie Bürgermeister und Seelsorger in einer Person. Wer ihn nach der größten Familie in seinem kleinen Ort fragt, den führt er auf den Dorfplatz und bietet den Ehrenplatz auf einem Teppich an. Dann führt der ehemalige Olympiaboxer Männer mit drei Ehefrauen und 20 bis 30 Kindern herbei. Das ist nur ein Teil der Familie; die Kleinen bleiben im Dorf, die Größeren gehen in eine weit entfernte Schule oder arbeiten in der Stadt, einige andere sind ausgewandert. Eine komplette Großfamilie sieht man in Niger selten.
Der Fliegengewichtsboxer Bonyamari war selbst im Ausland, in Kanada, Russland und Frankreich, als Mitglied der nigrischen Olympiamannschaft. Wenn er den Nachbarn von seinen Auslandsreisen erzählt, wird die Fremde zum Wunderland. Für das Wunderland legen Familien Geld zusammen, damit eines der Kinder, oft der älteste Sohn, es bis nach Europa schafft. Oder die jungen Männer leihen sich selbst das nötige Geld für die Reise, schmieren unterwegs Mittelsmänner, Schleuser, Polizisten, Grenzer. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Niger liegt bei umgerechnet 850 Euro im Jahr, die Hälfte der Nigrer muss täglich mit weniger als zwei Euro auskommen.
Da bleibt nicht viel – außer der Hoffnung, dass der Älteste in Europa genug verdient, um die Angehörigen in der Heimat zu unterstützen und die Schulden abzubezahlen. Die meisten riskieren die gefährliche Reise auf den Routen über das westliche und zentrale Mittelmeer, landen in Italien, auf Malta oder in Spanien. 2008 kamen 46 000 Menschen auf diesen Wegen, 2016 waren es schon gut 191 000.
Eine Frage der Gerechtigkeit?
Auch wenn Ungezählte in der Wüste verdursten oder im Mittelmeer ertrinken – der Menschenstrom reißt nicht ab. Nur: Ist die bloße Zahl der Menschen in Afrika wirklich die Ursache des Problems? Oder geht es darum, Land, Nahrung und Reichtum gerechter zu verteilen? Das ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine praktische Frage: Theoretisch kann die Erde weitere Milliarden Bewohner ernähren. Verstärken die Industrieländer durch Ausbeutung und Handelspraxis nicht Armut und Migration? Ist es anmaßend, wenn reiche Staaten, deren Bevölkerung während ihrer Entwicklungszeit rasant wuchs, heute die Menschen ärmerer Länder zur entschlossenen Verhütung drängen?
Naheliegend auch die Gegenfragen: Warum kümmern sich die Regierungen Afrikas und des Nahen Ostens so wenig um die Zukunft ihrer Bürger? Würde fairer Handel allein die allgegenwärtige Misswirtschaft und Korruption – und damit den Migrationsdruck – verringern? Wie realistisch ist es, dass die Bürger wohlhabender Staaten ihren Wohlstand teilen? Und am Ende die entscheidende Frage: Kann Europa der fatalen Entwicklung noch länger tatenlos zusehen?
Fest steht: Wenn die Bevölkerung weniger stark wächst, profitieren ein Land und seine Bürger. Das zeigen die Erfahrungen auf anderen Kontinenten, Wissenschaftler nennen dies die "demografische Dividende". So lief es in Thailand und in einigen Staaten Südamerikas, etwa in Chile. Wie man zu kleineren Familien kommt, ist bekannt: Je höher die Überlebenschancen der ersten Kinder, desto weniger Babys bringen Frauen später zur Welt. Je besser die staatliche Alterssicherung, desto weniger sind die Menschen auf vielköpfigen Nachwuchs als Garanten der eigenen Altersvorsorge angewiesen. Je höher die Einkommen, desto mehr Wert legen Menschen auf Karriere, Kultur, Komfort. Voraussetzung ist nicht allein der Zugang zu Pille oder Kondom. Je mehr Bildung Mädchen und Frauen erhalten, desto weniger Kinder bekommen sie. "Bildung ist das wirkungsvollste Verhütungsmittel von allen", sagt Bevölkerungsexperte Klingholz.
Verhütungsmittel bleiben zu teuer
In der Humedica-Klinik im Bezirk Kollo reißt eine Krankenschwester die Schutzhülle eines Kondoms auf, zieht das Präservativ heraus und erklärt zwei jungen Müttern, wie man es dem Mann überstülpt. Dann spricht sie über Antibabypille und Dreimonatsinjektion. Die Frauen hören zu, sie kichern nicht, Verhütung ist für sie ein ernstes Thema. Beide wiegen ein Baby im Arm, ein älteres Kind schaut der Schulung gelangweilt zu. "Wir zeigen den Frauen bald nach der Geburt, wie sie verhüten können", sagt Chefarzt Ribeira Da Sousa. "Viele nehmen an, dass sie nicht schwanger werden können, wenn sie stillen. Und dann kommen manchmal zwei Kinder innerhalb eines Jahres."
Der Brasilianer kümmert sich seit 2015 um die Menschen im Kreis Kollo. In seiner Klinik werden Babys geboren, Kinder geimpft. Die meisten Patientinnen wählen eine Injektion oder die Pille, damit sie selbst die Verhütung in der Hand haben: So müssen sie ihre Männer nicht zum Verwenden des Kondoms drängen. "Im Bett hat noch immer der Mann das Sagen", sagt der Arzt Da Sousa: "Will er nicht verhüten, passiert auch nichts."
Für die Hälfte der Menschen in Niger bleiben Verhütungsmittel aber trotz aller Aufklärungskampagnen unerreichbar. Es gibt kaum Apotheken, und wenn es sie gibt, bleiben Antibabypille, Injektion und Kondom für die Bauern zu teuer, eine Monatspackung der Pille kostet umgerechnet 15 Cent. Da Sousas Klinik verteilt die Verhütungsmittel daher kostenlos. "Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird in Niger alles zusammenbrechen", sagt der Mediziner. Denn zu viele Frauen verlassen sich weiter auf die traditionelle Methode: Sie zählen die Perlen einer Halskette. Eine rote Perle steht für den ersten Tag der Monatsblutung. Dann schiebt die Frau einen schwarzen Gummiring weiter, Tag um Tag. Braune Perlen zeigen die sichere, weiße die unsicheren Tage an. So wird Verhütung zum Glücksspiel.
Einsatz von Verhütungsmitteln / Einwohner unter 15 Jahren
"Animas-Sutura" versucht, wie Doktor Da Sousa, zu helfen. Das Hauptquartier der Organisation ist im Straßengewirr von Niamey schwer zu finden, am Eingang hängt kein Namensschild, es gab Drohungen. Animas-Sutura benennt sich nach dem traditionellen Wort für Schleier und Schutz. "Akzeptanz zu erlangen, war anfangs schwierig", sagt Monika Franzke, die deutsche Beraterin, das Projekt wird von der deutschen KfW-Entwicklungsbank gefördert. Der Durchbruch kam dank schwergewichtiger Verbündeter. Die Ringer des Landes machten sich stark. In Niger ist das Ringen Nationalsport, die Champions werden verehrt wie anderswo Fußballer oder Rockstars. Wenn Meisterschaften stattfinden, bilden sich Menschentrauben vor Straßencafes und Ständen, wo die raren TV-Geräte oft stehen. Mit dem Spruch "Foula anima na!" ("Der Hut ist mein bester Freund") halten die Ringer Latexröllchen in die Kamera und werben mit ihrem Ruhm für Kondome als Schutz vor Aids und Mittel der Familienplanung.
Djibo Saadatou ist ein modernes Gesicht Nigers, das städtische, wohlhabende. Die Diplomatentochter kehrte nach einer Kindheit in den USA und Frankreich vor zwölf Jahren zurück. Heute arbeitet sie als Koordinatorin für Erziehung und Bildung im SOS-Kinderdorf in Niamey. Die 114 Mädchen und Jungen wohnen je zu zehnt in einer Kinderdorf-Familie, Pflegemütter sorgen für sie, es gibt saubere Betten, Spielzeug, einen Fernseher und jeden Tag drei Mahlzeiten. Vor allem aber gibt es Schulbücher. Die Kinder lernen Französisch, Mathematik und Geschichte, werden in Literatur, Kunst und Ethik unterrichtet. Die Eltern sind häufig tot, gestorben an Aids oder Malaria. Andere Kinder wurden auf der Straße aufgelesen, die Mütter hatten sich aus Verzweiflung umgebracht. Saadatou sagt: "Bildung ist für mich der Schlüssel zur Zukunft Nigers."
Niger hat das schlechteste Bildungsniveau der Welt. Nur knapp 23 Prozent der Männer zwischen 25 und 64 Jahren können laut Weltbank lesen und schreiben, bei den Frauen sind es acht Prozent. In der jüngeren Generation sieht es kaum besser aus. Welche Kraft Bildung als Voraussetzung für kleinere Familien und für Wohlstand entfaltet, hat der Aufstieg asiatischer Boomländer wie Südkorea oder Taiwan gezeigt. Sie hatten in ihr Bildungssystem investiert. Inzwischen sind diese Staaten wohlhabend – und ihre Bürger spielen bei den Pisa-Studien vorn mit.
Niger ist das Gegenbeispiel. Frauen, die keine Schule besucht haben, bekommen im Durchschnitt noch immer mehr als sieben Kinder, zeigt eine Unesco-Studie. Haben die Frauen hingegen die ersten Klassen einer weiterführenden Schule abgeschlossen, bekommen sie vier, bei einem höheren Schulabschluss sogar nur noch drei Kinder. Derzeit besucht die Hälfte der jungen Nigrer zwischen sechs und 15 Jahren überhaupt keine Schule, 45 Prozent arbeiten bereits. Die Regierung hat die Schulpflicht bis 15 eingeführt, das Heiraten unter 16 verboten. Das wird nicht reichen: Um allen Bildung bieten zu können, müsste der Staat jedes Jahr 6000 Schulen bauen, heißt es in einer Analyse von Entwicklungsexperten.
Unterstützung aus dem Ausland
Das Land kann die Last der nachwachsenden Generation nicht stemmen, andere Staaten müssen es unterstützen. Berlin etwa fördert digitale Projekte in Afrika, 100 Millionen Euro hat das Bundesentwicklungsministerium seit 2016 in die Initiative "Digital Africa" investiert. Mit einem Klick steht die Welt offen, Kraft und Ideen der jungen Menschen bleiben aber im Land. Auch Mariama Mai Moussa ist in Niger geblieben: Sie ging zehn Jahre zur Schule, studierte Management in Niamey. Inzwischen arbeitet die 31-Jährige als Marketingleiterin bei der Fluggesellschaft Air Algérie und lebt in einem eigenen Apartment. Mariama Mai Moussa ist ledig, hat keine Kinder. In ihrem Alter ist das ungewöhnlich, die Leute tuscheln, sprechen darüber. Moussa trägt Jeans, modelt gelegentlich und hat einen britischen Freund, er kommt fünfmal im Jahr für Geschäfte ins Land. Sie sagt: "Niemand hat mir etwas zu sagen, ich selbst entscheide über mein Leben."
Obwohl die Muslimin täglich betet, trägt sie selten Kopftuch. Zwischen ihre Augenbrauen und auf ihren Arm hat sich Mariama Mai Moussa die drei Ms ihres Namens tätowieren lassen: Ein Zeichen, dass sie an sich glaubt. Sie lebt ein Leben mit Klimaanlage, Auto und Club-Besuchen, bei ihr greifen Bildung und Wohlstand ineinander, sie steht für ein modernes Niger.
Trotzdem sieht es nicht danach aus, als würden Frauen wie die Kinderdorf-Frau Saadatou und die Airline-Mitarbeiterin Moussa von heute auf morgen zum Rollenmodell, als würde die Zwei-Kind-Familie in Niger bald Normalfall. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass selbst die jüngsten Bevölkerungsprognosen überholt sind. Ein Grund ist die US-Politik, Präsident Donald Trump hat jegliche Unterstützung für Hilfsorganisationen verboten, die Abtreibung zulassen. Abtreibung ist in Niger selten, sie wird heimlich vorgenommen, viele Frauen sterben. Trumps Verbotspolitik wird die Probleme dennoch verstärken. Der Bann liegt seit Januar 2017 über allen US-Fördertöpfen für Familienplanung, sie enthalten zusammen gut eine halbe Milliarde Dollar. Ebenso betroffen ist das Budget für weltweite Gesundheitshilfe, das sind weitere neun Milliarden Dollar. Da die USA weltweit mit Abstand der größte Geber für Familienplanung sind, geht den Organisationen das Geld aus. "Die USA haben die Mittel gestrichen, es dürfte dadurch wieder mehr Kinder geben", sagt Renate Bähr, Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung. Auch ihre Stiftung verliert Geld. "Durch das Fehlen von Aufklärung und Verhütungsmitteln wird es zu mehr Abtreibungen kommen."
Bevölkerungswachstum und Ressourcenverbrauch
Aber selbst wenn der Wohlstand in Niger wächst oder gerade, weil er wächst: Die Entwicklung wird Unmengen Energie, Rohstoffe und Raum fressen, für Klimaanlagen, Autos, Supermärkte. Die Wirtschaften der Entwicklungsländer müssten wachsen, ohne zu viel Ressourcen zu verbrauchen, und die Industrieländer müssten mit weniger Ressourcen auskommen als bisher. Wirtschaft und Verbrauch aber wachsen weltweit fast parallel, die Kurven weisen nach oben, bei Energie, Öl, Wasser. Die Internationale Energieagentur erwartet, dass der Energieverbrauch bis 2040 weltweit um weitere 30 Prozent wächst.
Anstieg des Wasser- und Energieverbrauchs (seit 1900)
Es ist Wochenende. Mariama Mai Moussa, die Marketingleiterin bei Air Algérie, chattet mit ihren Freundinnen auf Facebook. Sie will Party machen. Die vier jungen Frauen wollen ins "Mooky", einen der angesagtesten Clubs der Stadt, bekannt für seine Drinks und seinen Pool, in dem die Tanzenden sich zwischendrin abkühlen. Mariama Mai Moussas Lebensart ist westlich, vor dem Haus ihrer Familie, die in der Nachbarschaft lebt, stehen mehrere Limousinen. Mariama Mai Moussa schminkt ihre Lippen rot, zieht die engste Jeans aus ihrem Schrank. Bevor sie die Party-Tour beginnt, entzündet sie in der Küche eine Handvoll Weihrauch. Das soll böse Geister abhalten.
Mal sehen, was der Abend so bringt. Aber Mariama Mai Moussa will mehr als nur einen Abend lang Spaß mit ihren besten Freundinnen im "Mooky". Sie hat eine klare Vorstellung von ihrer Zukunft: Sie möchte in einem guten Job gutes Geld verdienen, in eine schönere Wohnung ziehen.
Und sie möchte eine Familie gründen. Und Kinder haben. Sie weiß auch schon, wie viele: zwei.
Kathrin Schwarze-Reiter arbeitet als Wissenschaftsredakteurin beim Nachrichtenmagazin Focus. Sie studierte Geografie in Bamberg, Hamburg und Venedig.
Roland Preuß ist politischer Redakteur für die Süddeutsche Zeitung. Er studierte Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft in Freiburg und Edinburgh.
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