bpb.de: Herr Urban, Sie sind im Vorstand der IG Metall. Ihre Gewerkschaft hat es zuletzt geschafft, wieder mehr Mitglieder zu gewinnen. Aber auch die IG Metall steht vor einer Herausforderung: Künftig wird die Zahl ihrer Mitglieder, die in Rente gehen, steigen. Wie groß ist das Problem?
Hans-Jürgen Urban: Die zentrale Machtquelle der Gewerkschaften ist ihre Verankerung in den Betrieben und Belegschaften. Das soll auch so bleiben. Natürlich ist auch die IG Metall als Massenorganisation genauso vom demografischen Wandel betroffen wie die Gesellschaft insgesamt. Aber ich mag diesen katastrophischen Unterton nicht, der oftmals die Debatte prägt. Ältere Menschen sind kein Ballast, und die Gesellschaft sollte sich vor Altersdiskriminierung hüten.
Lassen Sie uns da nochmal genauer hinschauen. Ab 2025 gehen nach und nach die Babyboomer in Rente. Das sind die geburtenstarken Jahrgänge 1954 bis 1969. Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland rund 49 Millionen Menschen im Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren. Bis 2030 könnte die Zahl auf 44 bis 45 Millionen sinken und 2060 auf rund 38 Millionen. Das klingt doch nach einer großen Herausforderung für die Gewerkschaften.
Natürlich ist die demografische Entwicklung auch für die Gewerkschaften eine enorme Herausforderung. Das gilt etwa für die Mitgliederentwicklung. Wir müssen mit einem Rückgang rechnen und wir werden alles daran setzen, diese Lücke zu schließen und die Zahl der Mitglieder zu erhöhen. Eine schrumpfende Mitgliederbasis würde die Durchsetzungskraft verringern. Das wollen wir natürlich verhindern.
Wie wollen Sie das Schrumpfen kompensieren? Laut Institut der deutschen Wirtschaft sind in den deutschen Gewerkschaften insgesamt gut 15 Prozent der Mitglieder zwischen 16 und 30 Jahren alt. Diese Altersgruppe macht aber rund 25 Prozent aller Arbeitnehmer aus. Die Jüngeren sind unterrepräsentiert und bislang gelingt es nur schwer, sie in die Gewerkschaften zu holen.
In der IG Metall sind rund 230.000 Mitglieder unter 27 Jahren organisiert. Damit ist die IG Metall-Jugend eine der größten politischen Jugendorganisationen unserer Gesellschaft.
Aber natürlich ist es eine große Aufgabe, auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Sympathien und Organisationsbereitschaft zu wecken. Wir alle kennen die allgemeinen Entwicklungstrends, von denen vor allem junge Menschen betroffen sind. Trends wie die Individualisierung oder die Prekarisierung. Heute wird es jungen Leuten mitunter sehr schwer gemacht, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und ein eigenständiges Leben führen zu können. Sie müssen sich von Praktikum zu Praktikum oder von Befristung zu Befristung hangeln. Hier setzen wir mit unseren Angeboten an die Betroffenen an, gemeinsam für gute Ausbildung und gute Arbeit zu kämpfen. Und wir freuen uns, dass wir in den Betrieben auf große Resonanz stoßen.
Das heißt, Sie versuchen gezielt junge Leute anzusprechen und in die Gewerkschaften zu holen – besonders auch Frauen.
Richtig. Die IG Metall-Jugend ist ein äußerst aktiver Teil unserer Organisation. Sie spricht die jüngeren Beschäftigten an. Das ist auch mit einem gewissen Eigenleben verbunden, das stark von den Jugendkulturen und der Art und Weise geprägt ist, wie jüngere Menschen heute kommunizieren. Das kann auch zu Spannungen innerhalb der Organisation führen, aber das sind durchaus produktive Spannungen.
Außerdem gehen wir gezielt auf weibliche Beschäftigte zu, um mit ihnen über ihre Probleme zu diskutieren und sie von der Sinnhaftigkeit solidarischer Gewerkschaftsarbeit zu überzeugen. Auch da konnten wir in den letzten Jahren Erfolge verbuchen.
Bleiben wir bei den jungen Mitgliedern. Möglicherweise gibt es da nicht nur andere Wege der Kommunikation, sondern auch andere Interessen. Im Zuge des demografischen Wandels geht es auch um Generationengerechtigkeit – zum Beispiel im Hinblick auf die Rente. Die Gewerkschaften sind solidarische Organisationen, die die Interessen von Jungen und Alten vertreten. Wie gelingt das?
Wir organisieren in der IG Metall einen solidarischen Diskussionsprozess, um die Spaltung zwischen den Generationen, die mitunter bewusst in die Gesellschaft hineingetragen wird, in den Gewerkschaften nicht zuzulassen.
Wir haben eine Kampagne für eine solidarische Neuausrichtung der Alterssicherung gestartet. Dabei versuchen wir darzulegen, dass Rentenpolitik keine Seniorenpolitik, sondern Generationenpolitik ist. Wir wollen die solidarische Rentenversicherung stärken und weiterentwickeln. Das zielt vor allem auf die nachkommenden Generationen, denn sie sind vor allem davon betroffen, wenn in Zukunft die Beiträge steigen, die Renten dagegen sinken sollten.
Dabei treffen wir bei vielen jungen Menschen auf eine widersprüchliche, aber durchaus nachvollziehbare Haltung. Auf der einen Seite sind sie bereit, sich an unserer Kampagne zu beteiligen, keine Spur von Solidaritätsverweigerung in Folge des angeblich so harten Generationenkonflikts. Aber: Wir treffen auch auf eine Art Zukunftspessimismus. Viele glauben, dass das, was die älteren Generationen noch an Rentenleistungen haben, für sie nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Und dieser Pessimismus ist ja durchaus berechtigt, wenn alles so bliebe, wie es heute ist. Deshalb kämpfen wir für einen Politikwechsel in der Alterssicherung. Und deshalb unterbreiten wir das Angebot, gemeinsam die Weichen neu zu stellen.
Gelingt es, diese Solidarität herzustellen?
Ja, und ich halte es für verantwortungslos, dass in der Politik mitunter gezielt ein Generationenkonflikt geschürt wird. Wir halten dagegen. Wir wollen gemeinsam diskutieren, was eine solidarische Alterssicherungspolitik gerade auch im Interesse der jüngeren Generation erfordert. Wir haben deshalb in unserer Rentenkampagne "Mehr Rente, mehr Zukunft" die Debatte über einen neuen Generationenvertrag zu einem wesentlichen Stützpfeiler gemacht.
Einer dieser Stützpfeiler ist die Forderung nach einer Demografiereserve. Was genau verbirgt sich dahinter?
Die Demografie- oder Nachhaltigkeitsreserve bedeutet im Kern, dass in den Jahren, in denen die Einnahmen der Rentenversicherung die Ausgaben für die Rentenzahlung übersteigen, diese Überschüsse in eine solche Reserve eingezahlt werden. Diese Rücklage soll der gesetzlichen Rentenversicherung zufließen, wenn sich der Arbeitsmarkt verändert oder sich die demografische Entwicklung verschiebt.
Das klingt nach einem Projekt, das man früher hätte angehen müssen.
Richtig, wir haben wertvolle Zeit verloren. Mit den ansehnlichen Überschüssen der letzten Jahre wurde keine umfassende Rücklage aufgebaut. Und je später die Rücklage gebildet wird, desto geringer wird sie ausfallen. Dennoch, solange die Beschäftigung so gut läuft wie in den letzten Jahren, bieten sich weitere Möglichkeiten. Die entsprechenden Finanzmittel könnten dann in die Ausgaben einfließen und so den Druck auf die Beitragssätze abschwächen.
Aber natürlich reicht das nicht. Wir wollen eine Strukturreform, um möglichst alle Erwerbstätige in die Rentenversicherung einzubeziehen und den Steuerzuschuss erhöhen zu können, um etwa versicherungsfremde Leistungen wie die Mütterrente zu finanzieren. Und auch eine angemessene Anhebung der paritätisch finanzierten Beiträge halten wir für akzeptabel, wenn im Gegenzug die Leistungen der Rentenversicherung wieder besser werden. Das ist allemal besser als die jungen Menschen in Privatversicherungen zu drängen, die sie alleine finanzieren müssen und die den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte ausgeliefert sind.
Blicken wir in die Zukunft. Wenn die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, ist zu erwarten, dass gut ausgebildete Arbeitnehmer begehrt sein werden. Wird das dazu führen, dass sich der Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt wandelt, auf dem die Arbeitnehmer die Bedingungen bestimmen? Und was bedeutet das für die Gewerkschaften?
Wenn es, wie oft prognostiziert, zu Fachkräfteengpässen kommt, dann kann sich in einigen Feldern der Facharbeit genau dieser Arbeitnehmermarkt herausbilden. Das würde die Verhandlungsmacht der knapper werdenden und begehrten Fachkräfte stärken. Sie könnten sich vielleicht stärker als heute die Arbeitgeber aussuchen, die auf ihre Wünsche am besten eingehen. Das ist positiv. Und vielleicht hält dieser Trend die Arbeitgeber dazu an, sich auch mehr um die zu kümmern, die eine zweite Chance und etwas mehr Unterstützung brauchen, um auf den Arbeits- oder Ausbildungsmarkt Fuß zu fassen.
Wir hoffen auch, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine stärkere Arbeitsmarktposition haben, für die Gewerkschaft gewinnen können, dass diese Beschäftigten bereit sind, ihre Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt in die Solidarorganisationen einzubringen. Dann könnten alle profitieren.
Das Interview führte Sonja Ernst.