bpb.de: In 2015 und 2016 kamen etwa eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Ob die gesellschaftliche Integration gelingt, hängt auch von ihrer Integration auf dem Arbeitsmarkt ab. Wie viele Flüchtlinge konnten bislang Arbeit oder eine Ausbildung finden, Herr Brücker?
Herbert Brücker: Nach den uns vorliegenden Zahlen waren im Juli 2018 etwa 28 Prozent der Geflüchteten abhängig beschäftigt und 23 Prozent waren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Monaten etwas beschleunigt: Aktuell kommen etwa 10.000 Geflüchtete jeden Monat in Arbeit, sodass am Jahresende schätzungsweise 37 bis 38 Prozent einen Job haben werden. In fünf Jahren werden es womöglich über 50 Prozent sein.
Der Trend, den sie beschreiben, ist positiv. Trotzdem gibt es noch vieles zu tun. Wo sehen Sie beide die größten Schwierigkeiten: Sind es fehlende Qualifikationen der Arbeitsuchenden? Mangelnde Sprachkenntnisse? Oder tun sich Unternehmen und Betriebe schwer damit, Flüchtlinge in Arbeit oder Ausbildung zu bringen?
Stefan Luft: Der Punkt ist, dass eine Mehrheit der Flüchtlinge in geringqualifizierten und einfachen Tätigkeiten landet. Das sind Jobs mit niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und geringen Aufstiegsmöglichkeiten. Das hat verschiedene Ursachen: In erster Linie mangelnde Qualifikation und fehlenden Sprachkenntnisse. Aber natürlich auch das Interesse der Flüchtlinge, möglichst rasch Geld zu verdienen. Sie wollen diejenigen unterstützen, die in den Herkunftsregionen zurückgeblieben sind.
Brücker: Die Hürden und Schwierigkeiten für die Arbeitsmarktintegration sind vielfältig. Auf der einen Seite haben Flüchtlinge viele größere rechtliche Hürden für die Arbeitsmarktintegration. Auch wenn sie theoretisch schon drei Monate nach Zuzug arbeiten dürfen, so ist die notwendige Rechtssicherheit in der Regel erst nach einem erfolgreichen Abschluss der Asylverfahren hergestellt.
Auf der anderen Seite bringen die Geflüchteten auch häufig ungünstige Voraussetzungen für eine Arbeitsmarktintegration mit: Die Schulbildung ist gemischt; zwar haben knapp 40 Prozent eine weiterführende Schule besucht und 35 Prozent abgeschlossen. Aber rund ein Viertel hat nur eine Grundschule oder gar keine Schule besucht. Zwölf Prozent haben Universitätsabschlüsse, aber nur acht Prozent eine abgeschlossene berufliche Bildung. Es besteht also ein großes Nachqualifizierungspotenzial.
Allerdings hat die Integration in das Bildungssystem und in Qualifizierungsmaßnahmen ambivalente Wirkungen: Einerseits, da gebe ich Herrn Luft Recht, wäre es wünschenswert, wenn die Geflüchteten in Bildung und Ausbildung investierten. Andererseits sehen wir, wenn wir Menschen zu lange aus dem Arbeitsmarkt fernhalten, wird die Arbeitsmarktintegration schwieriger. Deshalb finde ich es nicht problematisch, wenn Teile der Geflüchteten zunächst auch geringqualifizierte Arbeit wahrnehmen – solange wir sie nicht dann allein lassen. Wir brauchen berufsbegleitende Weiterbildungs- und Sprachangebote für sie.
Luft: Entscheidend wird sein, ob denjenigen, die sich zurzeit im Niedriglohnsektor bewegen, ein Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt gelingt. Scheitern viele, haben wir natürlich neben den individuellen negativen Folgen auch entsprechende negative fiskalische Folgen. Außerdem wissen wir, dass wir in Deutschland sehr stark Integrationserfolge und Aufstiege auf dem Arbeitsmarkt über die Generationen vererben. Dass heißt, wenn es der ersten Generation nicht gelingt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch die zweite und dritte Generation Probleme hat.
Bleiben wir beim Thema Niedriglohnsektor. Im Moment boomt die Wirtschaft. Das bedeutet auch, dass Geringqualifizierte gesucht werden, zum Beispiel als Wachdienst oder in der Gastronomie. Was passiert, wenn der Boom nachlässt – vor allem mit Blick auf die Konkurrenz zwischen Beschäftigten?
Brücker: In Deutschland beobachten wir eine Polarisierung in der Tätigkeitsstruktur. Das heißt, Tätigkeiten am oberen Ende des Qualifikationsspektrums – also Spezialisten- und Expertentätigkeiten, für die man einen Hochschulabschluss braucht – entwickeln sich weit überproportional. Aber noch stärker überproportional entwickeln sich Helfertätigkeiten, für die man keine formelle Berufsausbildung benötigt.
Ob das in Zukunft so bleiben wird? Das ist eine offene Frage. Es gibt viele Leute, die über Digitalisierung forschen, und sagen, dass Berufe im Niedriglohnsektor überproportional vom Beschäftigungsabbau betroffen sein werden. In den vorliegenden Daten können wir das aber noch nicht erkennen, das Gegenteil ist der Fall. Meine Erwartung ist, aber die ist nicht unumstritten, dass wir auch in Zukunft ein überproportionales Wachstum im Bereich dieser Helfertätigkeiten haben werden. Das ist sozial nicht unproblematisch, denn damit verbunden ist eine stärkere Einkommensungleichheit.
Und wie sich die Konjunktur langfristig entwickelt, können wir nicht genau wissen. Die Helfertätigkeiten sind sehr heterogen und unterschiedlich stark von Konjunktureinbrüchen betroffen. Die Gastronomie zum Beispiel ist stark konjunkturabhängig, ganz anders als der Pflegebereich.
Herr Luft, welche Folgen sehen Sie, wenn sich der Wirtschaftsboom abschwächt?
Luft: Wenn dieser Boom nachlässt, wird die Konkurrenz im Niedriglohnsektor deutlicher und dann hat das natürlich die Konsequenz, dass Konflikte wahrscheinlicher werden. Dessen muss man sich bewusst sein. Dass momentan – von Einzelerscheinungen abgesehen – die Zuwanderung relativ friedlich vonstattengeht, hat zentral mit der lang anhaltenden Hochkonjunktur zu tun. Wenn das irgendwann nicht mehr in dem Ausmaß der Fall sein sollte, dann wird Chemnitz kein Einzelfall bleiben, pointiert formuliert.
Brücker: Das würde ich etwas optimistischer formulieren. Wir machen gerade eine Untersuchung und beobachten, dass durch die Flüchtlingsmigration die Arbeitsnachfrage generell gestiegen ist und davon profitieren besonders die deutschen Beschäftigten. Wenn wir Konkurrenz beobachten, dann ist das Konkurrenz zwischen verschiedenen Migrantengruppen.
Und noch zu dem Wort Niedriglohnsektor: Es stimmt, dass im Bereich der Helfer weniger als im Durchschnitt verdient wird. Aber die Löhne sind nicht so viel niedriger als bei den Fachkräften: Eine Person ohne abgeschlossene Berufsbildung verdient im Durchschnitt 1,3 Millionen Euro über ihr gesamtes Erwerbsleben; ein Facharbeiter 1,5 Millionen Euro. Anders ist es bei den Hochschulabsolventen: Ihre Lebensverdienste betragen 2,4 Millionen Euro. Im Helferbereich wird also gar nicht so viel weniger verdient als bei den Fachkräften, aber beide verdienen sehr viel weniger als die Hochschulabsolventen. Das hängt eben auch mit der Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zusammen, von der ich sprach.
Das heißt aber auch, dass die Sektoren, in die die Flüchtlinge reingehen, durchaus Sektoren mit wirtschaftlicher Zukunft sind. Trotzdem bleibt es richtig, dass wir dadurch die Einkommensungleichheit verstärken und damit soziale Schichtungsprobleme verbunden sind. Aber rein wirtschaftlich stellt sich die Situation nicht so dramatisch dar, wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Luft: Dazu möchte ich ergänzen: Nicht umsonst hat der Anteil derjenigen, die mehrere Jobs gleichzeitig haben oder haben müssen, um über die Runden zu kommen, zugenommen. Das Risiko der Altersarmut ist gestiegen. Das muss man sehen. Ich befürchte, dass sich Konkurrenzen und Konflikte anbahnen, die über den Arbeitsmarkt hinausgehen – und zwar zwischen einheimischen Deutschen und länger hier lebenden Zuwanderern einerseits und denjenigen, die jetzt in großer Zahl neu dazugekommen sind andererseits.
Als großes Problem sehe ich den Wohnungsmarkt. Ebenso die sozial benachteiligten Stadtteile, in denen sich bereits nicht nur die armen Inländer, sondern auch die armen Ausländer konzentrieren. Daran muss gearbeitet werden – bislang geschieht das in viel zu geringem Maße.
Brücker: Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Im Wohnungsmarkt haben wir eine Konkurrenz. Wir brauchen mehr Wohnungen und wir brauchen generell ein intelligentes Quartiersmanagement. Das heißt, wir brauchen eine gesundere soziale Mischung in den Stadteilen. Wenn man das ungesteuert dem Markt überlässt, hat das negative soziale Folgen.
Wir haben viel über Fluchtmigration gesprochen. Zur Zuwanderung gehört auch die Arbeitsmigration: Dazu zählen zum Beispiel Menschen aus den EU-Staaten, die zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Ebenso Fachkräfte aus Drittstaaten, beispielsweise IT-Experten aus Indien. Herr Brücker, Ihr Institut, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), hat eine Untersuchung veröffentlicht, in der es heißt, dass Deutschland jedes Jahr 400.000 Zuwanderer braucht, um dem demografischen Wandel gegenzuhalten. Denn ab 2025 werden nach und nach viele Erwerbstätige der geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre in Rente gehen. Zugleich haben wir eine relativ geringe Geburtenrate. Herr Brücker, 400.000 Zuwanderer pro Jahr ist eine hohe Zahl.
Brücker: Es geht bei den 400.000 um die Zahl der Netto-Zuwanderung, also die Zahl der zugewanderten minus der abgewanderten Personen. Sie würden ausreichen, um das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland konstant zu halten, das gegenwärtig auf 45 Millionen Menschen geschätzt wird. Mit einer Nettozuwanderung von 400.000 Personen hätten wir aber noch lange nicht erreicht, dass wir die steigende Lebenserwartung kompensieren. Das heißt, das Verhältnis von jenen, die erwerbstätig sind zu jenen, die nicht mehr erwerbstätig sind, wird dennoch steigen.
Wie wichtig die Einwanderung dennoch ist, kann man sich an einem hypothetischen Szenario verdeutlichen: Wenn wir keine Ein- und Auswanderung in Deutschland hätten und die Erwerbsbeteiligung unverändert bliebe, dann würde aus heutiger Sicht das Erwerbspersonenpotenzial bis 2030 um 13 Prozent oder sechs Millionen Personen abnehmen, bis 2060 um knapp 40 Prozent oder 18 Millionen Personen. Das hätte starke Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Insofern brauchen wir Einwanderung. Wir können durch Migration nicht alle Probleme lösen, aber wir können sie dämpfen. Das gelingt natürlich nur, wenn die Menschen in den Arbeitsmarkt integriert sind und die sozialen Sicherungssysteme nicht belasten.
Luft: Entscheidend sind nicht die rein quantitativen Größen der Zuwanderung. Entscheidend ist, wer kommt. Welche Qualifikationen bringen die Menschen mit? Das ist die entscheidende Voraussetzung für die Integration in den Arbeitsmarkt.
Deswegen ist es aus meiner Sicht auch nur begrenzt sinnvoll, ausschließlich darauf zu starren, ob wir 80 oder 81 Millionen Deutsche bleiben oder vielleicht auch nur 70 Millionen. Das kann man ohnehin schwer vorhersagen. Weil es, wie wir wissen, in den letzten Jahrzehnten externe Ereignisse gegeben hat, mit denen niemand gerechnet hat. Ich nenne nur mal das Verschwinden des Eisernen Vorhangs. Entscheidend für die Bewältigung der Herausforderungen des sogenannten demografischen Wandels ist auch, dass die Qualifikation der hier lebenden Bevölkerung steigt. Dafür bedarf es entsprechender Anstrengungen und entsprechender Investitionen, aber auch einer Migrationssteuerung und die ist schwierig genug.
Die Steuerung der Migration soll über ein Einwanderungsgesetz geregelt werden, über das die Regierung diskutiert. Wie kann und sollte ein solches Gesetz Migration steuern? Was sind Ihrer Meinung nach die beiden wichtigsten Elemente?
Brücker: Aus verschiedenen Gründen werden wir stärker profitieren, wenn hoch qualifizierte oder qualifizierte Arbeitskräfte nach Deutschland kommen. Ich denke, ein vernünftiger Steuerungsmechanismus braucht dafür zwei Dinge. Erstens eine Arbeitsplatzzusage. Aus der Forschung wissen wir, dass für jemanden, der beim Zuzug einen Arbeitsplatz hat, auch dauerhaft eine positive Beschäftigungsprognose gilt. Zweitens, dass die Menschen nachweisen, dass sie einen Hochschulabschluss oder berufsqualifizierenden Abschluss haben. Der Streit geht darum, ob die Abschlüsse nach den deutschen Standards anerkannt sein müssen. Das ist bürokratisch extrem aufwendig und funktioniert vom Ausland aus extrem schlecht. Außerdem halte ich es nicht für notwendig. Das Beispiel der Einwanderung aus der Europäischen Union, wo wir auch keine Gleichwertigkeitsprüfung verlangen, zeigt, dass die Arbeitsmarktintegration gut gelingt. Ich würde es nur bei reglementierten Berufen zur Bedingung machen, zum Beispiel bei Ärzten.
Luft: Man muss zunächst einmal sagen, dass wir die Arbeitsmarktmigration in den zurückliegenden zehn bis fünfzehn Jahren massiv erweitert haben. Wir haben die Zugangsmöglichkeiten soweit liberalisiert, dass die OECD sagt, Deutschland habe das liberalste Arbeitsmarktregime der OECD-Staaten.
Doch man hat im Zuge der Liberalisierung das Mindesteinkommen für zuziehende Hochqualifizierte reduziert. Aus meiner Sicht müsste ein Einwanderungsgesetz vermeiden, dass ausländische Arbeitnehmer in eine Lohnkonkurrenz mit einheimischen treten und die Arbeitgeber auf diese Weise das Gehaltsniveau unterlaufen können. Es muss auch vermieden werden, dass Lohndruck entsteht zum Nachteil älterer Beschäftigter und Berufseinsteiger.
Die Arbeitgeber haben ein Interesse an einem grundsätzlich offenen und unbegrenzten Arbeitsmarktreservoir. Sie haben schon heute ein Reservoir, das aus weiteren 27 EU-Staaten besteht. Das reicht ihnen aber nicht. Deshalb muss man bei diesen ganzen Themen auch die unterschiedlichen Interessen miteinbeziehen, die im Spiel sind.
Brücker: Es stimmt, die OECD hat gesagt, wir hätten eines der liberalsten Einwanderungssysteme auf der Welt. Diese Behauptung hält einer empirischen Überprüfung jedoch nicht stand. Nur rund ein Zehntel der Zuwanderer aus Drittstaaten kommt über Erwerbskanäle. Das waren 2017 60.000 Personen. Ihnen standen 20.000 Abwanderer gegenüber; das ergibt ein Plus von 40.000 Personen. Das ist eine homöopathische Dosis gemessen an der Gesamtzuwanderung. Das heißt, die Kanäle, die wir geschaffen haben, funktionieren ganz offensichtlich nicht. Und das hat Gründe: In Deutschland muss ein Einwanderer diverse Hürden überspringen: Arbeitsplatzzusage, Einkommensgrenzen, Berufsabschlüsse, Gleichwertigkeitsanerkennungen, Vorrangprüfung und mehr. Das gibt es in erfolgreichen Einwanderungsländern nicht. Deshalb fallen wir im internationalen Wettbewerb um die qualifizierten Arbeitskräfte zurück. Diese Kräfte gehen in andere Länder. Wir brauchen deshalb eine pragmatische und liberalere Gestaltung des Einwanderungsrechts für qualifizierte Arbeitskräfte. Wir reden hier wirklich über eine Zukunftsfrage, die wir lösen müssen.
Luft: Es gibt gute Gründe, keine Deregulierung der arbeitsmarktbezogenen Migration vorzunehmen. Wir wissen, dass die Arbeitsmigration ein entscheidender Punkt für die Brexit-Entscheidung der Briten war. Wenn wir den inneren Frieden bewahren wollen, müssen wir die Arbeitsmärkte schützen, sonst ergeben sich häufig unbeabsichtigte Nebenwirkungen, die erheblich sein können.
Das Interview führte Sonja Ernst.